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Ignaz Lozo, Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion. Köln – Weimar – Wien 2014; Böhlau-Verlag, 501 S., 39,90 €, ISBN 978-3-412-22230-7


25 Jahre nach dem Fall der Mauer wirft der politische Kurs von Wladimir Putin Fragen nach der weltgeschichtlichen Bedeutung des Zusammenbruchs des sowjetischen Imperiums auf: War er doch nicht, wie allgemein geglaubt wurde, mit einem Sieg des Westens gleichzusetzen? Befindet sich die Russische Föderation wieder auf dem Weg zu einer Diktatur? Haben wir es wieder mit einer imperialistischen Großmachtpolitik Russlands zu tun? Steht uns deswegen nach einem Vierteljahrhundert leidlich partnerschaftlicher Beziehungen eine Rückkehr zum Kalten Krieg ins Haus?

Beim Nachdenken über diese Fragen wird deutlich, dass wir im Grunde kaum wissen, was 1990/91 in der Sowjetunion geschehen ist. Die Freiheitskämpfe in den „Bruderstaaten“ der Sowjetunion sind gut bekannt und in ihrem Verlauf nachvollziehbar. Wie aber die Sowjetunion selbst zusammengebrochen ist, darüber ist wenig bekannt, und entsprechend schwierig ist die Einschätzung der Staaten und Regime, die aus ihr hervorgegangen sind.

Hier bietet das Buch des Journalisten und Historikers Ignaz Lozo Abhilfe. Es schildert die Ursachen, den Verlauf und die Ergebnisse des „August-Putsches“ gegen Gorbatschow im Sommer 1991 zum ersten Mal auf breiter Quellengrundlage und bietet damit einen Schlüssel zum Verständnis dieses Wendepunktes in der Geschichte des russischen Imperiums. Es basiert auf einer einzigartigen Quellengrundlage, die in dieser Kombination bislang noch nicht zugänglich war und bald auch nicht mehr zugänglich sein wird: Lozo ist es zum einen gelungen, ein vollständiges Exemplar der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation im Verfahren gegen die Putschisten des August 1991 zu erhalten, die in fünf Bänden Zeugenbefragungen und Dokumente aller Art auswertet. Zum anderen hat er nicht weniger als 37 Akteure und Zeugen selbst befragt, darunter manche auch mehrmals – so etwa Gorbatschow, bei dem er zweimal zur Klärung von Widersprüchen nachfragen konnte. Hinzu kommen einzelne Protokolle von Politbüro-, ZK- und Kommissionssitzungen , die ganze Fülle zeitgenössischer Medienberichte, von den Agenturnachrichten bis zu den Auftritten von Akteuren in den Fernsehdokumentationen sowie die umfangreiche, sich oft einander widersprechende Memoirenliteratur. Kritisch aufeinander bezogen, bieten diese Quellen ein zuverlässiges Bild des Geschehens – auch und gerade dort, wo Akteure darauf bedacht sind, möglichst keine Spuren zu hinterlassen. Lozo findet so einen Zugang zum Handeln der Verschwörer, wie er mit schriftlichen Quellen allein nie leistbar ist.

Ein erstes wichtiges Ergebnis der Untersuchung besteht im Nachweis des Machtverfalls Gorbatschows bereits vor dem Putsch: Nachdem die Reformer Anfang 1990 das Parteimonopol zu Fall gebracht hatten, nationale Bewegungen allenthalben für ihre Unabhängigkeit kämpften und einander widersprechende wirtschaftliche Reformen zu einer dramatischen Verschlechterung der Versorgungslage führten, sank die Popularität Gorbatschows gewaltig. Gleichzeitig erwuchs ihm mit Boris Jelzin, der sich an die Spitze der Demokratiebewegung gestellt hatte und im Mai 1990 zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der russischen Sowjetrepublik gewählt wurde, ein machtpolitischer Konkurrent, der das taktische Bündnis mit den Unabhängigkeitsbewegungen in Kauf nahm, um den eigenen Sieg wie die Durchsetzung der Demokratie in der Russischen Föderation zu sichern. Im November 1990 klage Gorbatschow in einer Sitzung des Politbüros: „Ja, ich habe nichts mehr, auf das ich mich stützen könnte! Den Apparat gibt es nicht mehr. Die Regierung steht allein für sich. Strukturen auf der Präsidentenebene gibt es nicht. Die Einzigen, an denen ich mich festhalte, seid ihr.“

Gorbatschows persönliche Tragik bestand darin, dass die Einzigen, auf die er sich noch stützen konnte, genau diejenigen waren, die ihn schließlich stürzen wollten.  Den Kern der Verschwörung bildeten KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, KPdSU-Kaderchef Oleg Schenin und Oleg Baklanow, der Chef der sowjetischen Rüstungsindustrie. Krjutschkow und der später mitagierende Verteidigungsminister Dmitri Jasow zählten zu Gorbatschows engsten Vertrauten; Schenin war erst ein Jahr vor dem Putsch, aus dem sibirischen Krasnojarsk kommend, von Gorbatschow in die zentrale Machtposition des Kaderchefs befördert worden. Den Verschwörern ging es neben der Wahrung ihrer persönlichen Machtstellung um die Wiederherstellung von „Ordnung“ und eine Verhinderung des Auseinanderfallens der Sowjetunion.  Einige hatten dabei die Sowjetunion als ihre geistige und emotionale Heimat im Blick, andere das Sowjetsystem, das sie immer noch als Ausdruck historischen Fortschritts begriffen, den man nur um den Preis des Chaos rückgängig machen konnte.

Im Einzelnen weist Lozo nach, dass eine Verhängung des Ausnahmezustandes von Gorbatschow selbst ins Gespräch gebracht worden ist, allerdings nur als Notfallmittel zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage oder bei Unruhen in der Bevölkerung, nicht als Instrument zur Wiederherstellung der alten Ordnung. Indem er die Möglichkeit einer Verhängung des Ausnahmezustands lange Zeit nicht ausschloss, trug er eine gewisse Mitverantwortung für den Putsch. Es erscheint logisch, dass die Putschisten anfangs glaubten, ihn zum Mitmachen bewegen zu können. Auslöser für die Putschaktion war die Vorverlegung der geplanten Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags vom September oder Oktober auf den 20. August 1991: Obwohl der Vertrag viele Widersprüche enthielt und der Ausgang des Systemringens damit offen blieb, war für die Verschwörer klar, dass die Sowjetunion diese Unterzeichnung auf keinen Fall überleben würde. Es war offenkundig, dass sich eine ganze Reihe von Sowjetrepubliken an dieser neuen Union nicht beteiligen würde.

Die Verschwörer hofften, von der Unpopularität Gorbatschows profitieren zu können. Sie unterschätzten aber den Grad des demokratischen Wandels, vor allem in der Hauptstadt, wo der Machtkampf letztlich entschieden wurde. Sie gingen in der Kommunikation denkbar ungeschickt vor. Und sie waren in der Frage der Zulässigkeit eines Gewalteinsatzes tief gespalten. Jasow, der zu den entschiedenen Gegnern des Gewalteinsatzes gehörte, besiegelte mit dem Abzug der Truppen aus Moskau am dritten Putschtag das Scheitern des Unternehmens. Einen Beschluss, die Machtzentrale Jelzins im „Weißen Haus“ zu stürmen, hatte es zuvor nicht gegeben. Befehlsverweigerungen und Zuwiderhandlungen von Kommandeuren vor Ort, die der damalige Kommandeur der sowjetischen Luftlandetruppen Pawel Gratschow in seinen Memoiren als Grund für das Scheitern des Putsches angibt, gehören in das Reich der Legenden. Die große Masse der Funktionäre in der Partei und in den Staatsbetrieben blieb passiv, wartete ab, wie sich der Machtkampf in Moskau entscheiden würde und schlug sich dann auf die Seite des Siegers.

Der eigentliche Gegner der Putschisten war nach Lage der Dinge nicht Gorbatschow, sondern Jelzin, der sich als unterdessen gewählter Präsident der Russischen Föderation anschickte, sich von sowjetischer Bevormundung zu lösen und die staatlichen Strukturen der Föderation über die Strukturen der Union zu stellen. Insofern war das Scheitern des Putsches gleichbedeutend mit dem definitiven Sieg Jelzins. Es war, wie Lozo schreibt, eine „politische Revolution“, mit der das Ende der sowjetischen Staatsideologie besiegelt und die Macht der KPdSU und des KGB gebrochen wurde. Gorbatschow hatte nun niemanden mehr, auf den er sich stützen konnte. Die meisten der 15 Republiken erklärten schon kurz nach dem Putsch ihre staatliche Unabhängigkeit.

Im Rückblick erscheinen das Gorbatschow-Lager und die Verschwörer nicht so weit voneinander entfernt, wie es die geläufige Wahrnehmung eines „Putschs gegen die Perestroika“ nahelegt: Beiden ging es um die Rettung der Sowjetunion, das heißt um ein Ziel, das unterdessen utopisch geworden war. Was sie einte, war eine ziemliche Ratlosigkeit, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. Unterschiedlich groß war nur die Bereitschaft, sich auf neue Formen politischer und gesellschaftlicher Organisation einzulassen. Und dann gab es noch den Unterschied in der Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt, aber hier verlief die Trennlinie nicht entlang der Lagergrenzen.

Die Schwäche der russischen Demokratie, so wird man auf der Grundlage der Ergebnisse von Lozo argumentieren können, ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass es bei der Zuspitzung der Systemkrise 1990/91 zu keiner Verständigung zwischen Gorbatschow und Jelzin gekommen ist. Die neue Ordnung beruhte folglich nicht auf einem breiten politischen Konsens, und Jelzin war als Sieger in einem polarisierten Machtkampf auch nicht in der Lage, ihn zu fördern. Vermutlich fehlte ihm auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Förderung – aber hier bedarf es weiterer Quellenstudien, um Gewissheit zu erlangen. Jedenfalls wird die weitere Entwicklung der Russischen Föderation nicht zuletzt davon abhängen, wieweit sich eine solche realistische Sicht der Leistungen und Grenzen der beiden Führer des Übergangs durchsetzt. Lozo ist da optimistisch, wenn auch nur „für die fernere Zukunft“.


Zum Rezensenten:
Wilfried Loth, geb. 1948, ist Professor em. für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.


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