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Karol Sauerland



Die Rolle der katholischen Kirche in Polen nach 1945. Ein Weg zur Entsäkularisierung?


Stalin hatte einmal gefragt, über wieviel Divisionen der Vatikan verfüge. Er wollte damit sagen, dass die katholische Kirche im besten Falle zu einem absoluten Schattendasein verurteilt sei. Dabei hatte er offenbar die Marxsche Formel vergessen, dass Ideen imstande seien, Massen zu mobilisieren. In Volkspolen waren die Machthaber von der bolschewistischen Ansicht ausgegangen, dass man mit militärischen und verwaltungstechnischen Maßnahmen die Kirche ausschalten könne, dass sich das Land atheisieren lasse. Einen Höhepunkt ihrer brutalen antikirchlichen Aktionen stellte die Verhaftung Kardinal Stefan Wyszyńskis am 26. September 1953 dar. Stalin war bereits verstorben, am 17. September war Chruschtschow Erster Parteisekretär der KPdSU geworden. Doch nach drei Jahren, als sich die polnische kommunistische Partei auf dem berühmten 8. Plenum im Oktober 1956 von ihrem harten Kurs gegen alle Freiheiten der Bürger des Landes verabschiedete, musste Wyszyński aus seiner Haft entlassen werden. Dieser wirkte von nun an dahin, Polen zu rekatholisieren, zumal die Parteiführung der Kirche weitgehende Zugeständnisse machte; u.a. erlaubte sie, dass an den Schulen wieder Religionsunterricht erteilt werden konnte, der allerdings recht schnell auch wieder verboten wurde.

1. Katholisch geprägte Formen des Protests

Wyszyński hatte noch am Ende seiner Haft ein Konzept entwickelt, wie man das tausendjährige Bestehen Polens, d.h. die Annahme des Christentums durch den polnischen König Mieszko I. im Jahre 966, würdig begehen könnte. Er sah eine neunjährige Vorbereitungszeit (Die große Novene des Milleniums) mit vielen Prozessionen in den einzelnen Diözesen vor, die mit einer Wallfahrt und einer großen Feier am 3.Mai 1966 in Gniezno (Gnesen), dem ersten polnischen Königssitz, abgeschlossen werden sollte. Doch dann fand der Höhepunkt der Feierlichkeiten in Czêstochowa statt.  Alles geschah gegen den Willen des Ersten Parteisekretärs Władysław Gomułka, der mehrmals damit drohte, dass die staatlichen Machtorgane gegen solche über die religiösen Bedürfnisse der Gläubigen hinausgehenden Demonstrationen strengstens vorgehen würden. Die Kirchenleitung machte sich jedoch nicht allzuviel daraus, obwohl sie sich damit den verschiedenartigsten Schikanen aussetzte.

Eine besondere Rolle spielte die Peregrination bzw. Wallfahrt einer Kopie der Schwarzen Madonna zu Czêstochowa, die von Papst Pius XII. geweiht und dann ab Ende August 1957 durch das ganze Land von Kirche zu Kirche und von Ortschaft zu Ortschaft getragen werden sollte. Die Prozessionen, die damit verbunden waren, wurden immer wieder von den staatlichen Organen gestört, bis die Kopie schließlich am 2. September 1966 „verhaftet“ wurde, d.h. Polizisten requirierten das Bild, um es in das Paulinerkloster in Czêstochowa zu schaffen. Die Folge war, dass bei den Prozessionen nun nur noch ein leerer Rahmen gezeigt wurde, und das dreizehn Monate lang. An diesen Prozessionen, die in der Diözese Katowice (Kattowitz) stattfanden, nahmen über eine Million Gläubige teil, d.h. ein Drittel aller Bewohner dieses Bistums.

In den Jahren zwischen 1956 und 1966 hatten sich immer wieder Hunderttausende von Gläubigen in den einzelnen Landesteilen und in Czêstochowa zu religiösen Treffen anlässlich der Tausendjahrfeiern versammelt. Das verlangte unerhörte organisatorische Anstrengungen, wenn es nicht zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kommen sollte. An direkten und indirekten Provokationen von staatlicher Seite aus fehlte es ja nicht. Aber stets wurden die Prozessionsteilnehmer aufgefordert, ruhig zu bleiben und für das Heil der Ungläubigen zu beten, die angeblich nicht wussten, was sie taten.[1]

Die nächsten entscheidenden Abschnitte in der Geschichte Nachkriegspolens und der katholischen Kirche stellten die Papstwahl 1978 und der darauf folgende Papstbesuch 1979 dar. Mit seiner Wahl war Johannes Paul II. zum eigentlichen König Polens geworden. Es gibt ein Gedicht von Juliusz Słowacki, einem der bedeutendsten polnischen Dichter des 19. Jahrhunderts, in dem die Wahl eines slawischen Papstes vorausgesagt wird. Johannes Paul II. liebte es, dieses Gedicht zu zitieren. Gleichzeitig schien er das zu verwirklichen, was sich der Held der Totenfeier von Adam Mickiewicz wünscht, dessen Bedeutung noch über  die von Słowacki gestellt wird: dieser bittet Gott, ihm soviel Macht zu verleihen, dass er über die Seelen seines Volkes zu herrschen vermag, und zwar mittels des Gefühls, nicht mit Waffen oder Wundern. Dann könne er ein glückliches Lied anstimmen.[2]  Eine solche Macht hatte Johannes Paul II. erhalten. Das erkannte man am 2. Juni 1979, am Tag seiner Ankunft in Warschau, als ihn der damalige Erste Sekretär der Vereinigten Arbeiterpartei Polens, Edward Gierek, mit zitternden Händen empfing. Das ganze Volk konnte es in der Fernsehübertragung sehen. Und kurz darauf fielen die folgenreichen Worte in der Predigt des Papstes auf dem Platz vor dem Grab des Unbekannten Soldaten: „Ich rufe, ich als Sohn der polnischen Erde und gleichzeitig als Johannes Paul II. Ich rufe aus der ganzen Tiefe dieses Jahrtausends, ich rufe am Vortag der Ausgießung des Heiligen Geistes, ich rufe zusammen mit Euch allen: Möge Dein Geist erscheinen! Möge Dein Geist erscheinen und das Antlitz der Erde erneuern. Dieser Erde!“. Das erinnerte an die Bitte des Helden der Totenfeier, aber es kam aus dem Munde eines Papstes (und Dichters), der Gott am nächsten steht – zumindest für Katholiken. Und diese Worte wurden auch so verstanden, wie sie gemeint waren: Erneuert Polen! Durch Glauben und tätiges Leben zugunsten eines demokratischen Landes! Es klingt nach reiner Romantik, so als käme es von Słowacki und Mickiewicz, aber es drang tief in die Gemüter ein [3] und sollte sehr schnell fruchten: schon ein Jahr später. Der Gefahr, die dieser Papst für das ganze Sowjetregime darstellte, war sich nicht nur die polnische Parteiführung bewusst, sondern auch die sowjetische. Wie durch ein Wunder misslang der sicherlich vom KGB organisierte Anschlag auf sein Leben am 13.Mai 1981 auf dem Petersplatz in Rom.

Persönlich fürchtete ich 1979, dass es beim Papstbesuch zu Toten kommen würde. In Mexiko waren bei seiner Visite Menschen im Gedränge totgetreten worden. Ähnliches hätte sich in Polen bei einer geschickten Provokation durch den Sicherheitsdienst ereignen können. Doch die polnische Kirche hatte, wie sich zeigte, genügend Erfahrung in der Disziplinierung großer Massen gesammelt. Es gab keinerlei Zwischenfälle. Das war nur möglich dank einer glänzenden Selbstorganisation der Gläubigen. Tausende von Helfern waren unter ihnen, die ihre Funktionen als Ordnungshüter, Sanitäter, Verteiler von Trinkwasser und Verpflegung vorbildlich wahrnahmen. Wieviel Vorüberlegungen und Improvisation das verlangt hatte, merkte man kaum.

Interessant ist, wie Mieczysław Rakowski noch als Chefredakteur der Wochenschrift Polityka (später sollte er Ministerpräsident unter General Jaruzelski werden) den Papstbesuch in seinem 2004 erschienenen Tagebuch für die Jahre 1979-1981 beschreibt:

Zu den letzten zwei Tagen des Papstbesuchs fuhr ich nach Krakau, um mir mit eigenen Augen seinen Triumph anzuschauen. Ich wohnte im Hotel „Cracovia“, an dem der Weg nach Błonie entlang führte, wo am Sonntag die Messe stattfinden sollte. Am Abend ging ich mit Wojciechowski in die Stadt. Das war ein einmaliges Schauspiel. Vor dem Palast der Erzbischöfe, in dem Wojtyla vor seinem Weggang nach Rom wohnte, hatte sich eine große, disziplinierte Menge zusammengefunden. Im gelben Licht der Laternen leuchteten die Alben der Kleriker. Die Straße vor dem Eingang zum Palast war mit Rosen bedeckt. Dieser Blumenteppich wurde, wie man mir sagte, jeden Tag erneuert. Notabene, Krakau war großartig mit den päpstlichen Fahnen geschmückt, in die Fenster waren Heiligenbilder gestellt, Girlanden gehängt worden usw. Am meisten waren die Studentenheime geschmückt, in denen „unsere Zukunft“ wohnte, unter ihnen zeichneten sich die Assistentenwohnungen aus. Auf dem Markt Menschenmassen. Das Mickiewicz-Denkmal war von Jugendlichen umgeben, die Sakrosongs sangen. Auf der Rückseite des Denkmals war eigenhändig auf Bristolkartons aufgezeichnet: „Heiliger Vater, bewirke, dass unser Heimatland ein Land von wirklich freien und gleichen Menschen wird“. So wie ich die Polen kenne, geht es gerade darum. Am Morgen, um halb sechs, weckte mich Lärm. Aus der Stadt zog eine große, bunte Menge die Straße entlang (es waren sehr heiße Tage in Polen). Ruhig, ohne Pilgergepäck. Und so zogen sie durch die Straßen des alten Krakaus bis zehn Uhr. An der weißen Linie in der Mitte der Straße lagen Blumen. So war es in ganz Polen. Das Papamobile fuhr vorbei. Die Messe begann. Das Hotel „Cracovia“ war von ausländischen Korrespondenten bewohnt. In jedem Stockwerk standen Fernseher, aus denen Choralgesänge und Gebete ertönten. Es war so, als versinke das ganze Hotel in dem nicht enden wollenden Gesang. Als ich in die Stadt ging, hatte ich den gleichen Eindruck. Ganz Krakau nahm an dem Gottesdienst teil. [4]

Wenn man den Aufzeichnungen Glauben schenken darf, war dieser Mann der Partei bereits damals von den Mengen, die da zusammenkamen, und deren Disziplin beeindruckt.


Diese Einübung friedlichen Verhaltens bei der Zusammenkunft großer Menschenmengen während der katholischen „Großveranstaltungen“ lässt uns verstehen, warum es mental möglich war, sechzehn Monate lang in Gegnerschaft zum herrschenden Regime zu verharren, ohne dass auch nur eine Fensterscheibe eingeschlagen worden wäre, obwohl die Sicherheitskräfte immer wieder Gewaltaktionen zu provozieren suchten und es genügend Gewaltanwendungen in der Geschichte Volkspolens gegeben hatte. Man denke nur an die Ereignisse im Sommer 1956 in Posen, im Dezember 1970 in Danzig und Stettin und im Juni 1976 in Radom, als Arbeiter niedergeknüppelt wurden und sogar auf sie geschossen wurde. In diesem Licht erscheinen die sechzehn Monate der Solidarnoœæ wie ein Wunder. Dieses Wunder ist selbstredend nicht nur der Kirche zu verdanken, sondern auch der Losung, die einige Jahre nach den tragischen Ereignissen von 1970 in Danzig und Stettin in Umlauf kam: Zünden wir nicht die Parteigebäude an (wie dies in Danzig tatsächlich geschehen war), sondern bauen wir eigene, was im Klartext hieß, versuchen wir Organisationsformen aufzubauen, die nicht vom aktuellen Staat abhängig sind.


2. Die regimekritische atheistische Linke und die katholische Kirche

Wichtig war auch der Umstand, dass die atheistische Linke die Kirche als einen Partner akzeptierte. 1976 veröffentlichte Adam Michnik im Untergrund und in Paris die grundlegende Schrift: Die Kirche, die Linke und der Dialog (auf Deutsch erschien sie 1980 unter dem Titel Die Kirche und die polnische Linke – Von der Konfrontation zum Dialog). Er schilderte darin die Restriktionen, denen die katholische Kirche und die katholischen Intellektuellen – unter ihnen auch die liberal denkenden – in Volkspolen ausgesetzt waren, und wie die atheistische Linke, zu der auch er sich rechnete, dies schweigend hinnahm. Sie verharre immer noch in dem Kampf, den sie in der Vorkriegszeit gegen die Kirche führte, ohne zu erkennen, dass sich die Verhältnisse verändert hätten, dass zur Freiheit auch die Freiheit der Religionsausübung gehöre. Es war die Kirche, erklärte Michnik, die die Ideale der demokratischen Linken einforderte, während diese meinten, die Kirche kümmere sich nur um ihr Eigeninteresse und um ihre Privilegien. Dabei habe sie schon lange ihre Privilegien verloren. Ihr Kampf sei ein Kampf gegen totalitäre Machtansprüche. Der Staat wolle einfach alles gleichschalten, alle und jeden seinem Willen unterordnen.


Die atheistische Linke erkenne auch nicht, dass die Kirche bereits in den dreißiger Jahren begonnen habe sich zu ändern, zumindest soweit es sich um den Vatikan handelte. Michnik zitierte ausführlich aus Stellungnahmen deutscher Bischöfe zum NS-Regime und vor allem aus der Enzyklika Mit brennender Sorge von 1937. Noch wichtiger aber waren ihm die Äußerungen Kardinal Wyszyńskis und der polnischen Bischofskonferenzen zu einzelnen Maßnahmen der Machthaber und zu gravierenden Ereignissen in Volkspolen. Ihre Proklamationen stünden keineswegs im Widerspruch zu den Vorstellungen der Linken über die Notwendigkeit demokratischer Reformen. Wer könne Wyszyński nicht Recht geben, wenn dieser sage: „In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die die Verpflichtung haben, die Wahrheit zu sagen. Sie sind durch ihr Wissen, ihre Studien, ihre Erfahrungen und ihre Lebenskenntnisse dazu vorbereitet. Sie müssen die Wahrheit sagen! Das ist ihre moralische und gesellschaftliche Pflicht! Wenn sie schweigen, kommt die Demagogie zu Wort, und sie wird die Gesellschaft mit ihren Illusionen, die selbstmörderische Rezepte sind, benebeln. Jemand muß die Wahrheit sagen! Wenn sich eine Gruppe von Menschen findet, die fähig ist, die Wahrheit zu sagen, ist es von Vorteil für das Volk und für diejenigen, die es regieren, denn sie werden Fehler vermeiden. Jemand hat die Pflicht, dies zu tun!“.[5] So hatte sich der Kardinal in einer Predigt im März 1968 geäußert, d.h. in einem Augenblick, in dem die Partei eine antijüdische und antiintellektuelle Kampagne entfacht hatte.[6]


Wyszyński habe erkannt, dass sich die heutige Gesellschaft durch bestimmte Säkularisationsprozesse auszeichne, aber es gehe nicht an, dass die polnische Gesellschaft ihre katholischen Wurzeln und ihre religiösen Überzeugungen verleugne. Keine Seite dürfe der anderen etwas aufzwingen, fügte Michnik hinzu, das täten nur totalitäre Regime. Gerade die katholische Kirche habe sich am konsequentesten der Sowjetisierung entgegengestellt.


Michnik forderte daher, dass sich die atheistische Linke endlich für einen sachlichen Dialog mit der katholischen Kirche und den katholischen Intellektuellen entscheiden müsse. Dialog bedeute im Sinne von Tadeusz Mazowiecki, der sich in einem Buch 1979 dazu äußerte, dass man Meinungen und Urteile austausche. Keine Seite dürfe einen Zwang empfinden, die Überzeugungen des anderen zu übernehmen. Im Dialog könnten Wege des friedlichen Zusammenlebens von Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen gefunden werden. Doch dürfe die atheistische Linke, so Michnik, nicht darauf beharren, dass die Religion eine Privatangelegenheit sei, sondern solle eher von der Kirche größte Aktivität im öffentlichen Leben erwarten im Sinne der „politischen Theologie“, wie sie Johann Baptist Metz formuliert hatte.[7]


Die Annäherung der regimekritischen Atheisten an die Kirche erfolgte schon zu Beginn der siebziger Jahre, nachdem die Machthaber mit ihrer antiintellektuellen und nationalistischen Einstellung 1968 gezeigt hatten, dass sie nur brutale Machtausübung kannten. Michnik ging es eher um eine symbolische Geste der Kirche gegenüber. Sie sollte wissen, dass die oppositionellen Kräfte in Volkspolen ihr Ringen um eine eigenständige Existenz unterstützten und dass sie mit einem Zusammengehen in grundlegenden Fragen der Einhaltung der Menschenrechte rechnen könne.


Eine wichtige Stimme in der Diskussion um die Frage: „Wie soll ich mich als Nicht-Katholik und Oppositioneller zur Kirche verhalten?“, war zweifelsohne die von Jacek Kuroń im Jahre 1975 in der liberalkatholischen Monatsschrift Znak. Schon der Titel seines Essays Christen ohne Gott ließ aufhorchen. Er erinnerte an Bonhoeffers Schriften (die übrigens auch Michnik mehrmals zitierte), von denen 1970 einige in einem Sammelband übersetzt worden waren und über die sowohl Karol Karski in einer Monographie über die protestantische Theologie des 20.Jahrhunderts wie auch Anna Morawska in einem Buch über die Christen im Dritten Reich berichtet hatten. Kuroń zitierte daraus, am ausführlichsten aus dem polnischen Bohnhoeffer-Band. Es sei das wichtigste, meinte Kuroń, sich im tätigen Leben dem Anderen zuzuwenden, dessen Sorgen zu teilen. Und wenn der Andere ein Christ sei, ihn zu verstehen, ja, von ihm zu lernen. „Wenn Du zu mir gekommen bist“, schrieb Kuroń, „sollte ich zu Dir kommen. Zusammen mögen wir den Weg der gegenseitigen Bereicherung gehen“.[8] Er wisse, die Stärke des Christentums liege in der Gewissheit, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist, aber das müsse nicht bedeuten, dass es sich jenseits der menschlichen Welt befinde. Auf jeden Fall gelte es, gemeinsam die Werte zu leben, die man auch als christliche bezeichnen könne. Im Klartext hieß dies: wir Atheisten und Christen sind gleichermaßen interessiert, dass wir jeweils als Individuen und nicht im Namen irgendeiner Ideologie unser Leben einrichten.


3. Die Macht der katholischen Kirche in Volkspolen

Welche Macht die Kirche in Volkspolen innehatte, konnte man bereits im Frühjahr 1978 erkennen. Am 29. April 1978 hatte der in Danzig gerade erst gegründete Freie Gewerkschaftsbund (WZZ), dem kurz darauf Andrzej Gwiazda, Anna Walentynowicz, Lech Wałêsa und andere später bekannte Persönlichkeiten beitraten, eine Deklaration veröffentlicht, in der u.a. stand, dass es seit dreißig Jahren keine Gewerkschaften gebe, die die Interessen der Arbeitnehmer verträten. Es sei notwendig, wieder in eine demokratische Ordnung zurückzukehren. Der Sicherheitsdienst schlug sehr schnell zu. Am 28. Mai verhaftete er mehrere Mitglieder dieser Vereinigung, unter ihnen auch Blaźej Wyszkowski, der kurz darauf in Hungerstreik trat. Viele Menschen standen auf seiner Seite, Tausende illegal gedruckter Flugblätter wurden vor den Kirchen und den Toren der Großbetriebe verteilt. Und vom 3. Juni an wurde jeden Tag in der Danziger Marienkirche laut für die Freilassung von Wyszkowski gebetet. Damit war eine neue Form des Protests der Arbeitnehmer gegen die Willkür der staatlichen Organe gefunden: das laute Gebet. Diese Protestform sollte später immer wieder angewandt werden.[9]


Über welch große Macht die katholische Kirche in Volkspolen verfügte, konnte man schließlich im August 1980 erkennen, als die Lenin-Werft streikte. Der Beginn der zweiten Phase des Streiks wurde bekanntlich mit einer großen Messe vor dem Werfttor II „eingeläutet“, an der sechstausend Werftangehörige und Einwohner Danzigs teilnahmen. Von nun an fand jeden Tag eine Messe statt, allerdings auf dem Werkgelände. Ein Streikender berichtete später: „An den Messen nahmen wir mit Tränen in den Augen teil, denn uns war klar, dass es so etwas in unserem Land bisher noch nicht gegeben hat: während eines Streiks findet eine heilige Messe statt, aber es zeigte sich, dass es möglich war, was uns viel gab, um trotz vieler Gerüchte, die wir vernahmen, auszuharren“. Am Eingangstor zur Werft hingen Bilder der Mutter Gottes und des Papstes, die mit Blumen geschmückt waren. Man konnte sich an einen Fronleichnamsaltar erinnert fühlen. Über dem Verhandlungstisch in der Werft hing ein großes Kreuz. Lech Wałêsa, der davor saß, hatte sich ein kleines Bild der Mutter Gottes an sein Revers geheftet. Das Abkommen mit der Regierungsdelegation unterzeichnete er mit einem großen Stift, auf dem das Bildnis von Johannes Paul II. zu sehen war. Im Ausland fanden manche, dass dies einem Sieg reaktionärer Kräfte gleichkäme. In Wirklichkeit stellte es die einzige Möglichkeit dar, sich auf der symbolischen Ebene vom herrschenden Regime zu distanzieren und seine Eigenständigkeit zu demonstrieren. Mit dem Kreuz, der Mutter Gottes und dem Papst wurde eindeutig darauf hingewiesen, dass es Dinge gibt, die für die Partei unerreichbar sind. Der Papst reagierte auch sehr schnell, indem er bereits am 15. Januar 1981 eine Solidarność-Delegation mit Wałêsa an der Spitze empfing. Er sprach erst mit Wałêsa persönlich und dann mit der ganzen Gruppe, der auch der spätere erste Ministerpräsident im freien Polen, Tadeusz Mazowiecki, angehörte.

Von nun an hofierten die polnischen Machthaber die Kirche. Immer wenn es zu Konflikten kam, versuchten sie die Bischöfe und sogar den Papst um eine Vermittlung zu bitten. Zu den Gesprächen am Runden Tisch waren zwei hohe katholische Würdenträger als Beobachter, wenn nicht gar als Schiedsrichter eingeladen. Die Kirche trug mit einem Wort in dem Kampf der totalitären Machthaber gegen sie einen absoluten Sieg davon. Die Folge ist, dass sich heute kaum jemand noch zum Atheismus zu bekennen wagt. Der Religionsunterricht ist so gut wie für alle obligatorisch geworden. Es findet sich nur selten die Mindestzahl von acht Schülern, die notwendig ist, damit ein Ethikunterricht überhaupt stattfinden kann. Die Kirche darf sogar Trauscheine ausstellen. Das Abtreibungsverbot in Polen ist das strengste in ganz Europa. Im Augenblick sorgt sich die polnische Kirche bereits darum, dass das Land nicht päpstlicher als der Papst wird. Es gibt immer wieder Bestrebungen um eine noch weitere Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Pater Rydzyk von Radio Marija möchte offensichtlich das Land in ein großes Gebetshaus verwandeln. Sein Wunsch wäre – er steht damit nicht alleine –, aus Polen einen Initiator der Rekatholisierung großer Teile Europas zu machen. Um die liberalen Kräfte im polnischen Katholizismus, die in der Wochenschrift Tygodnik Powszechny und in den zwei Monatszeitschriften Wiȩź und Znak vereinigt waren bzw. noch sind, ist es recht still geworden. In die großen Streitfälle wie den um das Kloster in Auschwitz und um die damaligen antisemitischen Äußerungen Pater Rydzyks musste der Papst direkt oder auch indirekt eingreifen. Johannes Paul II. erwies sich als ein liberaler Vertreter der katholischen Kirche in Bezug auf Polen. Und im Streit um die Rücknahme der Ernennung des Erzbischofs Wielgus, der mit der polnischen Stasi zusammengearbeitet hatte, zum Nachfolger von Kardinal Glemp sprach auch der Vatikan das letzte Wort.


4. Die politische Zurückhaltung der katholischen Kirche

Betrachtet man die Proteste seit 1980, so war die Kirche immer zurückhaltend. Sie wollte mit den Machthabern so wenig wie möglich in Streit geraten. Als die Danziger Arbeiter anfingen zu streiken und ihre Forderungen zu artikulieren, forderte selbst Kardinal Wyszyński sie auf, sich zu mäßigen. Und als die Streikenden planten, eine Messe auf dem Werftgelände zu feiern, wollte der Bischof dies verhindern. Erst unter großem Druck beauftragte er einen Priester. Typisch war auch die Situation in Warschau, als die streikenden Hüttenarbeiter Wyszyński baten, ihnen einen Priester zu schicken. Zwei erklärten sich nicht bereit. Schließlich übernahm der junge, 1947 geborene Jerzy Popiełuszko diese Mission. Er beschrieb sie später folgendermaßen:

„Diesen Tag – es war Sonntag, der 31. August 1980 – werde ich bis zum Lebensende nicht vergessen. Ich hatte Lampenfieber. Die Situation selber war völlig neu. Wen werde ich antreffen? Wie werden sie mich empfangen? Wo werde ich die Messe abhalten? Wer wird die Texte lesen? Wer wird singen? Solche Fragen quälten mich, als ich zur Fabrik ging – heute mag es naiv klingen. Und als ich am Eingangstor war, erlebte ich mein erstes Erstaunen. Ein enges Spalier von freudigen und zugleich weinenden Menschen. Und Klatschen. Ich dachte, hinter mir geht eine wichtige Persönlichkeit. Aber dieses Klatschen galt demjenigen, der als erster Priester durch das Tor dieses Betriebs schritt. Ich empfand es als ein Klatschen für die Kirche, die ausdauernd dreißig Jahre lang an die Tore der Betriebe geklopft hatte. Meine Furcht war unnötig – alles war vorbereitet: der Altar in der Mitte des Werksplatzes und das Kreuz, das danach am Eingang errichtet wurde, es hat die schweren Tage überlebt und steht bis heute am Tor, unten stets mit frischen Blumen geschmückt. Es gab auch einen provisorisch errichteten Beichtstuhl. Es fanden sich auch Sprecher. Man muß diese männlichen Stimmen gehört haben, die oft genug in grober Weise sprachen, die jetzt aber mit Andacht die heiligen Texte lasen. Und dann hörte man wie einen Donner: ‚Gott, Dir sei gedankt’.“

An diesem Tag begann die Freundschaft zwischen den Hüttenarbeitern und dem Priester Popiełuszko. Von nun an las er jeden Sonntag um zehn Uhr für sie eine Messe. Er organisierte auch eine Art Schule für die Arbeiter, wo ihnen neben Religion polnische Geschichte und polnische Literatur, Fragen des Rechts und der Verhandlungstechnik vermittelt wurden. Dazu lud er Spezialisten ein. Es gab sogar Studienbücher und Prüfungen. Am 25. April 1981 wurde die Solidarność-Fahne der Warschauer Hüttenwerke gesegnet. Die Messe zelebrierte Bischof Zbigniew Kraszewski. Nach Ausrufung des Kriegszustands am 13.12.1981 half Popiełuszko den Verfolgten und deren Familienmitgliedern. Er nahm an den Prozessen teil, die gegen diejenigen geführt wurden, die gegen die Einführung des Kriegszustands protestiert hatten. Am 28. Februar 1982 zelebrierte er die erste der Messen für das Vaterland, die seit Ende 1981 allmonatlich stattfanden. Es waren Messen, in denen er offen die Verletzung der Menschenrechte anprangerte. Von Monat zu Monat nahm die Zahl der Teilnehmer zu. Aus dem ganzen Land kamen Delegationen, die Popiełuszko vom Balkon aus (der Innenraum war mittlerweile zu klein geworden) begrüßte. Solidarność-Transparente waren zu sehen. Bekannte Schauspieler rezitierten religiöse und patriotische Texte. Manchmal wurden auch die Sicherheitsleute, von denen man wusste, dass sie anwesend waren, begrüßt. Mit der Zeit konnte man von politischen Demonstrationen sprechen. Die Machthaber verurteilten selbstverständlich diese Messen und leiteten einen Prozess gegen Popiełuszko ein. Zugleich versuchten sie, Kardinal Glemp davon zu überzeugen, dass er Popiełuszko ins Ausland schicken möge. Dieser war nicht abgeneigt, denn auch er fand, dass der Priester zu weit ginge. Aber es sollte bekanntlich anders kommen. Im Oktober 1984 wurde Popiełuszko ermordet. Die Kirchenleitung war damit in eine Situation gedrängt, in der sie Stellung nehmen musste, zumal von der ersten Stunde an Tausende von Menschen Tag und Nacht in der Popiełuszko-Kirche, wie der Volksmund die Stanisław-Kostka-Kirche nannte, für das Wohl des Priesters beteten, bis klar wurde, dass er bestialisch ermordet worden war. Zur Trauerfeier kamen dann Hunderttausende.

   

5. Die katholische Kirche in Polen heute – Tendenzen zur Entsäkularisierung?

Sieht man sich die Nachkriegsgeschichte der polnischen Kirche an, so könnte man auf Stalins Frage mit der Gegenfrage antworten: was erreicht man mit Divisionen? Hannah Arendt sagte einmal, von Gewehrläufen gehe nur Gewalt aus, keine Macht. Diese erlange man auf friedlichem Wege. Vor einigen Jahren äußerte ich die Ansicht, Michnik müsste heute den inneren Wunsch verspüren, zu einer atheistischen Linken zurückzukehren. Im gewissen Sinne agiert er heute in diese Richtung. Dies geschieht aber sehr ungelenk, wie man an seinem und nicht nur seinem Kampf gegen das Kreuz vor dem Präsidentenpalast nach der Smolensker Flugzeugkatastrophe erkennen konnte.

Da hatten polnische Pfadfinder kurz nach dem Tod der 96 führenden Persönlichkeiten mit dem Präsidenten Lech Kaczyński an der Spitze ein einfaches Holzkreuz vor den Präsidentenpalast errichtet, vor dem viele Tausende von Menschen aus dem ganzen Land Kerzen hinstellten. Dieses Kreuz war den eingefleischten Kaczyński-Gegnern ein Dorn im Auge. Viele von ihnen meinten darüber hinaus, es sei Ausdruck der Übermacht der polnischen Kirche. Mittelalter drohe in Polen einzuziehen. Der neu gewählte Präsident Komorowski hatte dann auch nichts Besseres zu tun, als nach seiner Wahl als erstes zu erklären, dass dieses Kreuz verschwinden müsse, womit er einen völlig unnötigen Krieg um das Kreuz entfachte. Die Kirche hielt sich hierbei bezeichnenderweise sehr stark zurück, obwohl es zu Szenen kam, die sie hätte eindeutig verurteilen müssen. Schräg gegenüber vom Kreuz befand sich ein Restaurant, das Tag und Nacht geöffnet war, in dem sich plötzlich viele Jugendliche versammelten und ein „weltliches Leben“ demonstrierten. Sie machten sich einen Spaß daraus, die vor dem Kreuz Betenden zu verhöhnen. So beobachtete ich am 8. August 2010 spät abends, als eine erste Demonstration gegen die vor dem Kreuz Betenden angekündigt war, wie sich junge Burschen und junge Frauen diesen aggressiv näherten. Ein junger Mann, der ein langes Radio hochhielt, aus dem eine Stimme ertönte, lief zusammen mit einem anderen und einer jungen Frau auf sie zu. Er rief erfreut, das sei Radio Marija, hört nur: Euer Radio. Andere riefen lachend, ja euer Radio, bis sie im Chor skandierten: Radio Marija. Daneben waren Schreie zu hören: Die singen, wir können uns doch auch hier äußern. Es kamen immer mehr lachende Gesichter zusammen, so dass man eine Abwehrreaktion von Seiten der Kreuzanhänger befürchten musste. Zwei junge Männer standen in Christushaltung am Laternenpfahl, ein Polizist war neben ihnen postiert, rundum kommentierten die jungen Leute lachend: Der will ein Kreuz sein. Lange Zeit hallten mir noch das höhnische, laute Lachen und die lauten Rufe gegen die Betenden in den Ohren. Es erinnerte mich an die antisemitischen höhnischen Angriffe gegen die „dummen gläubigen“ Juden, die da aus dem Mittelalter zu kommen schienen. Eine Brutalisierung des öffentlichen Lebens kündigte sich an. Ministerpräsident Tusk zeigte sich erfreut über die Aktionen der jungen Leute. So sei nun einmal das Leben.

Die Zurückhaltung der Kirche verwunderte viele. Schließlich ging es um ein Wahrzeichen, um ihr Wahrzeichen. Andererseits kann man aber immer wieder beobachten, dass grundlegende Protestaktionen in der Kirche ihren Ausgangspunkt nehmen. Zur Zeit kann man das an jedem Zehnten des Monats in Warschau feststellen, wenn der Smolensker Flugzeugkatastrophe gedacht wird. Man findet sich um 19 Uhr zur Messe in der Kathedrale ein und begibt sich anschließend zum Präsidentenpalast. Es kommen stets mehrere Tausend Menschen zusammen. Wer die Organisation in der Hand hat, ist schwer zu sagen. In vorderster Reihe sieht man recht starke Männer, die ein breites Transparent mit der Aufschrift „Wir wollen die Wahrheit“ tragen. Dahinter gruppieren sich die Demonstranten, die zum Teil entweder brennende Fackeln oder kleinere Gläser mit Kerzenlicht tragen. Hier und da sieht man kleinere hochgehaltene Plakate mit unterschiedlichen patriotisch klingenden Losungen, vor allem dass man nicht von Russland einverleibt werden wolle. An der Spitze singt ein Priester Bittgebete an Maria. Die Demonstranten singen oder summen zumeist mit. Man macht vor der St. Annenkirche Halt, wo der Priester erklärt, hier befinde sich das Kreuz der Pfadfinder, man müsse ihm die Ehre erweisen. Dann geht es weiter bis zum Präsidentenpalast, der von den Demonstranten pałac namiestnikowski (Gouverneurspalast wie in der zaristischen Zeit) genannt wurde, solange Komorowski Präsident war. Jarosław Kaczyński hält eine Rede, dass man die Wahrheit fordere und sie werde auch eines Tages ermittelt werden. Am Ende wird „ojczyznȩ wolna, racz nam wrócić Panie” (Herr, gib uns das freie Vaterland zurück) gesungen. Schließlich geht man friedlich auseinander. Bei einer solchen Demonstration kann es nicht zu Aggressionen kommen. Das lässt vor allem der gebetsmäßige Sing-Sang nicht zu. Seit Jahrzehnten verhindern die kirchlichen Rituale, die sich die Protestierenden, ohne die Kirche um Erlaubnis zu fragen, angeeignet haben, dass es zu gewaltsamen Ausschreitungen kommt. Der friedliche Protest, durch den das volkspolnische Regime am Ende zu Fall gebracht wurde, ist mithin in einem großen Ausmaß dem Katholizismus zu verdanken, ohne dass die Kirchenhierarchie das willentlich angestrebt hatte, wenngleich sie nie eine Freundin des sogenannten kommunistischen Systems war.

Heute profitiert die katholische Kirche immer noch und immer wieder davon. Ihre Machtstellung ist so groß wie noch nie. Keine Partei wird etwas ohne ihr stilles Einverständnis tun. Unter der postkommunistischen Regierung wurde wieder die kirchliche Trauung als gleichwertig zur standesamtlichen Trauung anerkannt. Und als der Kulturminister der Kaczyński-Regierung nicht erlauben wollte, dass der Religionsunterricht im Abiturzeugnis mit einer Zensur bewertet wird, ließ die Kirchenhierarchie kurzerhand verlauten, dass man vor einem Kampf nicht zurückschrecke. Die Tusk-Regierung war dem Druck der Kirchenleitung, den 6. Januar zu einem Feiertag zu erklären, schnellstens erlegen. Seit jenem Jahr, 2011, kann sich Polen eines weiteren Feiertags erfreuen.

Die Klage, dass keine bedeutende Persönlichkeit wie etwa Kardinal Wyszyński an der Spitze der polnischen katholischen Kirche stehe, scheint mir völlig unbegründet. Im Augenblick braucht sie keinen charismatischen Führer. An irgendwelchen Veränderungen ist sie schließlich nicht interessiert. Solange sich so gut wie alle taufen, firmen, kirchlich trauen und kirchlich beerdigen lassen, solange es so gut wie keine feierlichen Akte ohne Anwesenheit eines katholischen Würdenträgers gibt und solange so gut wie niemand dem Klerus auf die Finger schauen möchte, wird die Kirche in ihrem behaglichen Selbstwertgefühl verharren wollen, zumal in Polen kaum alternative Formen zu den verschiedensten Ritualen entwickelt worden sind. So gibt es keine Jugendweihe, die z.B. in Deutschland über eine jahrzehntelange Tradition verfügt. 1919 war Gerhard Hauptmann bei einer solchen als Redner anwesend, wie mir in meiner Familie erzählt wurde. Die nicht religiös gebundenen Beerdigungsfeiern können sich mit den deutschen an Feierlichkeit in keiner Weise messen. Der Kampf gegen die katholische Kirche, zu dem einige Gruppen hin und wieder aufrufen (u.a. während des sogenannten Kriegs um das Kreuz vor dem Präsidentenpalast 2010 aufgerufen hatten), hat daher so lange keine Aussicht auf Erfolg, solange dem Althergebrachten nichts Neues entgegengesetzt wird.


[1] Gut dokumentiert sind diese Prozessionen in dem Bildband Milenium czy Tysiaclecie, hrsg. von Bartolomej Noszczak, Warszawa 2006
[2] Diese Szene habe ich genauer analysiert in dem Artikel „Zwischen Irrationalem und Rationalem oder die »Totenfeier« von Mickiewicz und der »Kordian« von Słowacki“ (in: Parallelen und Kontraste. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1750 und 1850, hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke in Zusammenarbeit mit Alexander S. Dmitrijew, Peter Müller und Tadeusz Namowicz, Berlin und Weimar 1983, S.277-293 (besonders S.280f.).
[3] Man könnte auch sagen, dass es deswegen tief in die Gemüter drang, schließlich gehören die Gedichte und Dramen von Słowacki und Mickiewicz seit Jahrzehnten zur festen Schullektüre sowohl in der Grund- wie auch in der Oberschule.
[4] Mieczysław Rakowski, Dzienniki polityczne 1979/1981, Warszawa 2004, S.72
[5] Zitiert nach Adam Michnik, Kościół, lewica, dialog, Warzaws 1998, S.111.
[6] Vgl. hierzu die Kapitel „Der von den Machthabern initiierte Antisemitismus" und „Die Kirche und die Märzereignisse von 1968“ in meinem Buch Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin 2004.
[7] Ebd. S.201f.
[8] Wiederabgedruckt in Jacek Kuroń, Polityka i odpowiedzialność (Politik und Verantwortung), London 1984, S.17-33.
[9] Vgl. hierzu Andrzej Friszke, Opozycja polityczna w PRL. 1945-1980 (Die politische Opposition in der Volksrepublik Polen), London 1994, S. 12
















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