Björn Mensing
„Wir freuen uns, daß die Häftlinge menschlich behandelt
werden“
Die unterschiedlichen Reaktionen der evangelischen Kirche auf das KZ
Dachau 1933 und 1935
Am 22. März 1933 wurden die ersten 96 Häftlinge in das Konzentrationslager Dachau unweit von München gebracht. Es waren Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, die zumeist unmittelbar nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Bayern am 9. März 1933 in „Schutzhaft“ genommen worden waren. Die neuen Machthaber konnten bei ihrer ersten Verhaftungswelle auf Listen zurückgreifen, die die Bayerische Politische Polizei schon vor 1933 angelegt hatte. Die Errichtung des ersten Konzentrationslagers in Bayern kündigte Heinrich Himmler, kommissarischer Polizeipräsident in München, am 20. März 1933 bei einer Pressekonferenz an. In den nächsten Tagen stand es in vielen Zeitungen. In den ersten Wochen des Lagers lag die Bewachung der „Schutzhäftlinge“ bei einer Hundertschaft des Münchner Schutzpolizeikommandos. [1] Am 11. April 1933 übernahm die SS das Kommando und begann sofort mit der brutalen Misshandlung der Häftlinge. Schon am zweiten Tag führten SS-Männer unter Führung von Sturmführer Robert Erspenmüller vier Juden aus dem Lager, um sie „auf der Flucht“ zu erschießen. Die beiden jungen Fürther KPD-Mitglieder Dr. Rudolf Benario und Ernst Goldmann sowie der Würzburger Medizinstudent Arthur Kahn wurden am 12. April 1933 in Dachau ermordet. Der Münchner Kaufmann Erwin Kahn wurde schwer verwundet, war aber nach einer Notoperation in der Chirurgischen Klinik an der Nußbaumstraße in München außer Lebensgefahr und konnte mit seiner Frau sprechen. Er starb in der Nacht vom 15. auf den 16. April 1933 in der Klinik, wohl als lästiger Zeuge von seinen Bewachern erwürgt. Die Zeitungen berichteten über diese ersten Todesfälle im KZ Dachau, die Kommunisten seien „auf der Flucht erschossen“ worden. [2]
An der offiziellen Propaganda, die das KZ Dachau als eine Art harmloses Arbeitsumerziehungslager darstellte und die Folterungen und Mordexzesse vertuschte, zweifelten nicht nur Kommunisten und Sozialdemokraten. Die für Dachau zuständige Staatsanwaltschaft München II nahm die Ermittlungen in den Todesfällen auf und reichte nach zwei noch schlechter getarnten Morden am 1. Juni 1933 beim Landgericht München Klage wegen Mordes gegen die tatbeteiligen SS-Wachmänner und den Lagerkommandanten Hilmar Wäckerle ein, beantragte die gerichtliche Voruntersuchung und Haftbefehle. [3]
Auch innerhalb der evangelischen Kirche erfuhren Gefängnis- und Krankenhausseelsorger früh vom brutalen Terror der Nationalsozialisten. So vermerkte der Vikar der Münchner Johanneskirche, der das Untersuchungsgefängnis Neudeck seelsorgerlich betreute, in seinem Tagebuch: „3.5.33 Im Gefängnis: Schutzhäftlinge. Die Marxisten sind innerlich unsicher und heimatlos geworden. Wieviel Schlimmes ist doch während der NS-Revolution geschehen, das nicht an die Öffentlichkeit dringt. Fürchterliche Zustände in der Ettstraße [der Münchner Polizeizentrale]!“ [4] Sein Vikarskollege an der Matthäuskirche, der spätere Landesbischof Hermann Dietzfelbinger, schreibt in seiner Autobiographie: „Vom Frühjahr 1933 an war etwa ein Jahr lang in der Chirurgischen Klinik eine Krankenabteilung des Konzentrationslagers Dachau eingerichtet, solange sie draußen noch kein Revier hatten. Ich konnte die Schwerkranken, die da hereingebracht wurden, auch besuchen, allerdings unter strenger SS-Aufsicht. In jedem Zimmer mit drei oder vier Patienten saßen ebenso viele SS-Männer als Wache. Die ersten Besuche waren zum Verzweifeln.“ [5]
Es ist kaum vorstellbar, dass der Dienstvorgesetzte der Vikare, der Münchner Dekan Friedrich Langenfaß, nichts von diesen Erfahrungen seiner Amtsbrüder erfuhr. Dennoch ließ er zu, dass im von ihm herausgegebenen „Evangelischen Gemeindeblatt für München“ in der Ausgabe vom 21. Mai 1933 in der Rubrik „Kirchliche Chronik“ unter der Überschrift „Die im Konzentrationslager“ ein Beitrag erschien, der die zynische NS-Propaganda über die Konzentrationslager unter das Kirchenvolk brachte: „Das Denken des Volkes kreist heute viel um die großen Konzentrationslager, in denen Tausende von Schutzhäftlingen untergebracht sind. […] Oft ist es von hämischer Schadenfreude oder rachsüchtiger Gesinnung oder schnodderiger Leichtfertigkeit getränkt. […] Das ist eine unrichtige Haltung! Gewiß, man soll nicht in eine weichliche Gefühlsduselei verfallen und von Mitleid überströmen. Denn viele von denen, die im Konzentrationslager sind, hatten nichts Gutes vor. Wehe, wenn sie die Macht gewonnen hätten! Aber auf der andern Seite: daß da Tausende von deutschen Menschen hinter den Stacheldraht gebracht und von ihren eigenen Volksgenossen bewacht werden müssen, darin wird eine tiefe Not sichtbar. Eine Not, die man nicht belächeln kann. Denn diese Not geht auch uns an. Sie wird zu einer Anklage: ,Warum duldeten wir diese Verführung und Verhetzung, die dann zwangsläufig zur Errichtung von Konzentrationslagern führte?? In diesen Lagern steckt viel Schuld; und ein gerüttelt Maß dieser Schuld fällt auch auf uns. […] Wir freuen uns, daß die Häftlinge menschlich behandelt werden und daß man in ihnen nicht Verbrecher, sondern Verführte sieht. Und wir freuen uns auch, daß nicht Strafe, sondern Erziehung und Gesinnungswandel der Sinn der Konzentrationslager sein soll. Hier muß eine große Arbeit getan werden. Und sie sollte vom ganzen Volk, vor allem aber von der Kirche innerlich mitgetragen werden.“ [6]
Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Kirche nicht gegen das Unrecht in den Konzentrationslagern protestierte, sondern sich vielmehr um eine seelsorgerliche Betreuung der evangelischen KZ-Häftlinge bemühte, so wie sie diese in anderen Gefängnissen auch praktizierte. [7]
Während von katholischer Seite schon ab dem 16. Juli 1933 Gottesdienste für Häftlinge dieses Bekenntnisses im KZ Dachau angeboten wurden[8], setzten die evangelischen Gottesdienste wohl erst zur Jahreswende 1933/34 ein. Erwein von Aretin, der vom 7. November bis 23. Dezember 1933 im KZ Dachau in „Schutzhaft“ war und sich über die Besuche des Dachauer Stadtpfarrers Friedrich Pfanzelt im Lager freute, vermerkte in seinen Erinnerungen: „die Protestanten wurden nicht besucht“ [9]. Spätestens ab Januar 1934 hielt Pfarrer Julius Sammetreuther von der Münchner Matthäuskirche evangelische Gottesdienste im KZ Dachau; in Dachau gab es damals noch kein evangelisches Pfarramt. [10] Ab Februar 1934 beauftragte Dekan Langenfaß im Einvernehmen mit der Kirchenleitung Pfarrer Friedrich Hofmann, Vereinsgeistlicher der Inneren Mission München, mit der Seelsorge an den evangelischen Insassen des Konzentrationslagers Dachau. Hofmann war am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten. Helmut Baier charakterisierte Hofmanns politische Haltung in seiner profunden Studie über die Innere Mission München: „Er war dem Gift der Propaganda erlegen und hatte sich verführen lassen, allerdings bekleidete er in der Partei oder in ihren Gliederungen nie ein Amt. Auch sonst beschränkten sich seine Aktivitäten als Parteimitglied auf ein Minimum.“ [11] Die Gottesdienste fanden sonntags in 14-tägigem Turnus statt, zunächst in der Bücherei, dann im großen Gefangenenspeisesaal und im Winter in einer beheizbaren Werkstattbaracke. Der bayerische Landeskirchenrat stellte die Mittel für die Anschaffung eines Harmoniums zu Verfügung und erstattete Hofmann seine Auslagen im Kontext der KZ-Seelsorge. Kamen zunächst durchschnittlich 17 Häftlinge, so stieg die Zahl im Sommer/Herbst 1934 auf durchschnittlich 100 bis 120. In seinem Bericht vom März 1935 an den Landeskirchenrat äußert er sich positiv über die Resonanz auf das Gottesdienstangebot: „Die Gefangenen zeigten sich sehr aufgeschlossen und interessiert.“ [12] Allerdings durfte Hofmann mit Gefangenen nur in Gegenwart eines SS-Manns sprechen. Der Pfarrer versuchte auch über das Gottesdienstangebot hinaus zu helfen: „Immer wieder hatte Hofmann Fragen und Wünsche von besorgten Angehörigen oder Gefangenen zu vermitteln; meist ging es darum, die Verbindung zu den Angehörigen nicht abreißen zu lassen. Sein Sohn wurde mehrfach nach Dachau geschickt, um Päckchen abzugeben. Mancher Gefangenenwunsch konnte so erfüllt werden, auch der nach Geld, um sich im Lager Nahrungsmittel kaufen zu können. Viele erhaltenen Schreiben Hofmanns zeugen davon. Auch immer wieder erhielt Hofmann Dank von Angehörigen oder Betroffenen, wenn sie in die Freiheit entlassen waren.“ [13]
Pfarrer Hofmann setzte noch 1935 Hoffnungen in eine deutliche Verbesserung seiner Arbeitsmöglichkeiten in der KZ-Seelsorge. Helmut Baier dazu: „In diesen Fragen erwies sich Hofmann als etwas blauäugig, denn er schien offensichtlich noch nicht viel vom wirklichen Leben im KZ Dachau zu wissen.“ [14] Voller Bedauern vermeldet Hofmann den Rückgang der Gottesdienstbesucher ab Anfang 1935 auf durchschnittlich 30 bis 60 Personen. In seiner Erklärung dieses Rückgangs klingen Ressentiments gegen bestimmte Neuzugänge bei den Häftlingen durch: „Die Verminderung der Zahl kommt daher, daß die Belegschaft des Lagers sehr gewechselt hat. Politische Gefangene sind fast nicht mehr vorhanden, an ihrer Stelle sind ehemalige Insassen des Arbeitshauses Rebdorf und die auf Antrag der Fürsorgeverbände eingewiesenen asozialen Elemente (Trinker und solche, die nicht für den Unterhalt ihrer Familie sorgen) getreten. Diese Zuhörerschaft zeigt ein wesentlich geringeres Interesse und Verständnis für den Gottesdienst und die Predigt.“ [15] An keiner Stelle in seinem kircheninternen Tätigkeitsbericht vom 11. März 1935 übte Hofmann Kritik an der massiv gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßenden Inhaftierung von politischen Gegnern des NS-Regimes und von als „Asozialen“ ausgegrenzten Männern oder an den Haftbedingungen. Und folglich gab es auch von Seiten der Kirchenleitung über das Seelsorgeangebot hinaus keine Initiativen zugunsten der Häftlinge.
Dies änderte sich schlagartig mit der Einlieferung der ersten evangelischen Geistlichen ins KZ Dachau. Wegen „staatsfeindlicher Betätigung innerhalb der Bekenntnisfront“ wies das Geheime Staatspolizeiamt Darmstadt fünf Theologen aus der Bekennenden Kirche in Nassau-Hessen ins KZ Dachau ein, die sich gegen Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich (Deutsche Christen) gestellt hatten: Friedrich Ruhland, Peter Brunner und Adam Wolf am 1. April, Hermann Hickel am 8. April und Helmut Weber am 15. April 1935. [16] Friedrich Hofmann, der frühzeitig von der Verhaftung der Amtsbrüder erfahren hatte, wurde aktiv: „Nachdem ich am 31. März vergeblich den Versuch gemacht hatte, sie [im KZ Dachau] zu finden, waren sie am 7. April zum ersten Mal im Gottesdienst anwesend. Für diese Kollegen bedeuteten die Gottesdienste, wie sie bezeugt haben, eine ganz besonders große Hilfe. Um die Verbindung mit den Angehörigen herzustellen, fuhr ich schließlich in ihre Heimat. […] Nun konnte ich den gefangenen Amtsbrüdern Genaues von daheim und von der Lage ihrer Gemeinden berichten und es gelang mir auch, an den kommenden Sonntagen eingehend unter Ausschaltung der Aufsichtsführenden mit ihnen zu reden und ihnen Grüße zu übergeben.“ [17]
Die Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche, das reichsweite Leitungsgremium der Bekennenden Kirche (BK), hatte bereits am 25. März 1935 mit einem Rundschreiben die Einweisung der hessischen BK-Theologen ins KZ Dachau bekannt gemacht – irrtümlich einige Tage bevor diese faktisch geschah. [18]
In München wurde am 26. März 1935 Pfarrer Eduard Putz aktiv, der 1927 20-jährig als Student in die NSDAP eingetreten und Mitbegründer des NS-Studentenbundes in Tübingen und Erlangen war und von 1931 bis 1933 innerhalb der bayerischen Pfarrerschaft recht erfolgreich für den Nationalsozialismus geworben hatte. Im Juni 1933 hatte Landesbischof Hans Meiser ihn als theologischen Hilfsreferenten in den Landeskirchenrat geholt zur „Aufrechterhaltung einer möglichst innigen Verbindung zur Reichsleitung der NSDAP und ihrer verschiedenen Abteilungen, besonders zur SA und zur SS sowie zur Glaubensbewegung Deutsche Christen“ [19]. Putz, wegen seines frühen Parteieintritts seit März 1934 Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP, war ab Frühjahr 1934 im Auftrag Meisers, und bald aus eigener begeisterter Überzeugung, aktiv an der Gründung der Bekennenden Kirche in Deutschland beteiligt. Sein Hauptgegner war von nun an Reichsbischof Ludwig Müller und die Deutschen Christen (DC). Mutig trat er für die von ihren eigenen DC-Kirchenleitungen und von Staats- und Parteistellen drangsalierten Brüder innerhalb der Bekennenden Kirche in den „zerstörten“ Landeskirchen ein, mitunter auch ohne Abstimmung mit seinen kirchlichen Vorgesetzten. So ist auch nicht klar, ob Putz den Brief, den er am 26. März 1935 an Adolf Hitler schrieb, in irgendeiner Form mit seinem Landesbischof abgestimmt hatte. Im ausführlichen Brief heißt es unter der Überschrift „Die politische und völkische Zerstörung“: „Mein Führer! Ich bitte Sie, mich anzuhören über die furchtbare Zerstörung, die am besten Volksgut geschieht. Diese Zerstörung geschieht dadurch, daß Ludwig Müller (und seine Organe) das Prestige des Staates und der Partei für seine falsche kirchliche Politik einsetzt. Es soll Macht und Gewalt die wirkliche Kirche niederhalten. […] Ich weiß aus eigener Anschauung, und nur ein Hundsfott oder Lump kann hierzu schweigen, wenn er sieht, wie durch diese Verhältnisse auch die ungeheure und einem Nationalsozialisten geradezu rührende Vertrauensbasis zu dem Manne Adolf Hitler täglich Belastungsproben ausgesetzt wird um einer völlig unhaltbaren Sache willen. In Hessen-Nassau sind mit Bestimmtheit vier, wahrscheinlich aber sechs tapfere deutsche Pfarrer unter Rechtsbruch und Gewalttat ins Konzentrationslager Dachau überführt worden. Die Stimmung der Bevölkerung in Nassau-Hessen und in der Pfarrerschaft ist unbeschreiblich, und ich würde Ihnen, mein Führer, gerne einmal persönlich die Stimmung in Deutschland schildern.“ [20] Eine Reaktion auf diesen Brief ist nicht überliefert.
Am 28. März 1935 informierte der bayerische Landeskirchenrat alle Pfarrämter und rief zum Gebet für die „bedrängten Brüder“ in den Gemeindegottesdiensten am 31. März auf; die Bayerische Politische Polizei verbot die entsprechende Kanzelabkündigung und Fürbitte. Für den nächsten Sonntag folgte die Weisung der Kirchenleitung, für die im KZ inhaftierten Geistlichen die Glocken schweigen zu lassen. Anfang April suchte eine Abordnung des bayerischen Landessynodalausschusses den Vertreter des Reichsstatthalters Franz Ritter von Epp auf, um sich für die Pfarrer im KZ einzusetzen. [21] Epp versprach Landesbischof Hans Meiser, sich nach deren Schicksal zu erkundigen, was er auch einhielt. [22] Am 31. Mai 1935 forderte der bayerische Ministerpräsident Ludwig Siebert einen Bericht der Bayerischen Politischen Polizei an. Einen Tag vor dem Beginn der reichsweiten Bekenntnissynode in Augsburg, auf der gegen die Gewaltmaßnahmen gegen BK-Pfarrer protestiert werden sollte, schickte Reichsinnenminister Wilhelm Frick am 3. Juni 1935 ein Telegramm an Epp: Die Geistlichen seien sofort aus der „Schutzhaft“ zu entlassen. So wurden am 4. Juni 1935 Peter Brunner, Adam Wolf und Helmut Weber aus dem KZ Dachau entlassen – was sogleich auf der Tagung der Bekenntnissynode vermeldet wurde; Friedrich Ruhland und Hermann Hickel waren schon am 20. Mai freigekommen und hatten Landesbischof Meiser besucht.
Die Interventionen der evangelischen Kirche für die fünf ersten Pfarrer im KZ Dachau waren überaus erfolgreich. Die staatlichen Stellen wollten offensichtlich einen reichsweiten, öffentlichen Protest der Bekenntnissynode in Augsburg gegen die „Schutzhaft“ der BK-Geistlichen abwenden.
Im Rückblick wird deutlich, warum die Kirche erst protestierte, als eigene Pfarrer ins KZ Dachau kamen. Möglicherweise hätte ein kirchlicher Einsatz auch andere KZ-Häftlinge retten können, zumindest in der frühen Phase der NS-Herrschaft. Als sich 1938 der Protest der Bekennenden Kirche gegen die Überführung ihres Pfarrers Martin Niemöller ins KZ Sachsenhausen erhob, konnte dieser nichts mehr ausrichten; Niemöller blieb bis 1945 in Haft, zuletzt im KZ Dachau. Aber er überlebte und formulierte später das heute weltweit bekannte Schuldbekenntnis: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ [23]
[1] Stanislav
Zámečník, Dachau-Stammlager, in:
Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der
Ort des Terrors. Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band II,
München
2005, S. 233-274; hier S. 233-235.
[2] Rolf Seubert, „Mein
lumpiges Vierteljahr Haft ...“. Alfred
Anderschs KZ-Haft und die ersten Morde von Dachau. Versuch einer
historiografischen Rekonstruktion, in: Jörg Döring/Markus
Joch (Hg.), Alfred Andersch
revisited. Werkbiographische Studien im
Zeichen der Sebald-Debatte, Berlin/Boston 2011, S. 47-146; zu
den
ersten Morden im KZ-Dachau und deren Opfer S. 69-92.
[3] Zu den Ermittlungen des
mutigen Ersten Staatsanwalts Josef
Hartinger vgl. ebd., S. 92-97; Hartinger und der ebenfalls unbequeme
Oberstaatsanwalt Karl Wintersberger wurden im März 1934 versetzt,
die Ermittlungen zu Dachauer Mordfällen mussten eingestellt werden.
[4] Björn Mensing,
„Hitler hat eine göttliche Sendung“.
Münchens Protestantismus und der Nationalsozialismus, in:
Björn Mensing/Friedrich Prinz (Hg.), Irrlicht im leuchtenden
München? Der Nationalsozialismus in der „Hauptstadt der Bewegung“,
Regensburg 1991, S. 92-123, Zitat S. 114f.
[5] Hermann Dietzfelbinger,
Veränderung und
Beständigkeit.
Erinnerungen, München 1984, S. 59.
[6] Evangelisches Gemeindeblatt für
München, Nr. 21,
21.5.1933, S. 240; am Ende des Artikels wird als Quelle das
„Stuttgarter Evangelische Sonntagsblatt“ genannt. Dort erschien der
Artikel am 7.5.1933 unter der Rubrik „von da und dort“ ohne
Verfasserangabe; verantwortlicher Schriftleiter war Pfarrer Immanuel
Kammerer, Stuttgart.
[7] Vgl. Tim Lorentzen,
Kirche und Konzentrationslager.
Fragestellungen und Ergebnisse eines Forschungsseminars mit
Münchner Studierenden, in: Mitteilungen
zur Kirchlichen
Zeitgeschichte 6 (2012), S. 197-220.
[8] Andrea Riedel, Seelsorge in dem Konzentrationslager
Dachau in der
NS-Zeit, Manuskript, Unterhaching 1996, S. 5.
[9] Erwein von Aretin, Krone und Ketten. Erinnerungen eines
bayerischen Edelmanns, hg. von Karl Buchheim und Karl Otmar von
Aretin,
München 1955, S. 299.
[10] Die etwa 825
Evangelischen in Dachau gehörten 1933 zum
Pfarramt München-Christuskirche. Die Tochterkirchengemeinde
Dachau-Allach war ein „exponiertes Vikariat“. Von April 1933 bis Mitte
1936 amtierte in Dachau Vikar Christian Lechner. Die sechs
Kirchenvorsteher waren „deutsche Männer, die der NSDAP bezw. deren
Gliederungen angehören“ (so die Selbstbeschreibung in einer
Stellungnahme des Kirchenvorstandes vom September 1934, vgl. Dirk
Rumberg, Evangelische Kirche in
Dachau. Alltag zwischen Begeisterung,
Enttäuschung, Anpassung, Widerstand und Verfolgung,
Manuskript,
Haimhausen 1983, S. 11). Nachdem der Reformationsgottesdienst im
Betsaal unweit des Dachauer Bahnhofs 1933 von mehreren SS-Leuten
besucht worden war, glaubte der Kirchenvorstand noch im Februar 1935,
es müssten „die außerhalb des Lagers wohnenden
Angehörigen der Lager-Wachmannschaft mit ihren Familien
seelsorgerlich betreut werde. Auch der Zuzug verheirateter und
unverheirateter S.S.-Leute, die aus ihrer romfeindlichen
[antikatholischen] Gesinnung heraus mit geringen Ausnahmen der
evangelischen Kirche zustreben, stellt den Vikar vor neue wichtige
Aufgaben.“ Das Protokoll hält auch fest, dass „die Seelsorgearbeit
innerhalb des Konzentrationslagers, soweit sie geleistet wird, nicht in
den Aufgabenkreis des Vikars fällt“ (Protokoll der
Kirchenvorstandssitzung vom 13.2.1935; Ebd., S. 22). Tatsächlich
begannen 1935 in Dachau die Austritte von SS-Angehörigen aus der
evangelischen Kirche, 1936 setzte mit 377 Austritten eine regelrechte
Austrittswelle ein: „Für die Lehrgangsteilnehmer [im großen
SS-Ausbildungszentrum in Dachau], die noch nicht aus der Kirche
ausgetreten waren, führte einer der ersten Wege zum Standesamt, um
den Kirchenaustritt zu erklären.“ (Ebd., S. 24). 1939 legten dann
auf Druck der NSDAP fünf der sechs Kirchenvorsteher ihr Ehrenamt
nieder. Die Partei untersagte nun den „Unterführern der Bewegung“
die Übernahme oder Ausübung kirchlicher Ehrenämter.
(Ebd., S. 26).
[11] Helmut Baier, Liebestätigkeit unter dem Hakenkreuz.
Die
Innere Mission München in der Zeit des Nationalsozialismus
(Arbeiten zur Kirchengeschichte Bayerns 87), Nürnberg 2008, S. 44;
zur Seelsorge in Dachau S. 171-183.
[12] Ebd., S. 173.
[13] Ebd., S. 176.
[14] Ebd., S. 174.
[15] Ebd., S. 174. Ab
Sommer 1936 wurden unter dem neuen
KZ-Kommandanten Hans Loritz die Häftlinge, die noch am
Gottesdienst teilnahmen, von der SS drangsaliert, dass
schließlich keiner mehr zum Gottesdienst kam (Ebd., S. 178-180).
Dies galt auch für die katholischen Gottesdienste (Andrea Riedel,
Seelsorge, S. 8). Von 1941 bis 1945 durften dann auf Intervention des
Vatikans hin wieder katholische (und evangelische) Gottesdienste im KZ
Dachau stattfinden, an denen aber nur die inhaftierten Geistlichen (und
auch diese später nur noch mit Einschränkungen) teilnehmen
durften, die die Gottesdienste auch selbst gestalteten; niemand durfte
dazu von außen ins Lager kommen (Ebd., S. 9).
[16] Vgl. Björn
Mensing, Evangelische Pfarrer aus ganz Europa im
KZ Dachau, in: Sabine Gerhardus/Björn Mensing (Hg.), Namen statt
Nummern. Dachauer Lebensbilder und Erinnerungsarbeit, 2. Aufl.,
Leipzig
2009, S. 195-284, mit Kurzbiographien der fünf hessischen
BK-Theologen (S. 210-213) und von 108 zwischen 1940 und 1945 ins KZ
Dachau verschleppten evangelischen Geistlichen (S. 213-284). Die
Kurzbiographien sind auch als Online-Dokumentation „Pastoren im KZ
Dachau“ veröffentlicht:
http://www.versoehnungskirche-dachau.de/themen/pages/PastorenDE.php
[17] Dirk Rumberg, Evangelische Kirche in Dachau, S.
116.
[18] Ebd., S. 71-79.
[19] Hans-Bodo Thieme,
Eduard Putz (1907-1990). Lutherischer Pfarrer,
Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP, Mitglied der
Bekenntnissynode von Barmen 1934, in: Zeitschrift
für bayerische
Kirchengeschichte 79 (2010), S. 151-163; Zitat S. 152f.; vgl. zu
Putz
Björn Mensing, Pfarrer und
Nationalsozialismus. Geschichte einer
Verstrickung am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern
(Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte B 26) Göttingen 1999, S.
47ff., 55, 57, 96, 129-132, 147ff., 162f., 192, 205, 218f.
[20] Anne Lore
Bühler, Der Kirchenkampf im
evangelischen
München. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und
seinen Folgeerscheinungen im Bereich des Evang.-Luth. Dakanates
München 1923-1950 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte
Bayerns Fotodruckreihe 5), Nürnberg 1974, S. 133f.
[21] Helmut Baier/Ernst
Henn, Chronologie des bayerischen
Kirchenkampfes 1933-1945 (Einzelarbeiten aus der
Kirchengeschichte
Bayerns 47), Nürnberg 1969, S. 117.
[22] Dirk Rumberg, Evangelische Kirche in Dachau, S.
75f.
[23] Die nach Auskunft
der Martin-Niemöller-Stiftung von Martin
Niemöller selbst indirekt „autorisierte“ Version des
Schuldbekenntnisses;
http://www.martin-niemoeller-stiftung.de/4/daszitat/a31 (abgerufen am
21.12.2014).
Zum Autor:
Pfarrer Dr. Björn Mensing, Theologe und Historiker, Evang.
Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau.
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