Heinz Eduard Tödt, Wagnis und Fügung. Anfänge einer
theologischen Biographie. Kindheit in der Republik, Jugend im Dritten
Reich. Fünf Jahre an den Fronten des Zweiten Weltkriegs. Fünf
Jahre Gefangenschaft in sowjetrussischen Lagern, mit einer
Trauerpredigt von Wolfgang Huber, Entwürfe zur christlichen
Gesellschaftswissenschaft, Bd. 25, Münster: LIT Verlag 2012, 416
S., 39,90 Euro, ISBN 978-3-643-11345-0
Ich habe das Buch mit wachsender Spannung gelesen und war nicht zuletzt beeindruckt von dem deutlich erkennbaren Bemühen des Verfassers um Authentizität, Ehrlichkeit und Sachlichkeit. Es wird schnell deutlich, dass Heinz Eduard Tödts Werdegang in Kindheit und Jugend, Krieg und Gefangenschaft die Konstitutionsbedingungen nicht nur für eine besondere Persönlichkeit bereitstellte, sondern auch für ein außerordentliches theologisches Engagement. Als prägend erwies sich zunächst seine Herkunft aus einem schleswig-holsteinischen Pastorat, die damit verbundene lutherische Kirchlichkeit, eine Vielzahl an Geschwistern, der unaufgeregte Vater und die empathische Mutter. Durchgängig fällt ein für das jeweilige Alter hoher Grad an Selbstreflexion und Bildung auf, erwachsen in einer Atmosphäre zahlreicher geistiger Anregungen.
Auch wenn Tödt sich während des Zweiten Weltkriegs dem Sog des nationalsozialistisch inspirierten kriegerischen Abenteuers, der militärischen Herausforderungen und der soldatischen Kameradschaft nicht entziehen konnte, bewahrte er sich gleichzeitig eine innere Distanz zu den Vorgängen in der Wehrmacht. Sein eigentliches Interesse galt dem Theologiestudium und dem christlichen Glauben. Daraus ergab sich ein Spagat, den er bis zur Entlassung aus der Gefangenschaft durchgehalten zu haben scheint. Einerseits fallen ins Detail gehende Schilderungen militärischer Sachverhalte und Vorgänge auf (z.B. was Waffen und Strategie betrifft), andererseits widmet Tödt sich fast während der ganzen Zeit mit einer verblüffenden Intensität theologischen Fragen: Übersetzungen aus dem biblischen Urtext und dem Studium von Fachliteratur, soweit sie ihm greifbar ist. Die Erfahrungen in Krieg und Gefangenschaft waren prägend für seine spätere theologische Biographie. Sie weckten in Heinz Eduard Tödt, wie er selbst im Epilog des Buches schreibt, „ein vitales Interesse für die Menschen- und Grundrechte, für Völkerrecht und Friedensarbeit …, wie es traditionell nicht im Blickfeld der Theologie lag“ (S. 411). Insofern ist der Untertitel des Buches sachlich gut gewählt: „Anfänge einer theologischen Biographie.“
Die Erinnerungen Tödts lassen sich in drei Hauptteile gliedern: Kindheit und Jugend, Krieg, Kriegsgefangenschaft. Die drei Teile werden bereits im Untertitel des Buches genannt: „Kindheit in der Republik, Jugend im Dritten Reich“; „Fünf Jahre an den Fronten des Zweiten Weltkriegs“; „Fünf Jahre Kriegsgefangenschaft in sowjetrussischen Lagern.“ Dabei bildet das Kapitel über den Krieg mit fast 200 Seiten den Schwerpunkt, während die vorangestellten bzw. nachfolgenden Berichte über Kindheit und Jugend und über die Kriegsgefangenschaft jeweils etwa 90 Seiten umfassen. Alle drei Kapitel beginnen mit einem Vorwort. Kap. 2 und 3 schließen jeweils mit einem Epilog. In den Vorworten werden die Abfassungsdaten der einzelnen Abschnitte der Autobiographie angegeben. Daran wird erkennbar, dass das Buch nicht an einem Stück, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden ist. Tödt schrieb die einzelnen Teile zu unterschiedlichen Zeitpunkten und nicht in chronologischer Reihenfolge. Einzelne Abschnitte wurden mehrfach verfasst. Das meiste entstand von 1985 bis unmittelbar vor Tödts Tod 1991. Für einzelne Abschnitte griff er auf Tagebücher, eigene Briefe und die schriftlichen Erinnerungen von Mitsoldaten zurück.
Das erste Kapitel reicht von 1918–1939. Darin wird erkennbar, dass Tödt in seiner Kindheit und Jugend von einer lutherischen „Haus-Religion“ geprägt wurde, die ohne Strenge auskam. Schon Luther selbst legte mit seiner Frau Käthe und der um sie sich bildenden Großfamilie die Grundlegung für diese evangelische „Hauskirche“. Tödts Erinnerungen zeigen, dass sie im lutherischen Pfarrhaus bis zum Dritten Reich mehr oder weniger ungebrochen existiert hat. Tödt beobachtet, dass trotz dieser besonderen religiösen Prägung völkische und frühnationalsozialistische Symbolik über die Zugehörigkeit zum bürgerlichen Milieu früh in seine jugendlichen Spiele eindrang. Erstaunlich bald – 1930, im Alter von 12 Jahren – begann Tödt, weltanschaulich-politische Literatur zu lesen. Auslöser dafür war die öffentliche Auseinandersetzung des Vaters mit der nationalsozialistischen Ideologie. Tödt sieht sich im Rückblick während seiner Jugendzeit im Spannungsfeld zwischen „ernster lutherischer Kirchlichkeit“ und „einem Kopf voll von Nazi-Literatur“ (S. 44). Erst während eines Elite-Kurses an der Reichsjugendführerschule in Berlin/Potsdam 1935 kommt es zu einer ersten klaren Entscheidung: Das während des Kurses von Baldur von Schirach offenherzig geäußerte Ziel des Nationalsozialismus, die Kirche mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, und der eigene Entschluss zum Theologiestudium erscheinen Tödt als unvereinbar. In der Folgezeit erkennt er mehr und mehr „die Differenzen zwischen nationalsozialistischer Weltanschauung und christlichem Glauben“ (S. 57). Dabei wächst seine Überzeugung, dass der Aufstieg und die Macht des Nationalsozialismus nur vorübergehend sein werde, während der christliche Glaube von bleibendem Wert sei: „Das eigene künftige Leben als Erprobung für die Wahrheit und Wirklichkeitsmächtigkeit des Evangeliums – das war mein Lebensprogramm, welches mich zur Entscheidung für die Theologie veranlaßte“ (S. 63).
Das zweite Kapitel umfasst die Jahre zwischen 1939 und 1945, in denen Tödt häufig an vorderster Stelle am Kriegsgeschehen beteiligt war: zunächst in Polen, dann an der Westfront und schließlich im Krieg gegen die Sowjetunion. Tödt bemüht sich in diesem Kapitel, seine Erfahrungen während des Krieges aus der Perspektive des damaligen Zeitgenossen zu beschreiben, also ohne das Wissen, das ihm nach dem Krieg zuwuchs. Dabei scheint folgende Ambivalenz für das Verständnis seiner Kriegserinnerungen entscheidend: Auch wenn es sich bei der Welt des Krieges um „eine Welt ohne Kunst, ohne Musik und Theater, ohne Mädchen und Frauen, eine Welt, die geistige Interessen bestenfalls als private Liebhabereien duldet und als Ziele des zivilen Lebens verblassen läßt“ (S. 91), handelt, ist es doch eine Welt, die für die Entwicklung eines jungen Erwachsenen auch Chancen beinhaltet. Sie ermöglicht nämlich, außerordentliche Erfahrungen zu machen und aufgrund von auferlegter Verantwortung schnell zum Erwachsenen zu reifen.
Während der deutschen Siege in den ersten Kriegsjahren wird Tödt nicht wie viele andere vom Siegesrausch erfasst. Er ist überzeugt, dass Gott auf verborgene Weise der Herr der Geschichte sei. „Eben dieser Gott konnte sich gegen uns wenden, und dann hatte dieser Sieg vielleicht nur in die Verblendung geführt“ (S. 137). Tödt spricht von „einem Drang nach dem Außerordentlichen“ (S. 138), der ihn nicht wie viele andere mit der täglichen Pflichterfüllung des soldatischen Daseins zufrieden sein ließ. Trotz dieses Drangs fällt Tödts intensives militärisches Engagement gerade während der Kämpfe an der Ostfront auf. Er ist voll in die Kämpfe einbezogen – etwa als militärischer Befehlshaber von kleineren Einheiten. Für seine nüchterne Urteilskraft spricht, dass ihn bereits im August 1942 zunehmende Zweifel am Sieg Deutschlands befallen. Er ist überzeugt, dass „viehische Ausrottungsmethoden“ (S. 195) gegen andere Völker auch im Krieg sittlich nicht erlaubt sind. Gleichzeitig hat er Angst vor einem niederdrückenden „Super-Versailles“ (S. 195), was ihn – und viele andere kritische Soldaten – weiterkämpfen lässt. Er hält in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass er damals kaum etwas (!) von Konzentrations- und Vergasungslagern gewusst habe.
Ergreifend zu lesen, sind die Erinnerungen an den Tod des jüngsten Bruders in der unmittelbaren Nähe des eigenen Frontabschnitts und die damit verbundenen Vorwürfe, ihn nicht aufgrund der eigenen Beziehungen besser geschützt zu haben. „Es blieb nur, das Geschehene als Gottes Willen zu nehmen“ (S. 229).
Bemerkenswert ist Tödts damalige, letztlich ablehnende Stellung zum Attentatsversuch am 20.7.1944 – gerade im Hinblick auf seine spätere intensive Beschäftigung mit dem Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers. Tödt sieht trotz aller Kritik an Hitler angesichts der drohenden Niederlage Deutschlands keine reale Alternative zum nationalsozialistischen Regime (S. 239). Dazu kommt sein Gefühl, an den Eid auf Hitler gebunden zu sein.
Mitten hinein in diese Situation erhält er Ende August 1944 die Nachricht, dass ihm das Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz verliehen worden sei, einer der höchsten Orden, die ein Soldat damals erhalten konnte. Dieser Orden zeigt exemplarisch das ganze Dilemma, in dem damals Soldaten wie Tödt steckten, die das Regime innerlich ablehnen, aber gleichzeitig durch ihre militärische Tapferkeit und ihr ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein zur Verlängerung des Krieges beitrugen.
Tödt berichtet von wunderbaren Bewahrungen, die ihm letztlich das Leben retteten: So bewahrt ihn das Tragen einer Stahlschnalle am Bauch vor dem – ansonsten tödlichen – Einschlag eines Granatsplitters. Im Epilog zum Kapitel über den Krieg hält Tödt als geistliches Resümee fest: „Der Krieg, mehr noch die fünf Jahre sowjetischer Gefangenschaft wurden mir zu einer Zeit der Bestätigungen des Vertrauens auf Gottes Wirklichkeit“ (S. 281).
Das dritte und letzte Kapitel des Buches umfasst die Zeit von Sommer 1945 bis 1950 in sowjetrussischen Lagern. Es wird deutlich, dass gerade diese fünf Jahre die größten menschlichen Herausforderungen an Tödt stellten. Dazu hat nicht zuletzt die Tatsache beigetragen, dass er nun erstmals das ganze Ausmaß der Verbrechen des Hitlerregimes erfuhr (S. 302), was er als Erschütterung des Selbstwertgefühls bis in den Kern seines Menschseins erfuhr. Dazu kam die Auseinandersetzung mit dem Sowjet-Kommunismus, der alles tat, um die deutschen Gefangenen von seiner Wahrheit zu überzeugen und gleichzeitig, z.T. mit raffinierten Mitteln bis hin zu Terrormaßnahmen, gegen das Christentum kämpfte. In diesem Kampf standzuhalten, hat Tödt offensichtlich die Überzeugung geholfen, „daß zum christlichen Glauben auch das bedenkenlose eigene Eintreten, das ‚freie Bekenntnis’ gehört und daß im Grunde nur eine Situation, in der etwas auf dem Spiel steht, dazu Gelegenheit gibt“ (S. 331).
Nur verhalten erfährt der Leser von den Schwierigkeiten der Eingewöhnung des nach Deutschland entlassenen Kriegesgefangenen in das normale bürgerliche Leben: Die Rückkehr, so Tödt, war nur in beschränkter Hinsicht eine Heimkehr, der der Rückkehrer kaum oder nicht gewachsen war (S. 408).
Insgesamt ein außerordentlich fesselndes Buch, wobei die Abschnitte über Kindheit, Jugend und Krieg auf den Leser noch unmittelbarer wirken als die Erinnerungen aus der Gefangenschaft. Letztere haben stärker reflektierenden Charakter, was bereits an den thematischen Überschriften deutlich wird, durch die der Bericht gegliedert ist.
Zum Rezensenten:
Dr. Peter Zimmerling, geb. 1958, ist apl. Professor für Praktische
Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität
Leipzig.
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