theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Gutachten und Diskussionsbeiträge zu Karol Sauerland, Die Rolle der katholischen Kirche in Polen nach 1945. Ein Weg zur Entsäkularisierung?


Übersicht:

Gutachten:

1. Jochaim Neander, Krakóv




Diskussionsbeiträge:

1. Karol Sauerland, Warschau


Gutachten

1. Joachim Neander, Krakóv



Ecclesia Poloniae - quo vadis?


Nach gründlicher Lektüre des Textes von Karol Sauerland erscheint mir manches dort Gesagte doch als problematisch oder zumindest eines erneuten Überdenkens wert. Da ich die Entwicklung im Polen von vor 1989 nicht kenne, kann und will ich mich zu dem, was der Autor hierzu sagt, nicht äußern. Was aber in den letzten dreizehn Jahren geschah, seitdem ich in Polen lebe, jeden Sonntag die hl. Messe besuche und das politische, auch kirchenpolitische, und schulische Leben aufmerksam beobachte, lässt mich manche Dinge anders oder differenzierter sehen, als es der Verfasser tut. Ich erlaube mir daher, bei aller Wertschätzung des Autors, meine in manchen Punkten abweichende Sicht der Dinge hier darzulegen.

Sicherlich hat der Autor recht, wenn er die katholische Kirche (im Folgenden: KK) in Polen als ecclesia triumphans beschreibt. Der Einfluss der KK auf die Politik und das öffentliche Leben ist sehr groß, deutlich größer als etwa im Polen der Zwischenkriegszeit. Dies ist, da hat der Autor zweifellos Recht, sicherlich bedingt durch das Ansehen, das die KK sich durch ihre Opposition gegenüber dem Kommunismus in den Jahren 1945-1989 erworben hatte. Die KK in Polen schreibt sich auch gern den Hauptverdienst an dessen weltweitem Fall zu, was jedoch, historisch gesehen, zumindest fragwürdig ist.

Es gibt in Polen, anders als etwa in Deutschland oder den USA, keine „Konkurrenz“ zur KK durch jüdische, muslimische oder nichtkatholische christliche Religionsgemeinschaften. Im 38-Millionen-Staat Polen bilden diese verschwindende Minderheiten von einigen Tausend (Muslime und Juden) oder Zehntausend (evangelische oder orthodoxe Christen) Gläubigen. Dies ist im Wesentlichen ein Resultat des 2. Weltkrieges mit Holocaust, Grenzverschiebungen und Nachkriegs-Zwangsumsiedlungen. In Fragen, die Religion oder Weltanschauung tangieren, hat die KK daher in Polen ein Monopol. Da in Polen traditionell „polnisch“ und „katholisch“ untrennbar verbunden sind (im Vorkriegspolen galten etwa die katholischen deutschen Staatsbürger kirchlich nur als „Auch-Katholiken“, und mehr als ein Priester erzählte deutschen und ukrainischen Katholiken, die Mutter Gottes verstehe nur polnisch), trägt der polnische Katholizismus auch stark nationalistische Züge. Theologisch steht die KK Polens etwa auf dem Stand der Wissenschaft vom Ende des 19. Jahrhunderts, wie man etwa an der Standard-Bibelübersetzung Biblia Tysiąclecia und den dortigen Kommentaren zum Text sehen kann.

Bei der Wiedergutmachung kommunistischen Unrechts ist die KK gegenüber anderen Geschädigten deutlich bevorteilt worden und wird es weiterhin. Gegen die Entscheidungen der „Vermögenskommission“, die paritätisch mit Staats- und Kirchenvertretern besetzt ist, gibt es kein Rechtsmittel. Stadtverwaltungen in Krakau oder Warschau müssen zähneknirschend innerstädtische Filetgrundstücke hergeben für ehemaliges Ackerland in Kirchen-oder Ordensbesitz im Umland. Da gibt es viel Unmut, den sich aber kaum einer öffentlich zu artikulieren traut, zumindest dann nicht, wenn er als Politiker an eine Wiederwahl denkt. Obwohl die Verfassung Staat und Kirche trennt, ist die Mitwirkung der KK in allen wesentlichen politischen Fragen institutionell abgesichert - keine wichtige politische Entscheidung ist (bisher) gegen den Willen des Episkopats getroffen worden, kein Stück Straße, kein Radweg wird der Öffentlichkeit ohne eine kirchliche Zeremonie übergeben.

In der Schulpolitik sieht der Autor richtig, dass katholischer Religionsunterricht in den staatlichen Schulen de facto Pflichtfach ist - selbst da, wo sich die Mindestzahl von 8 Schülern findet, wird normalerweise kein „Ethik“-Unterricht erteilt, weil es weder Lehrer noch Lehrpläne dafür gibt. Schülern, die am Religionsunterricht nicht teilnehmen möchten, wird damit gedroht, sie verscherzten sich fürs spätere Leben die Möglichkeit einer kirchlichen Trauung und eines kirchlichen Begräbnisses. Letzteres ist nicht unwichtig, da nicht jede Stadt, jedes Dorf einen kommunalen Friedhof hat und der regelmäßige Besuch der Gräber für die Angehörigen, insbesondere zu Allerheiligen, sozial verpflichtend ist. Der Religionsunterricht wird von Priestern oder Katechetinnen erteilt, er ist im Wesentlichen Verkündung, Fortsetzung des Kommunion- und Firmunterrichts. Eine staatliche Prüfung der Lehrkräfte für Religion, wie etwa in Deutschland, gibt es nicht, der Unterricht unterliegt auch nicht der staatlichen Schulaufsicht. Die Noten gehen jedoch in den (für den Besuch weiterführender Schulen oder Hochschulen entscheidenden) Notendurchschnitt ein. Zwar wurde, als nach 1989 der Kirche der schulische Religionsunterricht zugestanden wurde, vereinbart, dass die Lehrkräfte von der Kirche bezahlt werden, inzwischen hat aber der Staat dies stillschweigend übernommen. Einen Sexualkundeunterricht wie in westlichen Staaten hat die KK bisher erfolgreich verhindert, ebenso wie die Beschäftigung von LehrerInnen, die sich offen zu einer homosexuellen Lebensweise bekennen, im staatlichen Schuldienst.

Der Autor sieht offensichtlich als positiv, dass Polen das restriktivste Abtreibungsrecht in Europa hat. Es wird verstärkt dadurch, dass auch die wenigen Frauen, denen eine Abtreibung straffrei gewährt wird, es sehr schwer haben, einen Arzt für diesen Eingriff im Lande zu finden. Die Kehrseite der Medaille wird nicht erwähnt: dass Polen die wohl höchste illegale Abtreibungsrate in Europa hat, durch Abtreibungstourismus ins Ausland (beileibe nicht nur in EU-Länder) und heimische „EngelmacherInnen". Ob und inwieweit dies positiv zu werten ist, möchte ich offen lassen.

Sehr einseitig sieht der Autor den "Kreuz-Streit" im Zusammenhang mit dem Flugzeugabsturz bei Smolensk am 10.4.2010. Video-Aufzeichnungen zeigen deutlich, dass die „Verteidiger des Kreuzes“ vor dem Präsidentenpalast alles andere als friedlich demonstrierten, dass sie Andersdenkende physisch attackierten und ganz eindeutig Parteipolitik machten für die Partei von Jarosław Kaczyñski, den Zwillingsbruder des ums Leben gekommenen polnischen Präsidenten Lech Kaczyñski, dass es ihnen nicht um Religionsausübung, sondern um eine politische Machtdemonstration ging und geht. Die absurden Verschwörungstheorien um den Flugzeugabsturz mit ihrer dezidiert antirussischen Komponente finden immer noch ihr Publikum in den katholischen Medien, insbesondere denen aus dem Imperium des Paters Rydzyk, sowie bei religiösen Großveranstaltungen, z.B. in Tschenstochau. Bei der Präsidentenwahl im Sommer 2010 hatte die Kirche eindeutig für Kaczyñski und gegen Komorowski - übrigens praktizierender Katholik und fünffacher Familienvater - Stellung genommen. Die Tatsache, dass der von der Kirche favorisierte Kaczyñski die Wahl verlor, sehen übrigens auch liberale Katholiken als ein Zeichen für den beginnenden Machtverlust der KK in Polen. Im augenblicklich laufenden Parlamentswahlkampf nahm die KK ebenfalls verdeckt, aber unschwer zu dechiffrieren, Stellung für die Kaczyñski-Partei. Ob sich dies für sie auszahlen wird, muss die Zukunft zeigen.Zu denken geben sollte ihr jedoch der Erfolg der dezidiert antiklerikalen Palikot-Partei, die aus dem Stand auf zehn Prozent der abgegebenen Stimmen kam, davon drei Viertel von jungen WählerInnen.

Die Öffnung Polens nach Westen, insbesondere der Beitritt Polens zur EU - sicherlich mit ein Verdienst von Papst Johannes Paul II, der dies offen befürwortete - hat dazu geführt, dass vor allem die junge städtische Generation mit Abitur oder Hochschulabschluss, die Auslandserfahrungen als au pair oder mit „Erasmus“ (also nicht nur als Tourist) gesammelt hat, dem Anspruch der KK auf Mitsprache in allen Angelegenheiten des privaten und öffentlichen Lebens kritisch gegenüber steht. Dies äußert sich etwa darin, dass gerade in diesen Altersgruppen der Besuch der hl. Messe rückläufig ist und immer weniger Jugendliche zur Beichte gehen (vor allem diejenigen, die sich keine Vorschriften über ihr Sexualleben machen lassen wollen), dass es selbst den Schwiegermüttern nicht immer gelingt, ihre Kinder zu einer kirchlichen Hochzeit zu bewegen, dass junge Ehepaare weniger Kinder als ihre Eltern oder gar Großeltern bekommen, und dass in der Generation der heute 40-50-jährigen Großstädter fast ein Drittel geschieden und damit kirchlich gesehen an den Rand gedrängt ist.

Die „Siege“, die die katholische Kirche Polens in den letzten zwei Jahrzehnten auf dem politischen Parkett erzielt hat, könnten sich durchaus als Pyrrhus-Siege erweisen.



Diskussionsbeiträge

1. Karol Sauerland, Warschau

Stellungnahme zu den Bemerkungen von Joachim Neander aus Kraków/Krakau:

Die Begutachtung stammt aus älterer Zeit. Ich habe die neueste Entwicklung, d.h. die Präsidentenwahl 2015, als Andrzej Duda Bronis?aw Komorowski ablöste, berücksichtigt, indem ich die Zeitform der entsprechenden Verben verändert habe. Zur Frage des Gedenkens an die in Smolensk Verunglückten unterscheiden sich unsere Standpunkte – ich war Augenzeuge, Neander beruft sich auf die Fernsehaufnahmen, die unter klarem Gesichtspunkten gedreht wurden: man sollte den Eindruck davontragen, daß die Demonstrationen vor dem Kreuz gewalttätig waren. Die „antiklerikale Palikot-Partei“ ist vom politischen Horizont verschwunden. Antiklerikale Bewegungen finden in Polen kaum Gehör. In meinem Artikel versuche ich zu zeigen, warum das so ist.  Ich nehme zu den Dingen nicht persönlich Stellung. Ich versuche, die Situation darzulegen. Man kann mir nicht nachsagen, daß ich für oder gegen Abtreibung bin.  Ich konstatiere einzig, daß das Abtreibungsverbot in Polen „das strengste in ganz Europa“ ist, so wie ich auch auf den Mangel an Ethik-Unterricht verweise. Joachim Neander möchte, daß der Staat etwas in Richtung der Schwächung des Einflusses der Kirche im Schulunterricht und anderswo unternimmt, aber das ist in der jetzigen Situation nicht zu erwarten. Dazu gibt es zu wenig Wähler, die bereit wären, solche Schritte zu unterstützen. Ob sich die „Siege“ am Ende als „Pyrrhus-Siege“ erweisen werden, wage ich nicht vorauszusagen. Zur Zeit gibt es dazu keinerlei Anzeichen.






 



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