theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Volkhard Knigge (Hrsg.), Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, Band 19),  Köln/Weimar/Wien 2013, Böhlau Verlag, 203 Seiten, 26 farb. und zwei s/w-Abb., 24,90 EUR, ISBN: 978-3-412-22168-3


"Erinnerung hat Konjunktur und gilt als Königsweg der Demokratie- und Menschenrechtserziehung." (S. 7) Diese Einsicht stellt Volkhard Knigge an den Anfang dieses Sammelbandes, der die Beiträge des 11. Symposions der Stiftung Ettersberg aus dem Jahr 2012 zusammenfasst. Das Symposion sollte einen Beitrag "zur notwendigen Diskussion über Leistungen, Schieflagen und Regressionen" (S. 8) einer Erinnerungskultur leisten, die ihre Wurzeln im emanzipatorischen Protest gegen das Beschweigen der nationalsozialistischen Vergangenheit im Westdeutschland der 1960er Jahren hatte, sich im Kontext der neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahren als alternative Sicht der Geschichte kontinuierlich ausbreitete und schließlich nach 1989/90  zu einer der Leitlinien in der Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde. Vor allem die Schwächen dieses Konzepts historischer Bildung sollten beleuchtet werden.  

Der Band ist in drei Teile aufgeteilt, die den Kommunismus in Geschichtskulturen Ostmitteleuropas, den Kommunismus in Geschichtskulturen Westeuropas und den Stand und die Perspektiven erinnerungskultureller Arbeit behandeln.

Zunächst wird im ersten Teil des Sammelbandes von  Michal Kopeček  ein ausgezeichneter Überblick über Geschichtspolitik und Historiographie im postkommunistischen Ostmitteleuropa gegeben. Er streicht darin die beiden Phasen der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit in den Jahren nach 1989/90 heraus: die erste Orientierungsphase bis Mitte der 1990er Jahre, die von der Suche nach einer Legitimation der neuen politischen Ordnung geprägt war, und das anschließende erinnerungspolitische Ringen um die kommunistische Vergangenheit unter verschiedenen politischen Vorzeichen, vor allem auch das antikommunistische, rechtsgerichtete Streben nach "Ausbesserung und Wiederherstellung des 'Gedächtnisses der Nation'." (S. 17)  An den Traditionen der offiziellen Geschichtsschreibung aus der Spätphase der kommunistischen Regime, der Exil-Historiographie und der Dissidenten- oder Samisdat-Geschichtsschreibung der 1970er und 1980er Jahre anknüpfend entstanden zwei Interpretationsmuster: das liberal-republikanische, vom Mythos der Runden Tische geprägte, und das konservativ-neoliberale, bzw. konservativ-nationale, den Mythos der Runden Tische ablehnende Interpretationsmuster, das sich der Erinnerungspolitik und der "Institute für Nationales Gedenken" bemächtigte und seit den späten 1990er Jahren die Geschichtskulturen der Länder Ostmitteleuropas bestimmt.

Mit Litauen, Polen und Ungarn werden im ersten Teil drei Geschichtskulturen Ostmitteleuropas und ihre Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Erbe paradigmatisch und in recht unterschiedlicher Zielsetzung und Qualität behandelt. Der Beitrag von Antanas Gailius über Litauen ist ein literarischer Text, keine historische Darstellung, die zudem eklatante Fehler enthält. So schreibt er, »dass kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Europa sich gezwungen sah, im Kampf gegen den Nationalsozialismus eine Allianz mit dem Kommunismus einzugehen.« (S. 39) Der Hitler-Stalin-Pakt wird hier in der retrospektiven Erinnerung des Schriftstellers kurzerhand unterschlagen. Marek Zybura schildert dagegen minutiös die Auseinandersetzung polnischer Intellektueller und Oppositioneller mit dem kommunistischen Regime seit Beginn der 1950er Jahre, die Folgen des Runden Tisches und des dort geschlossenen Kompromisses von Liberalen und Stalinisten und die Rückkehr der Ex-Kommunisten an die Macht 1993 für die Durchsetzung des liberalen Geschichtsbildes und die Nicht-Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen in Polen. Schließlich geht er pointiert auf die Bedeutung des 1998 gegründeten »Instituts für Nationales Gedenken« für die konservative Kaczyński-Partei ein, die dieses Amt der Erinnerungspolitik konsequent instrumentalisierte, um unliebsamer politische Gegner zu eliminieren. Was bleibt, ist die unaufgearbeitete jüngere Vergangenheit Polens. Joachim von Puttkamer schließlich schildert die historischen Implikationen des im Zusammenhang mit der Verabschiedung der neuen ungarischen Verfassung 2012 in Auftrag gegebenen Bilderzyklus, der die jüngere ungarische Geschichte in 15 Gemälden illustrieren soll und Ungarn ausschließlich als Opfer nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft stilisiert. Die ungarische Kollaboration wird dabei konsequent erinnerungspolitisch ausgeblendet.

Im Mittelteil des Sammelbandes berichten Gilbert Merlio und Torsten Oppelland über den Kommunismus in den Geschichtskulturen Frankreichs und Deutschlands. Merlio streicht die Gründe für die Stärke der französischen kommunistischen Partei nach 1945 heraus, die Ursachen für den Niedergang der Partei bis Mitte der 1990er Jahre und die anhaltende Weigerung weiter Teile der französischen Gesellschaft, sich mit den Verbrechen des Kommunismus auseinanderzusetzen. Oppelland schildert, wie sehr die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in Deutschland von dem europäisch-historischen Sonderfall der nationalen Teilung zwischen 1945 und 1989/90 bestimmt ist. Diese Konstellation führte zur Herausbildung konträrer Interpretationsmuster von Antikommunisten, "Utopiebewahrern" und Ahnungslosen bzw. Indifferenten, die bis heute die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in Deutschland bestimmen.

Im dritten Teil beleuchten Martin Sabrow, Waltraud Schreiber, Harald Welzer und Volkhard Knigge Chancen und Schwächen eines erinnerungskulturellen Zugangs zur Gedenkstättenarbeit. Sabrow stellt den Zeitzeugen als Figur der Zeitgeschichte vor und erhellt seinen Funktionswandel vom Träger einer demokratischen Gegenerzählung von unten im Kontext der gesellschaftlichen Protestbewegungen hin zum affirmativen Belegspender medialer Geschichtsinszenierungen der Gegenwart. Schreiber schildert die Probleme der Gedenkstättenarbeit für die 'post-mémoire'-Generation. In dem Maße, wie die Gedenkstätten Zukunftsorientierung durch Erinnerung schaffen sollen und wesentliche Impulse dafür aus den Zeugnissen der Opferzeitzeugen erhalten, wird das Aussterben der Zeitzeugen zum Problem. Schreiber plädiert dafür, dass die Gedenkstättenarbeit wieder Sache der »Gedenkstättenpädagogen« werden müsse, deren Aufgabe es sei, der nachwachsenden Generation verständlich zu machen, »worin die Brüche des 20. Jahrhunderts bestanden haben, womit die beiden Diktaturen gebrochen haben und was zu verteidigen und bewahren auch ihrer eigenen Generation aufgegeben ist«. (S. 162) Welzer wendet sich dem Problem der reflexiven Erinnerungskultur zu und lotet aus, welche Chancen für eine »historisch-moralische Bildung« bestehen, die einerseits über das historische Geschehen aufklären und gleichzeitig zur Ausbildung von Persönlichkeiten führen soll, »die sich gegenüber Massen und völkermörderischer Gewalt widerständig verhalten können.« (S. 163) Er weist nachdrücklich darauf hin, wie sehr genozidale Gesellschaften auf die Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung gestoßen sind und wie rasch sich die moralischen Grundüberzeugungen der »normalen« Bürger im Kontext dieser Gesellschaften gewandelt haben. Es komme darauf an, über die Referenzrahmen verbrecherischer Gesellschaften und über die hemmenden Faktoren für prosoziales Verhalten in diesen Kontexten aufzuklären. Von zentraler Bedeutung sei dabei: “das schlichte und alternativlose Festhalten an rechtsstaatlichen Prinzipien unter allen Bedingungen und die Verpflichtung, jeder Aufweichung solcher Prinzipien entschlossen entgegenzutreten." (S. 171) Knigge spitzt schließlich die Fragestellung auf die Alternative zu: Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? Nicht zuletzt mit Blick auf die Aufarbeitung der Geschichte der DDR, bei der der erinnerungskulturelle Ansatz aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West in eine Sackgasse führt, plädiert er für eine reflexiv-geschichtsbewusste Aufarbeitung der Vergangenheit, die einzig in der Lage ist, die Zukunftsfähigkeit der Gedenkstättenarbeit sicherzustellen.

Der Band bietet mit Blick auf die Kommunismusforschung, erinnerungskultureller Geschichtsschreibung und die Gedenkstättenarbeit perspektivreiche und inspirierende Sondierungen in verschiedene Richtungen an, zeigt stets die Parallelen zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit auf und kann die Diskussion um das "Lernen aus heilloser Geschichte" produktiv beleben.


Zum Rezensenten:

Dr. August H. Leugers-Scherzberg, geb. 1958, Historiker und katholischer Theologe, Herausgeber von theologie.geschichte, vertritt z.Zt. den Lehrstuhl  im Fach Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität des Saarlandes.






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