Gutachten und Diskussionsbeiträge zu René Buchholz, Gegendiskurse. Jüdische Antworten auf das Christentum in der frühen Moderne
Übersicht:
Gutachten:
1. Prof.
Reiner Wimmer,
Konstanz
Diskussionsbeiträge:
Gutachten
1. Prof.
Reiner
Wimmer, Konstanz
Über die Arbeit von René Buchholz habe ich mich sehr gefreut. Sie machte mich auf klare und kenntnisreiche Art mit den im Einzelnen ganz unterschiedlichen Versuchen von Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts vertraut, sich des traditionellen, zunächst theologisch motivierten, dann aber auch kulturell und politisch sanktionierten Überlegenheitsgefühls des Christentums gegenüber dem Judentum zu erwehren. Nach der zu Beginn des 19. Jahrhunderts meist nur zaghaft gewährten und dann in der Restauration zwischen 1815 und 1848 teilweise auch wieder zurückgenommenen bürgerlichen Gleichstellung der Juden hatten diese sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine solche kulturelle Präsenz in Deutschland erarbeitet, dass sich auch die jüdische Theologie und die von Juden betriebene ‚Wissenschaft des Judentums‘ Hoffnung machen konnten, bei den geistigen Repräsentanten der sie umgebenden, dem Anspruch nach christlichen Mehrheitskultur Gehör zu finden. Zugleich mit dem kulturellen und religiösen Selbstbewusstsein des deutschen Judentums wuchs allerdings auch der nun weniger aus theologischen als vielmehr aus biologistischen Wurzeln gespeiste Antisemitismus in Deutschland, der den Nährboden für die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus – die Shoah – abgeben sollte. Buchholz zeigt nun zweierlei, nämlich dass 1. die jüdischen „Gegendiskurse“ sich teilweise derselben gedanklichen Mittel wie ihr christliches Pendant zum Nachweis nun der jüdischen Überlegenheit bedienten und dass 2. die christliche Seite von diesen Bemühungen so gut wie gar keine Notiz nahm. Was damals versäumt wurde, lässt sich nicht mehr nachholen. Aber man kann von den Versäumnissen für die Gegenwart und die Zukunft lernen. Inwiefern?
Buchholz weist zu Recht darauf hin, dass essenzialistische Ansätze, die nach dem ‚Wesen‘ des Christentums und dem ‚Wesen‘ des Judentums fragen, nicht weiterführen – ein interessanter Blick in die Gegenwart und in die Vergangenheit jüdischen und christlichen Lebens und Glaubens deckt eine Überfülle an Weisen auf, dieses Leben zu führen und diesen Glauben zu füllen. Oft scheinen die Ähnlichkeiten zwischen manchen jüdischen und manchen christlichen Glaubens- und Lebensweisen sogar größer zu sein als innerhalb derselben ‚Konfession‘. Trotzdem wird man auf eine Minimalbestimmung dessen, was man ‚jüdisch‘ und was man ‚christlich‘ nennen möchte, nicht verzichten können, wenn man miteinander spricht und die eigene Identität ins Spiel bringt und die andere Identität ins Spiel kommt. Über solche Minimalbestimmungen wird man sich dann allerdings in wechselseitigem Austausch verständigen müssen. Verständigung bedeutet aber nicht Übernahme der Identität des Anderen, bedeutet nicht ipso facto Zustimmung zum Wahrheitsanspruch seiner Position, sondern zunächst einmal nur Klärung der Identitäten und Positionen, dann aber auch gegenseitige Achtung und Anerkennung im Sinne wechselseitiger Toleranz. Toleranz bedeutet ja nicht den Verzicht auf den eigenen Wahrheitsanspruch oder das Nicht-Ernstnehmen des Wahrheitsanspruchs des Anderen, sondern Bereitschaft, dessen Position ‚gelten‘ – d.h. stehen – zu lassen trotz des Dissenses. (Allerdings lehnen manche christlichen und manche jüdischen Gruppierungen nicht nur das interreligiöse Gespräch, sondern sogar das Gespräch unter ihresgleichen ab; man lebt nebeneinander her, aneinander vorbei oder separiert sich sogar räumlich voneinander in getrennten Stadtteilen oder Siedlungen. Demgegenüber hofften die jüdischen „Gegendiskurse“ des 19. Jahrhunderts auf Resonanz nicht nur in den eigenen Reihen, sondern auch außerhalb ihrer.) So verstehe ich Buchholz‘ Unternehmen nicht als theologiehistorisches l’art pour l’art, sondern als eine Einladung an die christliche Theologie und an die Christen, sich dem Judentum als (Wahrheit beanspruchende) Religion (und nicht etwa nur als Folklore) zuzuwenden, seinen religiösen und theologischen (auch seinen christentumskritischen) Anspruch ernst zu nehmen. Solche Zuwendung besteht in der Umkehr der Blickrichtung und in der fortgesetzten Reinigung des Blicks von ihm selbst oft verborgenen Verfärbungen und Verstellungen durch Vorurteile und Kenntnismängel. Dabei muss das Gegenüber helfen. Es ist schwer, die Kritik des Anderen wahrzunehmen und auszuhalten – das lehrt Buchholz‘ Essay –, aber sie ist notwendig, weil mir die blinden, die täuschenden und die verzerrenden Flecken in meinem Auge ohne den kritischen Blick des Anderen verborgen bleiben. Solche durch die fremde Kritik vermittelte Selbstkritik steht im Dienst der Wahrheit und der Liebe. Solcher Dienst kann natürlich nur in wirklicher Begegnung geschehen. Dann aber ist schon die Begegnung selbst wechselseitige Bereicherung!
Der in gegenseitiger Achtung zu führende Streit zwischen Juden und Christen dreht sich in erster Linie um das Verständnis der Person Jesu, und zwar um sein christliches Verständnis als Inkarnation Gottes. Anders als im 19. Jahrhundert drehen sich die Kontroversen heute nicht mehr um Jesu Judentum und um Jesu Moral bzw. Ethik als angeblich dem Judentum seiner Zeit überlegen. In diesen beiden Punkten wird man den „Gegendiskursen“ jener jüdischen Forscher, die Buchholz namhaft macht, uneingeschränkt recht geben müssen. Was auch von jüdischer Seite manchmal eingeräumt oder voller Bewunderung herausgestellt wird, ist der durch die Evangelien von Jesus vermittelte Eindruck als einer außerordentlichen, ja exemplarischen Persönlichkeit. Doch an diesem Punkt tut sich eine gewisse Ambivalenz auf: Die Evangelien sprechen davon, dass Jesus sich durch Gott selbst zur Sündenvergebung bevollmächtigt fühlte; sie sprechen von Jesu Anspruch, dass in seinen Worten und Taten die Herrschaft Gottes selbst angebrochen sei, die Erlösung und Heimholung der Menschen in Gottes Reich begonnen habe; sie sprechen von Jesu Errettung durch Gott vom Tode und von seiner Aufnahme bei Gott. Die paulinische, die johanneische und die frühchristliche Glaubensverkündigung haben daraus die Gottgleichheit Jesu gefolgert. In der Tat, Judentum und Christentum sind – trotz ihrer ganz unterschiedlichen Entwicklung seit der Antike – „Geschwisterreligionen“. Wenn man die ganz unterschiedliche Entwicklung des jüdischen und des christlichen Phänotyps einmal als letztlich unmaßgeblich dahingestellt sein lässt, so wird man doch den harten Kern ihrer Verschiedenheit so nicht relativieren können und dürfen. Um ihn muss das zukünftige theologische Gespräch vor allem gehen.
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