Gutachten und Diskussionsbeiträge zu Gregor
Taxacher, Kollektivvergebung statt Kollektivschuld? Ein Zwischenruf
Übersicht:
Gutachten:
1. Ralf K.
Wüstenberg, Flensburg
2. Wolfgang
Raupach, Hannover
Diskussionsbeiträge:
Gutachten
1. Ralf
K.
Wüstenberg, Flensburg
Gutachten zu Gregor Taxacher: Kollektivvergebung
statt Kollektivschuld
Der „Zwischenruf“ setzt sich pointiert kritisch mit Positionen in
der theologischen und philosophischen Ethik auseinander und
plädiert angesichts von Beispielen wie der südafrikanischen
Wahrheitskommission für eine „teure Versöhnungspraxis“, die
Vergebung unter den eschatologischen Vorbehalt des Gerichts Gottes
stellt.
Nicht gutachterlich bewertet werden kann die Adäquanz der
Wiedergabe der Positionen von Kodalle, Tück, Striet. Das
Gefälle in der Darstellung dieser Positionen ist sehr dezidiert;
vielleicht kann bei der Finalisierung des Beitrags ein
differenzierterer Ton angeschlagen werden, der seinerseits die
Argumentation des Autors für die Leser annehmbarer macht. Die
Darstellung der südafrikanischen Wahrheitskommission ist
angemessen; in der Sachlogik des Beitrags dient sie offenkundig dazu,
deutlich zu machen, dass und warum es eines „Forums der Vergebung“ (J.
Zehner) im „Vorletzten“ (Bonhoeffer) bedarf, also der
tatsächlichen Begegnung zwischen Täter und Opfer (und damit
verbunden Strukturelementen auf dem Versöhnungsweg, etwa neben der
Vergebungsbereitschaft der Opfer eben auch Schuldeingeständnis auf
Seiten des Täters etc.). Es könnte für die Letztfassung
des Beitrags nützlich sein, darauf hinzuweisen, dass die
südafrikanische Wahrheitskommission nach ihrem Mandat (lediglich)
den Auftrag hatte, zur Versöhnung beizutragen (sie also nicht
herbeiführen zu müssen). Es wird also – theologisch
interpretiert – dem eschatologischen Charakter der Versöhnung ein
Raum offen gelassen. (In meinen eigenen Untersuchungen habe ich bei den
wenigen gelungenen Momenten von Versöhnung im (sprachlichen)
Anschluss an Peter L. Berger von „Transzendenzzeichen“ gesprochen: das
Letzte bricht in das Vorletzte ein, ist sichtbar, kann aber nicht
festgehalten werden). Weiter könnte das südafrikanische
Beispiel im Sinne des Verfassers ein Beispiel dafür liefern, dass
Versöhnungsprozesse „in den vorletzten Dingen“ (auch) theologisch
notwendig unvollendet, unvollkommen bleiben dürfen.
Die Positionen von Bonhoeffer, Kellenbach und Krondorfer sind
angemessen dargestellt worden. Plausibel und theologisch adäquat
erscheint, wo dem eschatologischen Vorbehalt Vorrang vor jedem
Vergebungsappell gegeben wird. Insgesamt spiegelt sich in den
inzwischen breit angelegten theologischen Studien zu politischen
Transformationsvorgängen ein Paradigmenwechsel innerhalb der
politischen Ethik: An die Stelle von Appellen und Imperativen tritt
zunehmend eine theologische Interpretation von
Versöhnungsvorgängen bei politischen Übergangsprozessen,
die ihren Ausgangspunkt in der Prüfung der Bedingungen für
politische Versöhnung und deren Unterscheidung von theologischer
Versöhnung nimmt, also im analytischen Kern.
Sprachlich und in der begrifflichen Präzision ist der Beitrag eher
journalistisch orientiert als fachwissenschaftlich. Allerdings handelt
es sich vom Genre offenkundig um einen Zwischenruf, der provozieren und
zuspitzen soll; und dies im Hinblick auf ein eben nicht ganz
unwichtiges Thema, nämlich dem Wie des Einhakens göttlicher
Vergebung in die zwischenmenschlichen Fragen von Schuld und
Versöhnung.
Vor dem Hintergrund der Frage, wie sich die Erinnerungsarbeit an die NS-Verbrechen aufgrund des Generationenwechsels verändern muss, zeigt Gregor Taxacher in seinem „Zwischenruf“ eine fatale Folge des gegenwärtigen Diskurses auf. An den Beispielen des Philosophen Klaus-Michael Kodalle, „Hier wird nicht genötigt“. Zur deutschen Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert – Eine Herausforderung und des Theologen Jan-Heiner Tück, Inkarnierte Feindesliebe. Der Messias Israels und die Hoffnung auf Versöhnung zeigt er, wie beide Autoren Erinnerung und Schuldfrage mit der Bedeutung des „Verzeihens“ für eine Schuldanerkenntnis der Täter bzw. der Vergebungsbereitschaft der Opfer für eine eschatologische Versöhnung verquicken. Mit der so an die Opfer gerichteten „Versöhnungsforderung“ stellen sie, so Taxacher, ein „Legitimationsmittel“ bereit und unterbinden dadurch konkrete Schuldbenennungen. Der philosophische und der theologische Diskurs enden in der gleichen Sackgasse: Der entscheidende Teil der Erinnerungsarbeit wird den Opfern aufgebürdet!
Der Widerspruch Taxachers ist deutlich und in der Sache gut begründet. Denn die Argumentationen beider Autoren stützen ein in Gedenkveranstaltungen, etwa zum 9. November, häufig zu beobachtendes Phänomen: Juden tragen die Hauptlast der Erinnerung vor einem mehrheitlich nichtjüdischem Publikum. „Wir lassen Juden vor uns und für uns und mit uns gedenken. Das ist bewegend – aber was bewegen solche Veranstaltungen wirklich?“ Hier wäre der Intention des Aufsatzes von Kodalle, der sich gegen Pauschalisierungen der Täter, der Gegner des NS-Staates und der Opfer wendet, konsequent zu folgen und zu einem differenzierten Bild auf Seiten der Täter zu verhelfen. Diese Aufgabe hat er durch die Verquickung mit der Kategorie des Verzeihens zumindest erschwert. Die von ihm zu Recht geforderte „Entflechtung von Wahrheits- und Schuldfrage“ hebt er selbst durch seine Verflechtung der Wahrheitsfrage mit dem Verzeihen der Opfer auf.
Dem stellt Taxacher die Arbeit der Versöhnungskommissionen in Südafrika entgegen, die den Täter durch die Konfrontation mit seinen Taten und mit den Opfern dieser Taten verändern sollen. Hier wird deutlich, dass Erinnerungsarbeit nicht nur konkret sein muss, wie beide Autoren fordern, sondern notwendig die Erinnerungen der Opfer einbeziehen muss. Deren Konkretheit kann helfen, den eigenen Platz – je nach der Reichweite eigener Verantwortung – im NS-Regime genau zu erkennen. Selbstverständlich gibt es einen Unterschied zwischen einem KZ-Kommandanten und etwa einem Lehrer, der die Unterrichtsziele des Nationalsozialismus in seinen Klassen vermittelt hat – doch beide sind Teil des Unrechtsregimes und haben zu seinem „Funktionieren“ beigetragen. Die Perspektive der Opfer aber ist die Voraussetzung dafür, dass beim Täter Einsicht in das Unrecht seines Tuns, Reue und der Wille zur Umkehr entstehen können. Die Erinnerungen der Opfer helfen gegen die selbstkonstruierten Entschuldungsmechanismen. Erst dann kann die „Befreiung“ der Täter beginnen. Hier kann Taxacher auf die Tradition kirchlicher Bußlehre zurückgreifen, die die Kirchen immer schon vermittelt haben, die sie aber angesichts gesellschaftlich begangener Verbrechen, denen sie sich – zurückhaltend formuliert – nicht entziehen konnten, „vergessen“ zu haben scheinen.
Die zweite weiterführende Perspektive in Taxachers Zwischenruf ist die Einsicht, dass das eschatologische Gericht und der Gedanke der Allversöhnung zum einen Ausdruck von Hoffnung und somit menschlicher Verfügung (auch der Versöhnungsbereitschaft der Opfer) entzogen sind. Und dass diese Hoffnung nicht die Täter entschulden, sondern biblisch zu Ausgleich und Gerechtigkeit für die, die Unrecht erfahren haben, führen soll. Auch das ist theologisch kein neuer Gedanke, aber ihn gegen Tück, der die Versöhnungsbereitschaft der Opfer zum „Prüfstein“ (Taxacher) seiner Eschatologie macht, anzuführen und auf die politischen Folgen solcher abstrakter theologischer Überlegungen hinzuweisen, ist notwendig.
Der Verdienst von Taxachers „Zwischenruf“ ist es, in dem Diskurs deutlich die Perspektive der Opfer zu vertreten. Es bleibt eine noch genauer zu klärende Frage, inwiefern der politisch-gesellschaftliche Diskurs durch die Verwendung religiöser Begriffe, wie „Vergebung“, „Versöhnung“, aber auch bereits des Begriffs „Opfer“, beeinflusst wird. Immerhin wurde der Opferbegriff in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik kaum verwandt.
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