Jonas Binkle
Missbrauch einer anderen Welt – Germanische
Mythologie und
Rechtsextremismus. Tagung vom 22.- 23. November 2013 in Worms und der
KZ-Gedenkstätte Osthofen
Am 22. und 23. November fand eine öffentliche Tagung zum Thema
„Germanische Mythologie und Rechtsextremismus. Missbrauch
einer anderen
Welt“ statt, welche von der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms
e.V. in
Kooperation mit dem Nibelungenmuseum Worms, der Stadt Worms, der
Landeszentrale für politische Bildung, sowie dem
Förderverein
Projekt Osthofen e.V. veranstaltet wurde.
Am Freitagabend, dem 22. November, eröffnete der Vorsitzende des Fördervereins Projekt Osthofen e.v. und der Nibelungengesellschaft, Volker Gallé, die Tagung. Gallé, seit 2004 Kulturkoordinator der Stadt Worms, führte in die Thematik anhand der momentan boomenden Living history -Bewegung ein. Diese stelle mit dem Anspruch auf Authentizität und historische Korrektheit zumeist mittelalterliche Feste oder Schlachten nach. In der sog. Aachener Erklärung (2008) [1] bekenne sich die Living history-Bewegung zu den Werten des Grundgesetzes und zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität. Dass dies nicht selbstverständlich sei, zeige die Anziehungskraft der Living history-Bewegung und von Brauchtumsveranstaltungen allgemein für rechtsorientierte oder sogar rechtsextreme Gruppen.
Daraus ergäben sich die Fragen, warum man einen Teil deutscher Identität solchen Gruppen überlasse, und warum die germanische Mythologie diesen eine Plattform biete. Die Beantwortung dieser Fragen setzt eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Fachgebiete voraus.
Nach der Begrüßung folgte der Einführungsvortrag des Germanisten Georg Schuppener (Erfurt) zum Thema „Mit Odin für Volk und Vaterland – der Missbrauch germanischer Mythologie im Rechtsextremismus“.
Schuppener erklärte die Grundzüge der germanischen Götterwelt und Mythologie [2], und verdeutlichte in einem zweiten Schritt deren Rezeption zur Zeit des Nationalsozialismus und im heutigen Rechtsextremismus. „Rechtsextremismus“ dient hier als Sammelbegriff für unterschiedliche Strömungen, denen gemeinsam ist, dass sie zur Identitätsbildung auf völkisches Gedankengut zurückgreifen, insb. auf die Vorstellung einer überlegenen Herrenrasse (= Arier) und feindlicher „minderwertiger“ Rassen. Schuppener zeigte auf, dass in vielen politischen Bereichen und Parteien Zeichensysteme benutzt würden, der Rechtsextremismus allerdings der einzige Bereich sei, der seine Botschaft durch die Aufnahme germanischer Mythologie zum Ausdruck bringe. Um den „völkischen“ Kampf gegen die Demokratie darzustellen, bedienten sich rechtsextreme Kreise beispielsweise des Bildes von Ragnarök, des „Götteruntergangs“, um „das erklärte Ziel der Abschaffung des demokratischen Systems in Form einer gewaltsamen ‚nationalen Revolution‘ zu chiffrieren“[3]. Dieses offensichtlich antidemokratische Ziel und dessen klare Ausformulierung ist nach §86 StGB verboten. Da die germanische Mythologie allerdings nicht als solche geschützt ist, kann der Rechtsextremismus sie wie geschildert benutzen, d.h. missbrauchen.
Am Beispiel der abgebildeten Titelseite der Declaration of War, einer mittlerweile aufgelösten Zeitschrift aus rechtsextremen Kreisen der Region Sachsen, lässt sich dieser Missbrauch erkennen:
Abb.: Umschlag der Zeitschrift „Declaration of War“, Nr. 1 (2005) [4].
Das historische
Beispiel wird aus seinem zeitlichen Kontext gerissen
und umgedeutet. Diese Strategie funktioniert offensichtlich, denn der
Begriff des „Germanentums“ ist in der
Öffentlichkeit schon
zu einem negativen, ja sogar rechtsextrem konnotierten Begriff
geworden. Im zweiten Teil des Vortrags illustrierte Schuppener seine
Ergebnisse am Beispiel zahlreicher Internetnutzernamen, Bandnamen und
Logos.
Am Samstag, dem 23. November, wurde die Tagung im ehemaligen Konzentrationslager Osthofen im gleichnamigen Ortsteil fortgesetzt.
Außenansicht auf die Gebäude des ehemaligen KZ Osthofen Bildrechte: Jonas Binkle
Außenansicht auf die Gebäude des ehemaligen KZ Osthofen Bildrechte: Jonas Binkle
Dieses KZ, in dem vor allem politische Gegner des NS-Regimes 1933/34
erniedrigt, gefoltert und zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden, ist durch
die zahlreichen Projekte des Fördervereins ein besonderer Ort
der
Aufarbeitung der Vergangenheit geworden.[5].
Den Anfang machte der Experte der germanischen Mythologie Rudolf
Simek zum Thema „Germanische
Mythologie – Forschungsstand
und
aktuelle Rezeption am Beispiel der rechten Szene“. Seit 1995
ist Rudolf
Simek, der auch eine theologische Ausbildung besitzt (Magisterabschluss
1981), Professor und Lehrstuhlinhaber für Ältere
Germanistik
mit Einschluss des Elbischen an der Universität Bonn und
Herausgeber der altgermanistischen Reihe Studia Medievalia
Septentrionalia [6].
Simek brachte den Teilnehmenden den aktuellen
Forschungsstand zur Kultur und zu den Lebensverhältnissen
„der“
Germanen im skandinavischen Raum anhand neuer Erkenntnisse zu
Schlachtriten, den Funden sog. Goldgubber [7] und der
Erkenntnis,
dass die Lebensweise der Germanen vielerorts durch Multifunktionsorte
gekennzeichnet war, nahe. Als Beispiel für letzteres kann der
klassische „Hof“ angeführt werden, der
nicht nur als
Fürstenresidenz, sondern vielerorts auch mit seinen Hallen
einem
kultischen Verwendungszweck diente. Das Fazit des ersten Teils besagte,
dass die germanische Mythologie keine zentralisierte, systematische
Religion im heutigen Sinne sei, sondern ein polyfunktionaler und
multizentraler Kultus. Dass die rechte Szene solche wissenschaftlichen
Erkenntnisse ausblende, machte Simek am Mythos der Eddas klar: Diese
werden oft als germanische Ur-Quellen verklärt, obwohl es sich
um
eine literarisierte, „gelehrte“ Mythologie des
Hochmittelalters
handele, welche die germanische Mythologie gerade nicht in
„Reinform“
wiedergebe, sondern sie gebrauche, um eine Art
„Handbuch“ für den
christlichen mittelalterlichen Schriftsteller zu schaffen. Diese
Erkenntnis werde im rechtsextremen Kontext ignoriert, ebenso wie die
Vielfältigkeit der mythologischen Konzeptionen. Allerdings
würden diese Forschungsergebnisse von der
Öffentlichkeit
ebenfalls nicht wahrgenommen. Dies wäre auch eine Antwort auf
die
Frage, warum man den Rechten diesen Teil deutscher Identität
überlässt. Ausgehend von den Vorüberlegungen
Schuppeners
zeigte Simek, dass die germanische Mythologie im Rechtsextremismus oft
dazu verwendet werde, einen „Artglauben“, d.h. ein
völkisch-rassisches und sozial-biologistisches Ideal zum
Ausdruck
zu bringen. Die Pflege eines solchen Artglaubens zeige sich
auch
in der Aufnahme von Runen, mit der eine Brücke zum
Nationalsozialismus geschlagen werden solle. [8] Die
wissenschaftliche Erkenntnis, dass die bisherigen Runenfunde allesamt
aus der christlichen Zeit stammen, werde dabei verdrängt.
Abschließend wies Simek darauf hin, dass im rechtsextremen
Spektrum neben Göttergestalten (Odin, Wotan und Thor) einzelne
Mytheme [9]
(Valhall, Ragnarök, s.o.) aufgegriffen
würden, ohne dass darin eine tiefere spirituelle Absicht
liege.
Rechtsextreme Kreise könnten dies tun, weil der
Forschungsstand
zur germanischen Mythologie in der Öffentlichkeit
nicht
bekannt sei und die „braune Färbung“ der
Thematik unreflektiert
hingenommen werde. Daher hat Simek das Projekt „Pre-Christian
Religions
of the North“ ins Leben gerufen, in dem er und andere
Kollegen
wissenschaftlich gesicherte Quellen, Texte und Sachobjekte für
die
breite Öffentlichkeit im Internet zugänglich machen,
damit
sich das Bild über die germanische Mythologie ändert.
[10]
Inwieweit die Sichtbarkeit von Ritualen im
öffentlichen Raum
Meinungen beeinflusst, zeigte der Vortrag von Burckhard
Dücker,
Professor für Deutsche Philologie am Germanistischen Seminar
Heidelberg: „Zum Traditionsrahmen aktueller Symbole und
Rituale
rechtsextremer Organisationen“. Dücker zeigte, dass
Rituale als
Zeichenhandlungen auf zwei Ebenen, der sozialen und der symbolischen,
verstanden werden müssen, und illustrierte dies am Beispiel
des
„Rudolf-Heß-Gedenkmarsches“. Dieser wird
von rechtsextremen
Kreisen am oder um den Tag des Selbstmordes von Rudolf Heß
(1894
– 1987) am 17. August 1987 in Form einer feierlichen
Prozession
abgehalten. Heß, seit 1933 „Stellvertreter des
Führers in
Parteiangelegenheiten“, wurde in den Nürnberger
Prozessen gegen
die Hauptverbrecher des Nationalsozialismus in zwei von vier
Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen
Freiheitsstrafe im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau
verurteilt, in deren Verlauf er sich am 17. August 1987 das Leben nahm
[11].
1988 zum ersten Mal
organisiert und an der
Begräbnisstätte in Wunsiedel (Oberfranken)
abgehalten,
wechselte der Marsch in ganz Europa immer wieder seine
„Location“, bis
er 2001 wieder als eine öffentliche Demonstration in Wunsiedel
durchgeführt wurde, bei der über 2.500 Akteure der
rechtsextremen Szene anwesend waren [12].
Dies nahm Dücker als
Beispiel um zu erklären, wie ein repetitives Ritualverhalten
der
Akteure und der situativ zustande gekommenen Gegner (in diesem Fall die
Gegendemonstranten des „Marsches“) funktioniert:
Das Totenritual werde
in bewusster Nachahmung des während der NS-Herrschaft
alljährlichen Marsches auf die Feldherrnhalle am 9. November
zu
Ehren der „Blutzeugen der Bewegung“ (der
am 9. November 1923
getöteten Nationalsozialisten) durch das Medium des
„Marschierens“
vollzogen . Dadurch werde klar, dass die Beteiligung des Akteurs ein
wertexplizites Handeln darstelle, weil Rituale aktiv zu einem Bekennen
von Werten aufforderten. Rituale seien vor allem
kontinuitätsorientiert, weshalb die Organisatoren beider
beteiligter Fraktionen (Demonstranten und Gegendemonstranten)
versuchten, jedes Jahr erneut Stellung zu nehmen. Rahmen der Handlung
sei der öffentliche Raum, und die Art der Demonstrationen
impliziere, dass es nur ein Entweder-Oder gebe. Auch der Begriff des
„Kameraden“ greife auf die nationalsozialistische
Definition
zurück und helfe, auf die heutige Situation
übertragen, die
„an sich bedeutungslose Anzahl nationalistisch motivierter
Helfer [zu]
überzeichne[n] und [zu] ‚veredel[n]‘,
indem deren
möglicherweise engagiertes, im Grunde aber folgenloses und
unbemerktes Sandsackschleppen mit einem höheren Sinn versehen
wird“[13].
Der
modernisierte Begriff schlägt sich auch in
zahlreichen Namen von Kameradschaften, örtlichen Vereinen und
deren Wappen (meist in Kreisform) nieder. Auch die Schrift soll in
einen Bezug zum NS-Traditionsrahmen gesetzt werden, da Plakate,
Slogans, etc. oft in Fraktur geschrieben werden um einen direkten
Verweis auf das Dritte Reich zu erzeugen. Dies wird unreflektiert
vorgenommen, ohne zu bedenken, dass ab 1940/41 von offizieller Seite
die Benutzung von Fraktur im Deutschen Reich anfangs umstritten war und
später für öffentliche Dokumente sogar
untersagt wurde.
Dies zeigt auch die Tatsache, dass 1941 der Duden letztmalig in Fraktur
erschien. Dieser einfache Umstand wird nicht wahrgenommen oder bewusst
ignoriert.
Der nächste Vortrag befasste sich mit einem wesentlichen
Element
von Ritualen, der Musik. Der Soziologe (M.A.) und
Diplom-Sozialpädagoge Martin
Langebach, Referent des Vereins
Argumente und Kultur
gegen Rechts e.
V., stellte mit seinem Vortrag
„Germanische Mythologie in der rechten
Musikszene“ seine
hervorragende Kenntnis der rechten Musikszene, vor allem innerhalb der
Musikrichtungen Metal im Allgemeinen und Black Metal im Besonderen
[14]
unter Beweis.
Langebach war zudem jahrelang inkognito auf
solchen Konzerten und hat seine Erkenntnisse unter dem Pseudonym
Christian Dornbusch veröffentlicht. Der Vortrag gliederte sich
in
drei Teile: eine kurze Einführung in Rechtsrock und die
dazugehörige Szene, eine Betrachtung der wiederkehrenden
Motive
von Heidentum und Germanentum in der „klassischen“
Rechtsrockszene und
einen abschließenden Exkurs zu Einflüssen in Black
und Pagan
Metal.
Der Rechtsrock artikuliere genre-unspezifisch
vor allem einen
sozial-darwinistischen Biologismus mit Hilfe von Texten, die einen
direkten oder indirekten Bezug zum Antisemitismus und zu dem schon
angesprochenen Artglauben
(s.o.) herstellten. Kennzeichen der „Szene“
seien ein gemeinsamer Freizeit- und Lebensstil. Die Ideologie bilde
dafür die Basis, ohne jedoch klar ausformuliert zu werden.
Langebach nimmt an, dass jährlich zwischen 110 und 115
Neuveröffentlichungen deutscher
„Rechts-Rock“ Bands erscheinen,
und stellte die Frage, wie diese mit der Thematik des Heidentums und
der germanischen Mythologie umgingen. Drei Aspekte seien hier
stellvertretend genannt. Unter dem Slogan „Odin statt
Jesus“ wird dem
als schwächlich bezeichneten Konzept der
jüdisch-christlichen
Nächstenliebe ein verklärtes
kämpferisch-germanisches
Ideal entgegengestellt. Hier sei beispielhaft das Lied
„Walvater Wotan“
der Band „Landser“ genannt. Der Verweis auf das
Germanentum diene
auch hier der Vereinnahmung und Instrumentalisierung für die
eigenen Zwecke. Das schon angesprochene Motiv des Kampfes um Valhalla
wird in Musiktexten auf einen aktuellen Kampf projiziert. Im dritten
Punkt zeigte Langebach, wie es speziell im Metal-Bereich zu dieser
Übernahme kam: Ausgehend von der Heavy-Metal-Welle der 80er
Jahre
prägte sich durch die Aufnahme okkultistisch- satanistischer
Texte
(genannt seien hier Bands wie Venom
und Mercyful Fate)
ein
gewisses
Selbstverständnis heraus. Dies entwickelte sich in Teilen
weiter
und verband sich mit der rechten Szene, die versucht, die von ihnen
interpretierten christlichen Dualismusvorstellungen von Himmel und
Hölle in ein germanisch-mythologisches System umzuwandeln. Im
Zuge
dessen kam es in Norwegen 1992-95 zu Sachbeschädigungen,
Morden
und Brandstiftungen an Kirchen, welche auch auf Deutschland
übergriffen. Die Band „Absurd“ bspw.
verfolgte das Ziel, eine
transnationale, pan-germanische Kampfgemeinschaft zu generieren
[15].
Langebach zog das
Fazit, dass die „jugendkulturellen
Vorzeichen“ der Musikszene zu einer Reanimierung
und sogar
Neuerfindung
der germanischen Mythologie führten. Vor allem
männliche
Jugendliche in der Adoleszenz-Phase seien dafür zu begeistern
(s.u.). Klar herausgestellt wurde, dass dies keineswegs die Mehrheit
der „Metaller“ darstellt, sondern nur einen kleinen
Bruchteil. Trotzdem
müsste m. E. in diesen Bereichen intensive
Sensibilisierungsarbeit
geleistet werden.
Anschließend sprach der Gesellschafts- und
Medienwissenschaftler
Franz-Josef Röll (Darmstadt) „Zur
Funktion und Bedeutung
von
Mythen für die Identitätsbildung von
Jugendlichen“.
Zunächst führte er anschaulich in das Thema
„Identität
im Medienzeitalter“ ein, um ein zentrales Handlungsfeld im
Umgang mit
Jugendlichen darzustellen: Das Leben in einer, wie er es nennt,
„professionellen
Schizophrenie“.
Dieser Ausdruck macht klar, dass
Kinder und Jugendliche im Zeitalter von Internet und Smart Phones eine
fragmentale
Identität
ausbilden. Sie haben keinen für sie
festgeschriebenen Verortungspunkt mehr wie bspw. Familie oder einen
festgesetzten Freundeskreis. Stattdessen bildet sich ihre
Identität aus verschiedensten Gebieten heraus; dabei dienen
die
Medien als Leitfiguren. Röll zeigte anschaulich, dass das
Motto
„Ich schaffe mir meinen eigenen Mythos!“
vorherrschend ist. Auf dem Weg
zur mehrgliedrigen Selbstidentifikation lebe jedes Kind in einem
„konzentrisch
aufgebauten Lebensbild“,
welches mehrere „Kreise“
umfasse. Auf der Suche nach community
orientiere es sich an von
Gemeinschaften gestifteten Perspektiven, die nicht nur einen momentanen
Trend widerspiegelten, sondern auch in der Geschichte vorherrschend
seien. Die Germanen bezeichneten solche communities als
Sippen,
die Römer als Gentes. Gemeint sind Gemeinschaften von sich
einander zugehörig fühlenden Mitgliedern. Auf der
Suche nach
Anerkennung, Gemeinschaftsgefühl und Selbstdarstellung binde
sich
das Kind/ der Jugendliche an mehrere dieser Interessensgemeinschaften,
welche durch die fragmentale – also aus verschiedenen
Bereichen
zusammengesetzte - Identität sehr verschieden ausfallen
könnten [16]. Als
Zwischenerkenntnisse des Vortrages
können genannt werden:
(1) Die Identität Jugendlicher will sich permanent selbst erschaffen und darstellen.
(2) Die Suche nach Identität provoziert die Herstellung einer geschlossenen Wertegemeinschaft.
Mit Recht bezeichnete Röll diese Aspekte auch als „Zeichen der Postmoderne und der Übernationalität“. Diese beiden Punkte liefern zudem eine Begründung für die Attraktivität der rechtsextremen Szene für Jugendliche, eröffnen gleichzeitig aber auch die Möglichkeiten der Anknüpfung und Hilfe: Auf der Suche nach Halt und Orientierung an einem geschlossenen Wertebild versuche ein Jugendlicher, beides im Bereich des Rechtsextremismus zu finden; gleichzeitig vermittele der Rechtsextremismus dem Jugendlichen Halt und biete ihm ein geschlossenes Wertesystem, sodass seine Suche beendet scheine. Weil die Identität sich allerdings permanent neu konstituiere, müsse man den Jugendlichen durch aktive Unterstützung den Weg für ein alternatives, demokratischeres System offen halten. Röll schloss seinen Vortrag mit der Forderung, dass man Jugendliche, die auf der Orientierungssuche in rechtsextreme Gruppen geraten sind, immer eine Tür offen halten sollte. Diese These kann zugleich als Gesamtfazit der Tagung angesehen werden.
In einem letzten Schritt fragte der Soziologe und Sozialpsychologe Sebastian Winter (Bielefeld) in seinem Vortrag „Sozialpsychologie rechtsextremer Jugendlicher“, wie sich Rechtsextremismus v.a. bei Jugendlichen psychologisch erklären lässt [17]. Er schilderte, wie sich zwei Strömungen innerhalb der psychoanalytischen Forschung mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben. Die Theorie des autoritären Charakters besagte, dass eine historisch herausgebildete Familienform zu autoritären Erziehungsmethoden führe, die für die Herausbildung eines autoritären Sozialcharakters verantwortlich seien. Im frühkindlichen Alter sei der junge und „schwache“ Mensch starken Aggressionen ausgesetzt. Die später empfundenen Aggressionen gegenüber dem System entlüden sich dann im fortgeschrittenen Alter ebenfalls an Schwächeren. Diese Theorie bilde eine geschlossene Kreisstruktur und laufe Gefahr, eine eindimensionale Erklärung abzugeben.
Der zweite Weg stelle eine andere Grundthese auf und sehe das entscheidende Moment in der Situationsabhängigkeit. Essentiell sei die Auswertung des sog. Milgram-Experimentes von 1961, benannt nach dem Psychologen Stanley Milgram: “The experiment involved forty males who each took on the role of a “teacher” who delivered electric shocks to a “learner” when they answered a question incorrectly. Though the “teacher” believed that he was delivering real shocks, the “learner” was actually part of Milgram’s research team and only pretended to be in pain. The “learner” would implore the “teacher” to stop the shocks and the “teacher” would be encouraged to continue despite the learner’s pleas.”[18]. Das Ergebnis zeigte, dass viele „Lehrer” unter Widerwillen die imaginären Stromstöße bis hin zu einem (vermeintlich) tödlichen Ausgang weiter erteilten. Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass jeder Mensch situationsabhängig in der Lage ist, Schmerzen zu verursachen, sollte es von einer oberen Instanz angeordnet werden. Die Erziehung spielt hierbei keine entscheidende Rolle.
Aus der Gegenüberstellung beider Theorien ergebe sich ein neuer Aspekt: das „symbolische Sinnstiftungsmuster“. In der konfliktreichen Phase der Adoleszenz sei der Heranwachsende auf der Suche nach der Deutung des eigenen Seins. In genau dieser Zeit (welche nicht unbedingt mit der Phase der körperlichen Pubertät gleichzusetzen ist) könne der Rechtsextremismus eine „affektive Sogwirkung auf den Adoleszenten“ ausüben, indem er eine absolute Identität durch die Gemeinschaft verspreche. Dabei komme es zu einer Projektion des gesuchten „Heils“ auf die rechtsextreme Gemeinschaft. Die den Jugendlichen bedrängenden Konflikte (Liebes- und Familienprobleme, Arbeitslosigkeit, Schulprobleme etc.) würden dagegen nach außen - außerhalb dieser Heilsgemeinschaft - verlagert. So entstünden Feindbilder („der reiche Jude“, „der faule Ausländer“, etc.) als Ergebnis der Konfliktbewältigung. Im Zuge dieser Konfliktbewältigung mit Hilfe der rechtsextremen Gemeinschaft werde die Identität des Einzelnen sowie die der Gemeinschaft mit Hilfe der germanischen Mythologie ausgedrückt. Der kriegerische Wotan werde dadurch beispielsweise zum Gegenpol der Postmoderne. Abschließend betonte Winter, dass Adoleszenten ein alternatives Sinnstiftungsmuster angeboten werden oder die Herausbildung eines solchen gefördert werden könne und müsse. Dazu müsse man die Zeit der „progressiven Omnipotenz“ der Adoleszenten nutzen, um deren Kreativität zu fördern.
Die anschließende Diskussion brachte die äußerst interessante Frage auf, inwiefern Projektionsmuster wie Fremdenhass und Antisemitismus wissenschaftlich als Operatoren dargestellt und ausgewertet werden können. Ob und inwiefern hierbei Deutschland und eine „deutsche Identität nach Auschwitz“ einen Sonderfall darstellt, konnte leider nicht besprochen werden.
Im Anschluss an die Vorträge fanden Workshops von Referenten und Expertengruppen statt, deren Ergebnisse ebenfalls veröffentlicht werden sollen. Im Herbst 2014 soll der Tagungsband im Worms Verlag erscheinen. Über neue Termine, Veröffentlichungen und weitere Arbeiten sei auf die dafür eingerichtete Website verwiesen[19].
Zum Autor:
Jonas Binkle, geb. 11.05.1993, studiert Evangelische Theologie und
Geschichte an der Universität des Saarlandes, ist
Studentischer
Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neues Testament und Mitarbeiter
des
Projektes „Saarländische Biografien“ der
Kommission für
saarländische Landesgeschichte.
[1]
http://www.livehistory.de/aachener_erklaerung/ Zugriff 27.11.2013
[2]
Vgl. Rudolf Simek, Lexikon
der germanischen Mythologie,
Stuttgart
32006.
[3]
Georg Schuppener, Der
Missbrauch germanischer Mythologie in der
Sprache des Rechtsextremismus, in: Ders. (Hrsg.), Sprache des
Rechtsextremismus. Spezifika der Sprache rechtsextremistischer
Publikationen und rechter Musik. Leipzig 22010, S. 25-52,
hier
S. 44.
[4]
Umschlag der
Zeitschrift „Declaration of War“ 01 (2005),
entnommen: Schuppener (Hrsg.), Sprache des Rechtsextremismus, S. 206,
Abb. 2. Vielen Dank an Herrn Schuppener, der mir die Verwendung dieser
Abbildung ermöglicht hat.
[5]
Für einen
geschichtlichen Überblick sowie Projekte und
Ausstellungen vgl. die Broschüre „25
Jahre (1986-2011)“ des
Fördervereins Projekt Osthofen e.V. Osthofen 2011.
[6]http://www.germanistik.uni-bonn.de/institut/abteilungen/skandinavische-sprachen-und-literaturen/forschung/fachzeitschriften/studia-medievalia-septentrionalia-sms-1
Zugriff 30.11.2013
[7]
Goldgubber sind
kleinstteilige, aus Goldblech bestehende
Fürstenfiguren mit religiöser Bedeutung. Mittlerweile
sind
ca. 3.500 Stücke gefunden und editiert worden.
[8]
Bestes Beispiel
hierfür ist die „Schwarze Sonne“, ein
Bodenornament bestehend aus zwölf Siegrunen, eingefasst in ein
Sonnenrad, welches im Zuge der Umbauarbeiten der Wewelsburg durch die
SS in den ehemaligen Obergruppensaal eingesetzt wurde.
[9]
Mytheme bezeichnen eine
kleinere Einheit innerhalb mythologischer
Konzepte, z.B. die Götterschlacht Ragnarök. Diese
konstitutiven Einheiten sind nach dem Ethnologen Claude
Lévi-Strauss „not the isolated relations but
bundles of such
relations [Hervorhebung im Original] and it is only as bundles that
these relations can be put to use and combined so as to produce a
meaning”. Diese bundles (Bündel) dürfen
nicht isoliert
betrachtet werden. Genau dieser strukturelle Missbrauch allerdings wird
von den rechtsextremen Rezeptionen begangen. Vgl. Claude
Lévi-Strauss, The Structural Study of Myth, in: Journal of
American Folklore 68 (270), S. 428-444, Zitat S. 431.
Online
Resource:
http://www.rlwclarke.net/Theory/SourcesPrimary/Levi-StraussStructuralStudyofMyth.pdf
Zugriff 30.11.2013
[10]
https://www.abdn.ac.uk/skaldic/db.php?table=myth&if=myth
Zugriff 30.11.2013
[11]
Vgl. zur Person und
Biographie: Kurt Pätzold/ Manfred
Weißbecker, Rudolf
Heß.
Der Mann an Hitlers Seite. Leipzig
1999.
[12]
Vgl. dazu Thomas
Dörfler, Andreas Klärner, Der
„Rudol-Heß-Gedenkmarsch“ in Wunsiedel.
Rekonstruktion eines
nationalistischen Phantasmas, in: Zeitschrift
des Hamburger Instituts
für Sozialforschung Mittelweg 36, 04/2004, S.
74-91. Online
Ressource verfügbar:
http://www.rechtsextremismusforschung.de/Doerfler-Klaerner_wunsiedel2004.pdf
Zugriff 30.11.2013
[13]
Dörfler/Klärner, „Rudolf-Heß-Gedenkmarsch”,
S.
80.
[14]
Christian
Dornbusch/Hans Peter Killgus, Unheilige
Allianzen.
Black Metal zwischen Satanismus, Heidentum und Neonazismus.
Reihe
antifaschistischer Texte, UNRAST-Verlag, Hamburg/Münster 2005;
Michael Moyniha/Didrik Søderlind, Lords of Chaos. The Bloody
Rise of the Satanic Metal Underground, Venice, CA, 1998.
Seit
2002 auch
in deutscher Übersetzung erhältlich (Dies.,
Lords of
Chaos. Satanischer Metal, ein blutiger Aufstieg aus dem Untergrund.
Erschienen im Index/Promedia Wittlich Verlag)
[15]
Verwiesen sei an
dieser Stelle nur auf den Abschnitt Die
Absurd-Story, in: Dornbusch/Kilguss, Unheilige
Allianzen, S.148-167.
[16]
Klar
nachzuvollziehen war dies anhand eines Beispiels von
Röll: In Internet-Rollenspielen (Massive(ly) Multiplayer
Online
Role-Playing Game, kurz: MMORPG’s) schließen sich
Mitglieder
verschiedenster Herkunft in wörtlichen
„Gilden“ zusammen, um
gemeinsam virtuelle Abenteuer zu bestreiten.
[17]
Sebastian
Winter, Geschlechter-
und
Sexualitätsentwürfe in der SS Zeitung Das Schwarze
Korps.
Eine psychoanalytisch- sozialpsychologische Studie, Reihe
Forschung
Psychosozial 2, Gießen 2013.
[18]
Pressemitteilung
„50th Anniversary of Stanley Milgram’s
Obedience Experiments” vom 24. August 2011 der Association of
Psychological Science, Online Ressource:
http://www.psychologicalscience.org/index.php/news/releases/50th-anniversary-of-stanley-milgrams-obedience-experiments.html
Zugriff 4.12.2013
[19]
http://www.projektosthofen-gedenkstaette.de/index.php?page=186
Zugriff 14.01.2013
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