theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Lorenz S. Beckhardt, Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie, Berlin 2014, Aufbau Verlag, 480 S., 24,95 EUR, ISBN 978-3-351-03276-0


Bücher faszinieren mitunter, weil sie zwar leicht zugänglich daherkommen, bei näherem Hinsehen aber vielschichtig sind, eigentlich mehrere Bücher in einem. Lorenz Beckhardts Neuerscheinung ist auf den ersten Blick eine Familiengeschichte. Ein Nachkriegskind recherchiert die Geschichte seiner Großeltern und Eltern. So schlicht lautet auch der Untertitel: „Meine deutsche Familie“. Aber nun ist diese Familie eine jüdische Familie. Und so ist das Buch eine exemplarische Studie über Juden in Deutschland. Beckhardt verfolgt seine Vorfahren zurück bis ins 18. Jahrhundert und erzählt eine Geschichte von Emanzipation und Assimilation – und deren furchtbarer Enttäuschung. Schließlich ist das Buch auch noch eine sehr persönliche Geschichte der Suche nach den eigenen Wurzeln: Lorenz Beckhardt erfährt erst als junger Erwachsener, dass er Jude ist – und er sucht dazu ein eigenes Verhältnis zu finden, in Israel und in Deutschland.

Die Schoa aus der „Froschperspektive“
Im Mittelpunkt dieser spannenden Mehrdimensionalität steht allerdings die Verfolgungsgeschichte der Familie im Nationalsozialismus. Beckhardt ist kein Historiker, sein Buch keine wissenschaftliche Studie, sondern eine ebenso journalistische wie persönliche Recherche. Was er schildert, ist in der Sache bekannt. Doch diese Naheinstellung auf die Region um Wiesbaden und in Westfalen, auf die Familien seines Vaters und seiner Mutter, zeigen das immer wieder Unfassbare anschaulich und atemberaubend genau. Das gilt für die schrittweise Entrechtung, die so bürokratisch geordnet eingeleitet wird, dass sich viele Betroffene eine echte Bedrohung nicht vorstellen können. Diese bürokratische Genauigkeit geht über Berufs- und Beziehungsverbote bis zum Verlust der Wohnung und der völligen Enteignung, als die jüdischen Konten schließlich zu Treuhandkonten des Reiches werden, mit monatlichen Zuteilungen. Minutiös und peinigend verfolgt Beckhardt auch die „kleinen“ Schritte bis hin zur Verpflichtung, sein Radio abzugeben, seinen Schmuck, am Ende sein Kochgeschirr. Deportiert und ermordet werden erst völlig entrechtete, ausgeplünderte und in der Öffentlichkeit zugleich per Judenstern gebrandmarkte und unsichtbar gemachte Menschen.
Warum haben die Betroffenen das Ende so lange nicht wahrhaben wollen, warum sind so viele geblieben, als Flucht noch möglich war? Die Hauptfigur in Beckhardts Erzählung ist sein Großvater Fritz, hochdekorierter Jagdflieger aus dem Ersten Weltkrieg – eben jener „Jude mit dem Hakenkreuz“, der so genannt wird, weil sein Flugzeug ein solches Emblem trug, lange bevor es die Nazi-Partei und ihr Abzeichen gab. Absurderweise stammt dieses Zeichen aus der uralten Haggada der Familie (dem Buch zur Pessach-Feier; vgl. S. 198), und Fritz trägt es auch als Schmuckstück, als Glücksbringer. Dieser Fritz ist ein Draufgänger und Erfolgsmensch, ein Patriarch – und ein deutscher Patriot, durchaus national eingestellt, auch wenn er sich später politisch zu den Sozialdemokraten hält. Fritz hält sich lange in Deutschland für unantastbar. Als der Boykott gegen sein Geschäft beginnt, trägt er mitunter im Laden das Eiserne Kreuz am Revers (S. 148). Für den Leser, der weiß, was alles kommt, hat wohl die Reise der Familie im eigenen Auto 1934 über Frankreich und Spanien bis Portugal eine dramatische Schlüsselstellung. Hitler regiert schon über ein Jahr, aber man kehrt selbstverständlich in sein Reich zurück. Erst zur Jahreswende 1940/41, schon im Krieg also, wird Fritz mit seiner Frau unter ganz anderen Umständen den gleichen Weg zur letztmöglichen Flucht nutzen – und schließlich nach England gelangen, wohin die Kinder schon 1938 geschickt wurden.
Fritz stellt wie manche assimilierte Juden Nazis und Zionisten auf eine Stufe, „da beide den Keil zwischen Judentum und ‚Deutschtum‘ trieben.“ (S. 200) Und Beckhardt zeigt auch, wie gefährlich spiegelbildlich die Zionisten noch 1933 argumentierten, Blut und Boden im Munde führten und den Antisemitismus wegen seiner Klärung der Rassenfrage begrüßten! Beckhardt spürt immer wieder diesen aus heutiger Perspektive verwirrenden Allianzen nach, spricht etwa nach den Nürnberger Gesetzen davon, erst jetzt „endlich begannen die Funktionäre des assimilierten Judentums ihren letzten verzweifelten Kampf gegen eine Phalanx aus Nazis und Zionisten.“ (S. 208) Auf der anderen Seite porträtiert er Gestalten wie den Notar Buttersack, aktives NSAP-Mitglied, der sich unter dem Eindruck der Rassenpolitik der Bekennenden Kirche zuwendet, Juden vor Gericht verteidigt und schließlich im KZ Dachau stirbt. Es sind diese Einzelgeschichten jenseits der Klischees, welche einem beim Lesen immer wieder inne halten und nachdenken lassen.
Seine Rettung verdankt Fritz am Ende wahrscheinlich der Tatsache, dass Hermann Göring zeitweise zur selben Fliegerstaffel des Ersten Weltkriegs gehörte wie er. Fritz wird aus dem KZ Buchenwald entlassen, mit ausdrücklichem Hinweis auf seine „17 Abschüsse als Jagdflieger“ (S. 284). Die Gestapo will ihn, den Juden, sogar noch für die Luftwaffe anwerben. Das Buch schlägt also im Gedenkjahr 2014 auch eine lehrreiche Brücke vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg.

Nachgetragener Zorn
Doch liegt der provozierende zweite Schwerpunkt des Buches in der Nachkriegszeit. Denn Fritz kehrt mit der Familie aus England zurück. Alle Erfahrungen der Nazi-Zeit haben seine Anhänglichkeit an die Heimat nicht zerstören können. Was folgt, ist bis zu seinem Tod ein zermürbender Kampf mit den Behörden um Rückgabe seines „arisierten“ Eigentums, um Entschädigung für sich und die in Theresienstadt ermordeten Eltern. Die Verfolgten müssen nun jede Einzelheit der Verfolgung nachweisen, obwohl dies natürlich nicht ihnen, sondern gerade den Behörden möglich wäre, die diese Verfolgung organisiert haben. Sie und nicht die Juden besitzen die Akten. Doch an vielen Schaltstellen sitzen dieselben Personen, welche die Bürokratie der Verfolgung bedienten. Beckhardt benennt sie: Vom ehemaligen SA-Obergruppenführer und Regierungspräsidenten, der die Deportation der Großeltern anordnete und nach dem Krieg in der Deutschen Partei, Adenauers Koalitionspartner, aktiv ist (S. 359), bis hinunter zum Sportvereinsvorsitzenden Walter Mäurer, der Fritz seinerzeit als Juden ausschloss und nun auch nicht wieder aufnehmen möchte (S. 385 f.) Beckhardt füllt jene alliierte Umfrage, nach der 1951 jeder dritte Deutsche die Juden nicht für Opfer des Nationalsozialismus hielt und die Hälfte der übrigen sie für ihr Leid „teilweise selbst verantwortlich“ erklärte (S. 379), mit konkretem Leben der Provinz: Noch 1952 randalieren betrunkene Bewohner Sonnenbergs am Abend der 600-Jahrfeier des Ortes vor Beckhardts Laden, werfen Schaufenster ein, als sei noch einmal Pogromnacht (S.385). Erst 1977, als die Familie das Geschäft aufgibt, kehren viele Alteingesessene als Kunden zum „arischen“ Nachfolger zurück (S.449). Und Kurt – Fritz‘ Sohn, der Vater des Autors – erhält keine AOK-Krankenversicherung, als er seinen Ausweis als Nazi-Verfolgter vorlegt. „Den roten Ausweis benutzte er nie wieder. Er war der Judenstern der Nachkriegszeit.“ (S. 364) Beckhardts Schilderung ist hier stellenweise emotionaler als die der Kriegszeit. Er hadert sehr persönlich mit der Rückkehr der Familie aus England, obwohl diese doch die Vorgeschichte seines Lebens ist – denn erst danach lernten sich seine Eltern kennen. Dennoch: „‘Tu es nicht!‘, rufe ich ihm zu, doch es ist schon zu spät.“ (S. 347)


Ein Jude wird Jude
Damit ist die dritte Dimension des Buches, die persönlichste, erreicht. Es beginnt mit der Szene der Beschneidung des Autors in Anwesenheit von Frau und Vater, einer Szene, die der Leser da noch gar nicht einzuordnen vermag. Doch sie ist die Klammer des Buches. Lorenz Beckhardt erzählt auch seine Geschichte der Rückkehr zum Judentum. Der Vater hat ihn katholisch aufwachsen lassen, sogar in ein kirchliches Internat geschickt, so traumatisiert ist er vom Schicksal der Juden in diesem Land, dass er seinem Sohn Ähnliches ersparen möchte (S. 447). Lorenz ist erst überzeugter Katholik, wird dann politisierter linker Student. Er schildert seinen Abschied von einem „halben Leben links-katholischer Romantik“ (S. 207), bei der auch die Begegnung mit Israel eine wichtige Rolle spielt. Hier werden ihm seine linken Klischees über den Nahostkonflikt zerstört. Doch Lorenz Beckhardt schildert auch die Gesellschaft des jüdischen Staates mit kritischer Distanz: „Sie haben Auschwitz besucht, aber weder den Nationalsozialismus noch den Antisemitismus begriffen.“ (S. 568) Die letzte Pointe des pointenreichen Buches entsteht, als er einer Israelin den deutschen Patriotismus seines jüdischen Großvaters erklären will: „‘Wie sagt man Patriot auf Hebräisch?‘ … ‚Zioni‘. … Großartig! Besser kann man es nicht ausdrücken: Fritz war Zionist, sein Zion war Deutschland.“ (S. 470)

Beckhardts Buch ist mit Schwung geschrieben und doch bis ins Detail genau recherchiert – was es für Historiker zu einer interessanten Quelle macht. Es ist persönlich, emotional, und doch stets auch kritisch, ja ironisch distanziert und analytisch gehalten. Beckhardt ist meinungsfreudig und hier und da wird man widersprechen wollen – der Rezensent etwa gegenüber der allzu einfachen Parallelisierung von linken Studenten und Nazi-Rabauken (etwa S. 140), aber vielleicht offenbart sich hier seine noch nicht überwundene „links-katholische Romantik“. Gestoßen habe ich mich auch an der Behauptung, der arabische Aufstand habe Palästina für Flüchtlinge dicht gemacht (S. 244 und 290). Wer etwa Tom Segevs Palästinabuch (Tom Segev; Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels. München 2005) gelesen hat, weiß, dass die Lage – auch von Seiten der jüdischen zionistischen Politiker – leider komplizierter war. Andere kritische Leser mögen sich an anderen Urteilen stoßen. Aber das ist offenbar gewollt – das Buch lädt zur Diskussion ein über eine Geschichte, die immer noch nicht einfach „historisierbar“ ist.


Zum Rezensenten:
Dr. Gregor Taxacher, geb. 1963, Theologe, Redakteur und Autor in Köln.




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