Ulrich Dittmann
„Das Bethlehem der Hitler-Bewegung“. Wie christliche Motive in
Sprache und Werk der NS-Literaten das Jahr 1933 vorbereiteten.
Die Nationalsozialisten haben mit den erstaunlich differenziert aufgebauten NS-Rednerschulen schon vor 1933 nach der Sprache gegriffen und sich der Vokabeln und literarischen Themen bemächtigt. Umso unverständlicher erscheint es, dass man für das Münchner NS-Doku-Zentrum – soweit bisher verlautet – die NS-Sprache nicht berücksichtigen will. Immerhin liegen seit 1998 und weiterhin seit 2007 und 2009 umfangreiche Wörterbücher[1] über die NS-Zeit und ihre sprachlichen Traditionen vor. Dennoch hat das Thema wissenschaftlich derzeit keine Konjunktur. Ich habe als Erster die beiden jüngeren Bücher im germanistischen Seminar der Universität München benutzt.
Was ich im folgenden belegen möchte, stelle ich an den Anfang: Lange vor der politischen setzte eine „linguistische Machtergreifung“ ein, davor eine breite „linguistische Mobilmachung“. Den Begriff der „linguistischen Machtergreifung“ verdanke ich Peter Schneiders Rückblick auf das Jahr 1968[2]; Schneider erinnerte mich an eine in der eigenen Biographie erlebte, harmlosere Parallele, die von Mao- und Marx-Zitaten bis in den schleppenden Tonfall des New-Speak die Teach-ins bestimmte. Der martialische Begriff der linguistischen „Machtergreifung“ ist also nicht an 1933 gebunden und wurde nicht um des Effektes willen für heute erfunden. Auch nach 1945 dachten die Instanzen der Re-Education über die Macht der Wörter nach, und verbannten populär gewordene Hitler-Prägungen wie die stereotype Adjektiv-Verbindung „jüdisch-demokratisch“. Im Vergleich zu den für den 30. Januar 1933 vorgeschlagenen Begriffen wie „Machtübernahme“ oder „Machterschleichung“ scheint er mir dem langfristigen Vorgang planmäßiger Besetzung einzelner Vokabeln gerade durch sprachmächtige Autoren angemessen. Auch weil „Machtergreifung“ erst 1934 lexikalisiert wurde und der Begriff damit aus dem Zentrum der NS-Sprache stammt, könnte ihm eine metaphorische Erweiterung bekommen.
Abgrenzen möchte ich mein Beobachtungsfeld vom Jargon. Mir geht es statt um Modewörter um ideologische Veränderungen und Verfestigungen der Semantik, wie etwa gegenwärtig beim Übergang von „Versager“ und „Loser“ zu „Opfer“.
Im Folgenden beobachte ich zwei linguistische Aspekte: Ich verfolge 1. Stationen einer Wortgeschichte und 2. ein semantisches Feld der literarischen Sprache. Für beide Aspekte blicke ich auch auf die Zeit nach der NS-Zeit – beide bleiben aktuell.
Mein wortgeschichtliches Beispiel liegt noch außerhalb des eigentlichen Themas, illustriert aber die gemeinte Macht: Es geht um das Wort „Ausmerze“; „ausmerzen“ erklärt das Deutsche Wörterbuch als Bezeichnung der im März stattfinden Auslese von Zuchtschafen und der Schlachtung zur Zucht unwerter Tiere. In der Neuauflage des Deutschen Wörterbuchs der Gebrüder Grimm[3] steht eine ergänzende Erklärung: „mit aufkommen des nationalsozialismus auch auf das töten von menschen/menschengruppen im sinne von ausrotten bezogen“. Zeit- und systemtypisch erweiterte man die metaphorische Verwendung für Objekte wie Ausmerzung von Fehlern etc. auf Menschen, die, auf ihr Erbgut reduziert, der reinen Rasse schaden könnten.
Unter meinen Belegen steht der anspruchsvollste in Kurt Hildebrandts Schrift „Norm und Entartung des Menschen“ von 1920. Er findet sich wie die folgenden Belege nicht in den genannten Wörterbüchern, ergänzt sie aber. Hildebrandt gehörte zur dritten, der jüngsten Generation der Stefan-George-Jünger, er galt als ein besonders enger Vertrauter des Meisters und war im Kreis nicht unumstritten. „Norm und Entartung des Menschen“ war von Stefan George abgesegnet worden, Hildebrandt hatte sie 1911 bis 1916 erarbeitet. Orientiert an Kraepelin, Rüdin & Weismann plädiert Hildebrandt in einem nicht mehr nur medizinisch-eugenischen Sinn für „die Ausmerze des Defektmenschen“(S. 238); „keine Humanität kann die Ausmerze ausmerzen“(S. 239). Damit ist der Weg geebnet, von Humanität zukünftig als „Scheinhumanität“(S. 272) zu reden und der „Ausmerze“ zum Gesetzesrang in der NS-Zeit zu verhelfen.
Thomas Mann las Hildebrandt im Jahr 1921 und notierte am 1. August sehr anerkennende Worte im Tagebuch. Erst in den Sommertagen 1922 änderte er seine Meinung, er formulierte die Zustimmung zur Deutschen Republik, die ausdrücklich über eine bloße Feier der Gesundheit hinausgeht. Das oben zitierte Deutsche Wörterbuch belegt eine Verwendung des Wortes „ausmerzen“ aus dem „Zauberberg“: Mann will „menschliches Leid ausmerzen“. Damit verwirft er seine ehemalige Zustimmung zu Hildebrandt. Während Mann die Republik-Rede in Berlin hielt, musste er sich übrigens mehrfach gegen Unmutsäußerungen einer national gesinnten „Jungmannschaft“ behaupten.
Getragen von derartigen akademischen Mehrheits-Tendenzen machte Kurt Hildebrand – unhabilitiert, aber erfolgreich gegen diverse Widerstände – in der NS-Zeit Karriere: Er wurde Professor für Philosophie in Kiel und konnte nach 1945, zwar ohne Lehrstuhl in der BRD weiter publizieren. In der DDR waren seine Bücher dagegen unerwünschtes Schrifttum.
Dass Thomas Mann trotz seiner hohen Sprachbewusstheit doch dem Vokabular der NS-Macht verfiel, belegt sein Tagebuch-Eintrag vom 5. Mai 1945: Er hält es für unmöglich, „eine Million Menschen hinzurichten, ohne die Methoden der Nazis nachzuahmen. Es sind aber rund eine Million, die ausgemerzt werden müßten. Meiner Meinung nach gehörten Menschen wie Haushofer, Johst, Vesper dazu.“ Ohne Anführungszeichen steht da die NS-Vokabel. Ob die vorangegangene Erwähnung der NS-Methoden einen solchen Wortgebrauch relativiert, bleibt dem Wohlwollen der Leser überlassen. Für mich war die Begegnung mit diesem Tagebucheintrag ein Schock. Ich hatte über Thomas Manns Sprachbewusstsein promoviert und kann mir eine solche Erwähnung bei meiner semantischen Instanz, dem denkscharfen Karl Kraus, nicht vorstellen. „Ausmerzen“ gehört in jedem Fall ins „Wörterbuch des Unmenschen“, auch wenn es bei diesem im Jahr 1957 erschienenen sprachkritischen Werk noch fehlt. Immerhin stellen zwei jüngere Wörterbücher zur NS-Sprache das Wort in den „Giftschrank“, wie ein Internet-Blogger verbreitet. Paul Celan schwieg zwei Tage, wenn in Hörweite das Wort EINSATZ mit personalem Objekt fiel[4].
Den Abschluss meiner kleinen Wortgeschichte liefert mir noch einmal das Internet: „In einem Prozess im Frühjahr 1970 wurde Springer als Zeuge gefragt, ob ihm die ‚böswillige Berichterstattung’ seiner Blätter [...] bekannt sei: ‚Nein’, antwortete Springer, sagte dann aber doch, dass er den Satz der Berliner Morgenpost, demzufolge man ‚Störenfriede ausmerzen’ müsse, nicht billige: ‚Das Wort ausmerzen ist eine Entgleisung.’“ Stoiber dagegen verwendete das Wort unbekümmert, wie Eitz/Stötzel belegen – das ist Bayern. Übrigens fehlt im neuen Grimm von 2007 der Begriff AUSMERZE, eine - wie mir scheint - berechtigte redaktionelle Verbannung des NS-Worts aus der Deutschen Sprache.
Mit einem der Autoren, die Thomas Mann als „auszumerzende“ aufzählt, gehe ich vom 1., dem lexikalischen, zum 2., dem literarischen Aspekt, meiner Beobachtungen über. Von Hanns Johst, dem frühen Nazi und hochdekorierten Präsident der Reichsschrifttumskammer stammt die Metapher im Titel meines Aufsatzes und mit ihr lande ich bei unserem genius loci, der Frage nach christlichen Motiven in der Literatur.
Mein Titelzitat steht in Johsts Werk „Maske und Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten von Deutschland nach Deutschland“, das 1935 in München erschienen und Heinrich Himmler gewidmet ist. Johsts Reise führt nach Wittenberg, wo er Luther pathetisch mit doppeltem Ausrufezeichen begrüßt, dem Protestantismus seither aber neue Impulse abspricht. Weiter reist er über Bitterfeld, Leipzig, Nürnberg nach München, wo er nach einem Opernbesuch die Ludwigstraße auf und ab geht:
„Vom Siegestor pendle ich zurück zur Feldherrnhalle. Der dröhnende Stundenschlag fällt vom Turm der Theatinerkirche und zersplittert auf dem Odeonsplatz. Hier ist das Bethlehem der Hitler-Bewegung. Wieder suchte ein Herodes die Geburt zu vernichten, und wieder wollte es die Fügung anders. [...] Wer an das Evangelium von Blut und Boden glaubt, tut gut, ehe er das Vaterland verläßt, diese Stätte aufzusuchen, an deren Altar das erste Blutopfer gebracht wurde für eine Weltanschauung, die das Gesicht der Welt verändern wird.“(S.15ff.)
Johsts Reise endet mit dem Empfang bei Hitler. Er schließt mit zwei Gedichten, deren erstes angeblich in den Novembertagen 1918 geschrieben wurde, das andere „Jetzt“. Im ersten steht: „Du, mein gekreuzigtes Volk [... ich will] In der Stunde der Scham [...] deiner Monstranz dienender Diener sein ...“. Im zweiten, „Dem Führer“ gewidmet, heißt es „Und Führer und Himmel sind ein Gesicht. [...] Und Volk und Führer sind vermählt. Das Dritte Reich versteint, gestählt,/ Steht festgefügt im Morgenglanz,/ Umbaut als köstlichste Monstranz/Dein glücklichstes Lächeln, mein Führer!“(S.207ff.) Eine rhetorische Analyse etwa der Bethlehem- und Herodes Antonomasien, die ein weltreligiöses Ereignis auf einen nur nationalen Misserfolg aufpfropfen und das „Evangelium einer welterobernden Weltanschauung“ kreieren, erspare ich Ihnen. Vielsagend erscheint mir, dass Johst mit Nonchalance die Konfessionsgrenzen überspringt, mit dem Reformator beginnt, dessen Werk erst von der neuen Zeit eingelöst wird, und mit der katholischen Monstranz endet, die das Führer-Lächeln als Allerheiligstes, als Hostie, birgt. Was heute blasphemisch anmuten mag, war mit den NS-typischen Superlativen als ernste Feier gemeint, obwohl man sicher auch schon damals das nach den Wallfahrtsbräuchen modellierte metaphorische Gebräu einer Prozession zur Feldherrnhalle, die auch Krippe in Bethlehem ist, nicht ohne Komik wahrnahm.
Johst bediente sich des uneigentlichen Sprechens, das man unter dem Begriff der „kühnen Metapher“ fasst: einer aus unvereinbaren Wirklichkeitsbereichen - Glaube und Politik - schöpfenden sprachlichen Ersetzung. Mit welchem Ziel? Man kann darin eine Steigerung in höchste Sphären, zu größter Wertigkeit sehen. Albrecht Schöne erkennt „konkurrierende Nachbildungen“; für meine funktionalistische Sicht bilden die christlichen Übernahmen eine Art Gleitmittel für die Ideologie. Diese zielte auf das christlich geprägte Publikum, das mehrheitlich sonntags die Kirche besuchte. Die einschlägigen Motive und Vokabeln werden nicht kontrafaktorisch gebrochen oder satirisch verzerrt, sondern eins zu eins eingesetzt. Man danke an Brechts ganz anderes Vorgehen im „Dankchoral“ und anderen Chorälen.
Ruth Klüger beobachtete, dass das, was ich Gleitmittel nenne, in der Literatur weit zu-rückreicht: Karl May lässt 1893 den Winnetou vor seinem Sterben ein Bekenntnis zum Christentum ablegen und dem deutschen Old Shatterhand noch näherkommen: Für Karl May bildet „Christentum“: „ zusammen mit dem Deutschtum den eigentlichen Kern und die Kraft der weißen Kultur“. Will Vesper, der umtriebige NS-Literatur-Funktionär, verfährt wie Karl May: Im vielgelesenen Wikingerroman „Das harte Geschlecht“ von 1931, macht er kurz vor Schluss aus den nach Gesetzen der Selbstjustiz dutzendfach für die Familienehre mordenden Isländern Christen. Drei gealterte Helden wallfahrten nach Rom und kommentieren die ihnen auf der Reise erzählte Bibel. Sie stimmen der Zerstreuung der Juden „unter fremde Herrschaft“ zu und begeistern sich für die Jünger, „die treuen Gefolgsmannen ihres Herrn“. Am Schluss des Buches fordert ein zum Christen gewordener Isländer seine Frau auf: „Nun schenke mir Jungens, daß die gute Rasse nicht ausstirbt.“ Diesen Satz zitieren Angehörige der Flakhelfergeneration noch heute aus dem Stegreif.
Victor Klemperer, der als Philologe auf der Basis seiner Tagebücher sein „LTI. Die unbewältigte Sprache“ schreiben konnte, wundert sich, im Tagebuch der Etikettierung von Hitlers „Mein Kampf“ als „heiliges Buch “nicht nachgegangen zu sein, erklärt aber retrospektiv, dieser Ausdruck wäre „gar zu selbstverständlich und alltagstauglich“[5] gewesen. Sein Kommentar zum „Vergottungston“: „der Nazismus wurde von Millionen als Evangelium hingenommen, weil er sich der Sprache des Evangeliums bediente“. Mag man auch „Glaubenssehnsucht und religiöse Bereitschaft bei einigen Initiatoren der Lehre“ voraussetzen, Fundament war eine christlich geprägte Gesellschaft, in der man sich keine Gedanken um die machtergriffene Sprache machte. Karl Kraus war verpönt.
Ein frühes literarisches Zeugnis von kritisch – statt der bei Karl May affirmativ – adaptierten christlichen Motiven stammt von Thomas Mann. Es ist die 1904 entstandene Erzählung „Beim Propheten“[6]. Die realistische Künstlererzählung beschreibt eine genau datierbare Karfreitags-Lesung in Schwabing. Titelgestalt ist ein Stefan-George-Jünger der ersten Generation. Er ist die kritisch gesehene Gegenfigur zum Novellisten, einem Selbstporträt Thomas Manns, der diesen George-Jünger 1947 im Faustus-Roman[7] noch einmal als exemplarisch präfaschistische Gestalt auftreten lässt. Das Verhältnis zwischen diesem Literaten und seinen verstummten, zu keiner Kommunikation willigen noch fähigen Zuhörern wirft die Frage nach der Funktion von Sprache generell auf: Hier verweigert sie sich jedem Dialog. Sie besteht aus „Thesen, Gesetzen [...] tagesbefehlartigen Aufrufen“, die „Armut und Keuschheit“, „unbedingten Gehorsam“ – also Ideale von Mönchsorden – und dazu noch die Todesbereitschaft „zur Unterwerfung des Erdballs“ fordern. Und das im Namen von Christus imperator maximus. Die vielen Imperative gelten den Zuhörern als interessante Avantgarde-Dichtung. Dass mit ihnen, d e r exemplarischen NS-Syntax – eine diktatorische Literatur, nein, in der NS-Zeit: gesetzgebende ‚Dichtung’ präfigurierte, dass im George-Kreis die unbedingte Unterwerfung unter den Meister und die Einordnung in sein Reich zum Programm der Jünger gehörte, wurde als Ästhetik unbedingter Normativität akzeptiert. Der Anbahnung von später universalisierten sozialen Ordnungen des Kreises stellten sich nur wenige entgegen. Der selbsternannte Seher faszinierte, er verlangte etwas Höheres über dem Alltäglichen zu suchen. Als nationalen Vorzug schätzte man solche Suche nach Höherem lange als art-eigenen Vorzug – sei es die blaue Blume, „Gott, König und Vaterland“ oder der als gottgesandt verstandene Führer. Jean Améry resümiert: „Es ist das deutsche Volk, das immer den Führer und den Meister will, das auch im geistigen Bereich zur Vergötzung neigt und dergestalt Erscheinungen wie Hauptmann oder Stefan George erst möglich macht“[8]*
Seine extreme Ausformulierung fand dieser nationale Vorzug in Erwin Guido Kolben-heyers Paracelsus-Roman, der dreibändig zwischen 1917 und 1925 erschien und auf ein „ECCE INGENIUM TEUTONICUM“ – die Feier deutscher SEHNSUCHT – endet.
Der intelligente Artikel in Reclams Roman-Lexikon zu diesem Autor fasst zusammen:
„Am Anfang aller drei Bände steht eine Begegnung zwischen Christus und dem germanischen Gott Wotan, die allegorisch auf die intendierte Verschmelzung christlich-religiöser und germanisch-nationaler Mythologeme hinweist. Heute ist der Roman nur mehr von historischem Interesse, demonstriert er doch anschaulich die ideologische Vorbereitung der kommenden politischen Katastrophe Deutschlands durch nationalkonservative Literaten.“[9]
Zwei Stilproben mögen die stilistische Ansprüchlichkeit demonstrieren, hinter der viele empfängliche Leser die endgültige Deutung deutscher Geschichte vermuteten. Aus dem zehnseitigen, in zwei Punkt größerer Schrift gedruckten Vorspann des ersten Bandes:
„der Wanderer [das ist Wotan] stand aufgerichtet neben dem Bettler [Christus]. [...]. Ein leiser Hohn spielte um seinen Mund, und die Augen unter der mürrischen Stirn blieben gesenkt. ‚Sie werden dein Latein meistern und fortwerfen. Aber nicht, weil du es willst. Ich bin bei ihnen gewesen, ehe du bei ihnen warst. Sie können nicht satt werden’. Der Bettler breitete demutsvoll die Arme, sein Wundmale flossen, und seine Lippen lächelten verklärt. ‚Sie mögen mich also kreuzigen, da sie sich selber kreuzigen!’ ‚Sie werdens. Es ist kein Volk wie dieses, das keine Götter h a t und ewig verlangt den Gott zu schauen.’ Nach diesen Worten umarmten sie einander.“
Der Vorspann zu Band drei mit dem Titel „Das dritte Reich des Paracelsus“ endet:
„Mittag und Mitternacht, der Abend und der Aufgang [das heißt aus allen Himmelsrichtungen] fließt der Völker Haß und Begierde auf dieses Volk der Mitte, das auch das Volk der Blutesmitte ist, da gleichermaßen unentkeimtes Leben, nachdrängend von tausend Geschlechtern her, in ihm selbst zur Blüte treibt [...] Dieses Volk muß steigen und fallen wie Ebbe und Flut, wie Tal und Gipfel, und es ist kein Fall so tief, daß dieses Volkes Sehnsucht sich nicht höher aus dem Grunde erhöbe, als aller Völker Sehnsuchtstraum reicht, und es ist kein Gipfel so hoch, daß dieses Volkes wühlendes Wesen nicht ruhelos in alle Tiefen müßte.“
Erwin Guido Kolbenheyer, der vorausahnend 1932 nach München umgezogen war, stand noch lange nach 1945 auf den bayrischen Lehrplänen. Er wurde mir 1955 von meinem Deutschlehrer Fritz Stippel, später Professor für Pädagogik, ans Herz gelegt, um mich von der Thomas-Mann-Lektüre – „Krull“ war erschienen – abzubringen.
Schließen möchte ich mit einem anderen Schulmann: mit Josef Kurz, dem legendären Direktor des Münchner Luisengymnasiums. Er stellte seine Erinnerungen unter den Titel „Aber Du warst doch Soldat! - War ich nicht auch ein Christ?“ Er zitiert aus seinen Kriegstagebüchern Sätze, über die er sich wunderte und freute, über die er aber auch erschrocken war. Im Brief eines nach Russland abkommandierten Freundes steht: „ich war noch bei den Sakramenten, und hab dann mein Adsum gesprochen: Herr hier bin ich. Du kannst mich haben für Dich!“. Dieses Zitat des Freundes Fritz kommentierte der junge Sepp Kurz im Tagebuch: „Ihm ist die Fahrt, vor der er diese Zeilen schrieb, dann auch wirklich die Fahrt zum Herrgott geworden“. Und als der 79-jährige sein Tagebuch liest, bemerkt er: Da wird „die Fahrt in den Krieg und in den Tod religiös frisiert. Ein Beispiel, wie religiöses Denken dem Krieg und damit dem NS-System verfügbar wurde.“ [10]
Statt weiterer Beispiele schließe ich mit einer Frage: Wie konnte es kommen, dass bei den Entnazifizierungsverfahren die Berufung auf den christlichen Glauben der Betroffenen so schwer wog? In seinen Anstrengungen, Hans Globke zu entlasten, schrieb Theodor Eschenburg ihm die „ruhige Sicherheit des Strenggläubigen“[11] zu. Gibt es da die Symmetrie zum Beginn einer NS-Karriere?
Zum Autor:
Dr. Ulrich Dittmann, geb. 1937, Literaturwissenschaftler und
Vorsitzender der Oskar Maria Graf-Gesellschaft e.V.
[1] Cornelia
Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus,
Berlin New York 1998; 2. durchgesehene Auflage 2007; Thorsten
Eitz/Georg Stölzel, Wörterbuch zur
„Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im
öffentlichen Sprachgebrauch, Hildesheim u. a. 2009
[2] Peter Schneider,
Rebellion und Wahn. Mein ’68. Eine
autobiographische Erzählung, Köln 2008, S. 208
[3] Deutsches
Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.
Neubearbeitung hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften u.a., 3. Bd, Stuttgart 2007, Sp. 1230f.
[4] Mündliche
Mitteilung von Elmar Tophoven.
[5] Victor Klemperer,
„LTI“. Die unbewältigte Sprache,
München 1969 (dtv 575), S. 118f.
[6] Thomas Mann,
Gesammelte Werke in 12 Bänden, Bd VIII,
Frankfurt/M. 1960, S. 362-370.
[7] Thomas Mann, Gesammelte
Werke in 12 Bänden, Bd VI, S. 483
[8] Jean Améry,
Gerhart Hauptmann. Der Ewige Deutsche,
Mühlacker 1963, S. 115
[9] Martina
Wagner-Egelhaaf, E. G. Kolbenheyer: Paracelsus, in:
Reclams Romanlexikon. Bd 3: 20. Jahrhundert I, Stuttgart 1999, S.
296-298. – Kolbenheyer und Hildebrandt treffen sich in der Verwendung
des für beide maßgeblichen, pseudowissenschaftlichen
Plasma-Begriffs, der Vorstellung einer Vitalitäts-Ursuppe, die
durch Rassenmischung Schaden leidet.
[10] Josef Kurz,
„Aber Du warst doch Soldat!“ War ich nicht
auch ein Christ? Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Reflexionen des
Soldaten Sepp K., Linz ²2003, S. 140-143.
[11] In: DIE ZEIT vom 10.
März 1961.
–www.zeit.de/1961/11/globke-im-sturm-der- zeiten/seite2
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