Antonia Leugers
(Hg.), „Zwischen Revolutionsschock
und Schulddebatte. Münchner Katholizismus und Protestantismus im
20. Jahrhundert“ (theologie-geschichte. Beiheft 7),
Saarbrücken: Verlag Universaar, 2013, 15.80 €, ISBN
978-3-86223-059-4
In diesem Sammelband über die Rolle der beiden großen Konfessionen in München geht es – anders als der Untertitel vermuten lässt – um die beiden Nachkriegszeiten in Deutschland. Denn hier spielten die christlichen Kirchen und ihr Kirchenvolk eine besondere Rolle: Über die Deutung des Krieges bestimmten sie den aktuellen moralischen Wertekanon ihrer Nation entscheidend mit und waren beteiligt an den Weichenstellungen für die politische Zukunft ihres Landes.
Es ist das ambitionierte Projekt des interkonfessionellen Arbeitskreises Katholizismusforschung/Protestantismusforschung um die katholische Kirchenhistorikerin Antonia Leugers, dieser prominenten Rolle der Konfessionen innerhalb der Zeitgeschichte Gewicht zu verleihen. Der Arbeitskreis war im Mai 2010 im Umfeld des NS-Dokumentationszentrums entstanden, distanzierte sich aber 2012 von der neuen Leitung, deren Ausstellungskonzept die Protestanten und Katholiken in München ihrer Meinung nach marginalisiert.
Hervorzuheben sind die Aufsätze von Antonia Leugers und Angela Hermann, die belegen, dass selbst die Spitze der katholischen Kirchenhierarchie die im konservativen Münchener Bürgertum verbreiteten Ressentiments gegen Juden und Republik teilten. Antonia Leugers hat dafür als erste die Tagebücher des Erzbischofs von München und Freising, Michael Faulhaber, ausgewertet, die zwar seit 2010 der Öffentlichkeit zugänglich sind, aber kaum noch gelesen werden können, da sie in Gabelsberger Kurzschrift verfasst wurden. Sie schildert Faulhaber als Repräsentanten eines mächtigen Mehrheitskatholizismus, der sich nach dem Ersten Weltkrieg plötzlich mit den linken revolutionären Kräften in der Regierung Kurt Eisners und nach dessen Ermordung mit der Münchener Räterepublik konfrontiert sah. Das Klima in München war bestimmt von einer gewittrigen Spannung zwischen gewaltorientierten rechten Verbänden, avantgardistischen Künstlern und linken Revolutionären. Bei Faulhaber erzeugte dies vor allem eines: hypertrophe Angst. Der 1869 geborene Erzbischof war Anhänger der Monarchie und fürchtete nichts mehr als die Vernichtung von Kirche und Tradition durch die Revolution. Er vergaß zu essen und zu trinken und fühlte sich als Märtyrer einer kirchenfeindlichen Zeitströmung. Obgleich die meisten Ängste Faulhabers übertrieben gewesen sein dürften, vermögen sie doch zu erklären, wie es möglich war, dass der in der Luft liegende Geist von Unsicherheit und Gewalt auf den Erzbischof übergreifen konnte. Denn Faulhaber schreckte nicht davor zurück, rechte, paramilitärische Verbände zu unterstützen, die das Ziel hatten, die Republik zu bekämpfen.
Faulhaber, der in der Pogromstimmung 1923 öffentlich für den Schutz der „israelitischen Mitbürger“ eintrat und bis heute dafür Anerkennung genießt, hatte zudem eine antisemitische Seite. Seine Tagebucheinträge von 1918/19 zeigen, dass ihm wiederholt antisemitische Stereotype zum politischen Kommentar gerieten. So bezeichnete er die Regierung um Kurt Eisner als „Revolutionsjuden“, redete vom „Judenstaat“ oder nannte den Ministerpräsidenten wegen seiner jüdischen Herkunft Teil von jener Kraft, die Jesus gekreuzigt habe. Gestützt wird die kritische Sicht auf die katholische Kirche von Angela Hermann, die einem anderen prominenten Würdenträger antisemitische Stereotype nachweist: Der vatikanische Nuntius in München, Eugenio Pacelli, aus dem 1939 Pius XII. werden sollte, verweigerte Kurt Eisner jeglichen diplomatischen Umgang und diffamierte diesen als „Ostjuden“ oder „galizischen Juden“. Zudem benutzte Pacelli schon früh den Begriff vom „jüdischen Bolschewismus“, ein zu dieser Zeit in bürgerlichen Kreisen Münchens verbreiteter Begriff, der auf die Beteiligung von Juden an der russischen Revolution und den revolutionären Regierungen Münchens rekurrierte und zum zentralen politischen Kampfbegriff der Nationalsozialisten wurde.
Auswahl und Tenor der Aufsätze legen Ähnlichkeiten zwischen den Konfessionen nahe, so dass der Eindruck entsteht, Katholiken und Protestanten in München hätten die Weimarer Republik gleichermaßen radikal abgelehnt und deren Gegner bis hin zu den Nationalsozialisten unterstützt. Dieser Eindruck wird aber nicht durch einen systematischen Vergleich untermauert. Die Aufsätze beleuchten Fallbeispiele, die zudem in unterschiedlichen Berufsgruppen und Zeitphasen angesiedelt sind. Zwar ist durch die Studie von Derek Hastings bekannt, dass romkritische Reformkatholiken in München die NSDAP in ihrer Frühphase mitprägten. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass in der Weimarer Republik durchschnittlich doppelt so viele Protestanten die NSDAP wählten wie Katholiken.
Dagegen kann der Band für die Geschichte der christlichen Erinnerungskultur nach beiden Weltkriegen neue Impulse setzen. Während bekannt ist, dass nationalkonservative Protestanten nach dem Ersten Weltkrieg den Revanchegedanken pflegten, zeigt Leugers, dass diese Sicht auch im katholischen München verbreitet war. Sie verweist auf das Epitaph am Glockenturm der Schwabinger St. Josephskirche in Schwabing von 1925. Seine Inschrift „Invictis victi victuri“, in der Übersetzung: „Den Unbesiegten, die Besiegten, die siegen werden“, kündigt den kommenden Krieg schon an. Auch die Reden katholischer Kirchenführer sowie die katholische Publizistik der Zwischenkriegszeit sind voller Revanchegedanken, für die Leugers das Wort „Kriegsfriedensdiskurse“ geprägt hat.
Nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg waren diese „Kriegsfriedensdiskurse“ erledigt. Die Deutschen aber blieben in ihrer Selbstwahrnehmung Opfer. Dieses Mal waren es Hitler und seine Entourage, deren Opfer sie geworden waren.
Nun springen die Ähnlichkeiten zwischen den Kirchen geradezu ins Auge. Thomas Forstner und Björn Mensing kommen in ihren Aufsätzen über die katholische und die evangelische Erinnerungskultur nach 1945 zum gleichen Ergebnis: Beide Kirchen suchten ihren moralischen Führungsanspruch zu begründen, indem sie sich selbst als Opfer inszenierten oder sich sogar beim Widerstand verorteten. Gleichzeitig engagierten sie sich leidenschaftlich für die Freilassung von verurteilten Kriegsverbrechern. Hier kollidierten alte Loyalitäten und die Anpassung an die neuen politischen Verhältnisse und Werte.
Thomas Forstner zeigt, dass die katholische Kirche ihren moralischen Führungsanspruch bis heute gelegentlich mit fragwürdigen Mitteln zu sichern sucht. Mit der Heiligsprechung der katholischen Nonne Edith Stein, die freilich nicht wegen ihres katholischen Glaubens, sondern wegen ihrer jüdischen Abstammung von den Nazis ermordet wurde, versuche sie sich – so Forstner – bis heute einen legitimen Platz unter den Opfern des Holocaust zu sichern.
Fazit: Ein ambitionierter Sammelband, der in erster Linie durch die quellengesättigten Aufsätze von Leugers und Hermann den Katholizismus in München nach dem Ersten Weltkrieg anschaulich kritisieren und neu bewerten kann. Zudem setzt er Akzente für eine kirchliche Zeitgeschichte, die sich stärker als bisher dem Vergleich von Katholizismus und Protestantismus widmen sollte.
Zur Rezensentin:
Dr. Dagmar Pöpping, geb. 1964, Journalistin und Historikerin, ist
Wiss. Mitarbeiterin bei der Forschungsstelle für Kirchliche
Zeitgeschichte in München.
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