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Gutachten und Diskussionsbeiträge zu Anton Grabner-Haider, Kultur der Erinnerung



Übersicht:

Gutachten:

1. Dagmar Pöpping, Berlin
2. Lucia Scherzberg, Saarbrücken

Diskussionsbeiträge:



Gutachten

1. Dagmar Pöpping, Berlin

Kommentar zu: Anton Grabner-Haider: Kultur der Erinnerung

1) Es ist richtig, die Rolle der Universitätstheologie für die ideologische Unterstützung des Ersten Weltkrieges zu betonen und auf den Einfluss zu verweisen, den theologische Schriften auf die Herausbildung der NS-Ideologie genommen haben. In diese Richtung zielen auch Historiker und kritische Theologen, die den Einfluss der Reformkatholiken auf die Herausbildung der Naziideologie in den frühen 20er Jahren hervorheben[1]. Dennoch greift der Ansatz, die Theologie beider Konfessionen pauschal als Stütze des Nationalsozialismus darzustellen, für die Zeit nach der Machtübernahme Hitlers zu kurz. Hier könnte ein Blick auf die Institutionengeschichte die Diskursgeschichte erweitern und differenzieren. Dazu gehören Fragen nach dem Anteil von Parteimitgliedern unter den Theologen und Theologiestudenten. Man sollte auch die politischen Entwicklungen innerhalb der Studentenschaft nicht übersehen, die z. B. bei den Protestanten nach einer anfänglichen Phase der Begeisterung für den NS mehrheitlich ins Lager der Bekennenden Kirche rückte. [2] Man wird zwischen katholischen und evangelischen Universitätstheologen differenzieren müssen. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass die NSDAP sich in zunehmendem Maße den Theologen verschloss; seit 1937 nahm sie keine Theologen mehr auf.

2) Das Gegensatzpaar „Laienchristen“ und  „Theologen“ ist keine nützliche analytische Kategorie. Dass sich unter den „Laienchristen“ in der Geschichte mehr emanzipatorische Kräfte befanden als unter Theologen und Kirchenführern ergibt sich schon aus dem bloßen Zahlenverhältnis. Zudem war die Kirchenmitgliedschaft oder auch das Gefühl der Zugehörigkeit zum christlichen Kulturkreis bis weit ins 20. Jahrhundert hinein so allgemein, dass der „Laienchrist“ schlechthin überall zu finden ist. Wie der Autor selbst sagt, findet man ihn bei den Sozialisten, den Liberalen und den Freidenkern, aber eben auch bei den Konservativen. So wird „der Laienchrist“ zum Platzhalter für beliebige Behauptungen. Zum einen steht er im Gegensatz zu Theologen und Kirchenleitung (Aufklärung, 19. Jahrhundert, Mittelalter), zum anderen geht der Autor davon aus, dass das Kirchenvolk (die „Laienchristen“) 1933 gar nicht anders handeln und denken konnte, als seine Theologen es vorgedacht haben [„…, damit waren die Laienchristen mehrheitlich der neuen politischen Ideologie hilflos ausgeliefert.“].

3) Der Autor bezieht sich auf das 18. und 19. Jahrhundert sowie auf das Hochmittelalter, um allgemeine Schlüsse für das Verhältnis von Klerikern und Kirchenvolk zu ziehen. Ich halte es generell nicht für glücklich, Phänomene des 20. Jahrhunderts mit Argumenten, die willkürlich aus unterschiedlichen Jahrhunderten und Epochen herausgegriffen sind, erklären zu wollen. Generell entsteht hier der Eindruck, als hätten alle fortschrittlichen Menschen Europas immer schon unter denselben Prämissen für Emanzipation und Freiheit gekämpft. Im Gefolge der idealistischen deutschen System- und Geschichtsphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts zerlegt der Autor die Geschichte in eine schlichte Schwarz-Weiß-Opposition. Die Geschichte, das ist für ihn der Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“: hier die fortschrittlichen, kritischen und aufgeklärten Kräfte, dort die demokratiefeindlichen, machthungrigen und frauenfeindlichen Kräfte von Nationalismus und Reaktion. Eine Trennung, die schon für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zutrifft, als der Nationalismus in Deutschland sich über weite Strecken mit den fortschrittlich liberalen Kräften von 1848 verband.  

4) Zur „aufrechten Kultur der Erinnerung“: Der Theologe Donald W. Shriver hat dafür plädiert, die christliche Kategorie der „Buße“, auch als Kategorie der Politik einzuführen.[3] Danach soll der politische Umgang mit der eigenen nationalen Geschichte ein Akt der Sühne für schuldhafte Taten der Nation in der Vergangenheit sein. Das vorliegende Papier trägt meinem Eindruck nach die Forderung nach Schuldbekenntnis und Buße auch an die Historiographie der Universitätstheologie und -Philosophie heran.[4] Was die Disziplingeschichte dieser Fächer angeht, ist es sicherlich richtig, mehr kritisches Bewusstsein zu fordern. Ebenso ist es zentral, in der deutschen Theologie und Philosophie des 20. Jahrhunderts jenen „Ideologien des Todes“ nachzuspüren [Heidegger], die die nationalsozialistische Ideologie mitgetragen und das Massensterben während des Zweiten Weltkrieges idealisiert haben. Die Historiographie von akademischen Lehrdisziplinen unter dem Motto von Schuld und Sühne zu betreiben, dient m. E. nach aber weniger wissenschaftlichen Interessen als dem psychologischen und theologischen Bedürfnis nach „Entschuldung“ der Geschichte.

[1] Vgl. Derek Hastings: Catholicism and the Roots of Nazism. Religious Identity and National Socialism. Oxford 2010 und Lucia Scherzberg: Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe. Darmstadt 2001.
[2]
Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn u. a. 1995, S. 431-445.
[3]
Donald W. Shriver Jr.: Wahre Patrioten. Vaterlandsliebe und Vergangenheitsbewältigung. Leipzig 2007, S. 28.
[4]
Vgl. auch andere Schriften von Anton Grabner-Haider wie „Befreiung durch Erinnerung. Trauerarbeit in Kirche und Religion“. München 1990, S. 15.



2. Lucia Scherzberg, Saarbrücken

Gutachten: Anton Grabner-Haider: Kultur der Erinnerung

Anton Grabner-Haider fordert eine Kultur der Erinnerung in Theologie und Philosophie, genauerhin die Aufarbeitung theologischer und philosophischer Traditionen, die dazu beigetragen haben, dass es zu dem Zivilisationsbruch des Holocaust kommen konnte. Anfangs stellt Grabner-Haider die Frage, die schon am Beginn der Neuen Politischen Theologie von Johann Baptist Metz stand: Wie war der Holocaust möglich angesichts der unübersehbaren Präsenz der christlichen Kirchen in Deutschland?

Im Folgenden spricht Grabner-Haider die Herausbildung von Nationalismus und (rassistischem) Antisemitismus an. Zu Recht betont er den Zusammenhang zwischen der mentalen Aufrüstung im Kaiserreich, dem sog. August-Erlebnis zu Beginn des Ersten Weltkrieges, einschließlich der Kriegstheologie, und der späteren Begeisterung für den Nationalsozialismus. Er zitiert etliche Beispiele einer theologischen Zustimmung zur NS-„Bewegung“ und NS-Ideologie und stellt zutreffend heraus, dass es sich nicht um Außenseiter innerhalb der evangelischen und katholischen Theologie gehandelt habe, sondern um Theologen, die den Ton angaben (Lortz, Schmaus, Kittel, Althaus und Hirsch).  Besonders hervorzuheben ist sein Hinweis auf die Heidegger-Rezeption innerhalb der katholischen Theologie weit über 1945 hinaus und den langwierigen „geistigen und moralischen Abschied“ von einer Philosophie, deren Protagonist von Hitler  sagte, er führe das Volk in das Geheimnis des Todes. Ebenfalls nützlich ist Grabner-Haiders Hinweis auf den in der katholischen Kirche tolerierten „wirtschaftlichen“ Antisemitismus.

Ein grundlegendes Problem des Beitrags besteht jedoch darin, dass Grabner-Haider seine Forderung nach einer Aufarbeitung verhängnisvoller Traditionen in Theologie und Philosophie mit der Frage vermengt, welchen Anteil das Christentum am gesellschaftlichen Fortschritt hat bzw. ob innerhalb der Kirche ein Fortschritt festzustellen ist, z.B. in der Haltung der Kirche zur Moderne, zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat. Zur Beantwortung dieser Frage konstruiert Grabner-Haider einen Gegensatz zwischen Kirchenleitung und „Laienchristen“. Unter letzterem Begriff versteht er das eine Mal gebildete christliche Laien, das andere Mal das Kirchenvolk als Ganzes, das in Unmündigkeit gehalten werde. Überdies kennzeichnet er die Kirchenleitung stereotyp als reaktionär und die Laienchristen als fortschrittlich, d.h. sowohl als Träger des gesellschaftlichen als auch des innerkirchlichen Fortschritts. Die Theologie ordnet Grabner-Haider weitgehend dem Klerus zu und blendet dabei unabsichtlich aus, dass zumindest im deutschen Sprachraum die wissenschaftliche Theologie weitgehend von Nicht-Klerikern - kirchenrechtlich betrachtet also Laien – betrieben wird.

Weil der Begriff Laienchristen schillert und der Gegensatz allzu plakativ gezeichnet wird, verwickelt Grabner-Haider sich in Widersprüche. Einmal erscheint das Kirchenvolk als ungebildet und den ideologischen Ränken der Amtskirche schutzlos ausgeliefert, zum andern werden die Aufklärung oder auch die wichtigen Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils zu Produkten eines kritischen, der Moderne zugewandten Laienchristentums stilisiert. Ein so komplexes Thema wie das Verhältnis von kirchlicher Tradition, kirchlichem Lehramt, Volksfrömmigkeit und katholischer „Intelligenz“ lässt sich sicherlich nicht in dieser Weise simplifizieren. Darüber hinaus eignet sich ein Schubladen-Denken von „fortschrittlich“ und „reaktionär“ gerade nicht für die von Grabner-Haider intendierte Aufarbeitung der Vergangenheit. Das Verhältnis von „moderner“ bzw. „antimoderner“ Theologie zum Nationalsozialismus ist komplizierter: z.B. werden die katholischen Theologen, die er anfangs als Sympathisanten des Nationalsozialismus nennt, oder auch die späteren Heidegger-Rezipienten gemeinhin zu den „fortschrittlichen“ gerechnet.

Aus diesen Gründen halte ich eine Entflechtung der beiden Themenstränge – Erinnerungskultur bzw. Anteil des Christentums am gesellschaftlichen Fortschritt – für notwendig, ebenso eine differenzierende Betrachtung des Verhältnisses von Kirchenleitung und Laien.

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