Gregor Taxacher
Kollektivvergebung statt
Kollektivschuld? Ein Zwischenruf
Die unlängst erschienene große Studie zur Rolle des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich (und danach!) [1] macht es erneut deutlich: Erinnerung an die NS-Zeit ist in Deutschland stets „Täter-sensibel“ – auch noch 65 Jahre danach. D.h.: Sie bedeutet immer noch eine besondere Herausforderung für bestimmte Personen – im aktuellen Beispiel für Richard von Weizsäcker wegen seines Vaters Ernst – oder Berufsstände – etwa die Diplomaten. Die Geschichte der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ ließe sich auch als Geschichte der Herausforderung solcher Gruppen schreiben: Früh ging es um die Juristen und die Mediziner, wesentlich später – angesichts der Wehrmachtsausstellung und der Goldhagen-Debatte – um die Soldaten, sehr spät auch um die Theologen. [2]
Dabei fällt stets ein gewisses Muster der Debatte auf: Es geht
um gesellschaftliche Gruppen, die sich eine Art
Entschuldungs-Erzählung aufgebaut haben, der zufolge ihr „Stand“
im NS-Staat zumindest weniger gleichgeschaltet und an den Verbrechen
des Regimes weniger beteiligt war als andere. So hieß es lange
von der Wehrmacht im Unterschied zur SS, von den katholischen Theologen
im Unterschied zu den protestantischen Deutschen Christen und eben von
den Diplomaten des Auswärtigen Amtes im Unterschied etwa zur
NS-Partei-Verwaltung der besetzten Gebiete. Diese „Erzählungen“
über die (eigene) Gruppe begründen sich selbst meist im Kampf
gegen eine – jedenfalls so empfundene – verbreitete
Kollektivschuldthese. Man will zeigen, dass es Ausnahmen gab oder sogar
die Täterschaft eigentlich nur eine Ausnahme war. Dagegen zeigt
dann die historische Aufklärung regelmäßig, dass es in
der NS-Gesellschaft Reservate der Nicht-Täterschaft, der
Nicht-Gleichschaltung eben nicht gab – was keineswegs mit der
Kollektivschuldthese identisch ist.
Erinnerung, so zeigt sich, stellt stets die Schuldfrage. Historisch
genaue Erinnerung stellt sie konkret. Diese Konkretion verhindert die
einfache Antwort der Kollektivschuldthese, durchkreuzt aber auch immer
wieder schmerzhaft kollektive Unschulds-Diskurse. Diese Brisanz hat die
deutsche Erinnerungs-Arbeit m.E. bis heute nicht verloren, obwohl
Täter und Opfer selbst immer weniger unter den Lebenden sind.
Müsste sie sich durch den Generationenwechsel aber nicht
ändern? Und in welche Richtung sollte diese Änderung
gesellschaftlich und theologisch verantwortlich gehen?
Braucht Erinnerung Vergebung?
Diese Frage beantworten jüngst manche Autoren mit dem Stichwort
der Vergebung. Anhand eines Artikels des Jenaer Philosophen
Klaus-Michael Kodalle ist mir aufgefallen, dass es hier offensichtlich
eine Kongruenz in der gesellschaftlichen und der theologischen
Diskussion gibt. Sie scheint mir bedenkenswert und bedenklich zugleich.
Darauf möchte ich in diesem Zwischenruf aufmerksam machen –
bewusst pointiert und „polemisch“, bewusst eher „journalistisch“ als in
einer theologischen Fachstudie. Schließlich geht es hier um
Fragen, die keineswegs nur eine Fachöffentlichkeit bewegen.
Kodalle selbst spricht von einer „Herausforderung“ für die
deutsche „Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert“. [3] Ausgehend von
der Feststellung, dass die „Erinnerungspolitik … vor einem Umbruch“
stehe, weil „Opfer und Täter als lebende Zeugen … bald nicht mehr
unter uns“ sind, fragt Kodalle nach den Bedingungen für eine
gelingende Vermittlung der Erinnerung des Holocaust an die
nachwachsenden Generationen. Seine Forderung lautet: „die Erinnerung
muss entmoralisiert werden.“ Kodalle diagnostiziert eine „Verfilzung
zwischen Erinnerung und Schuldvorwurf“, der nur durch eine
differenzierte Darstellung der Zeit des Nationalsozialismus zu begegnen
sei.
Merkwürdiger Weise unterläuft Kodalle bei seinen Ausführungen dann aber selbst eine „Verfilzung“ seiner Postulate zum Erinnern und zum Vergeben. Einerseits geht es ihm nämlich darum, konkrete Erkenntnis und Betroffenheit unter Jugendlichen durch Differenziertheit zu erzeugen. Täter dürften nicht zu Teufeln und Bestien, Widerstandskämpfer nicht zu Heiligen stilisiert und der Holocaust insgesamt nicht zu einer Art negativer Offenbarung sakralisiert werden. In diesem Zusammenhang steht auch das nachvollziehbare Argument Kodalles, ein Kollektivschuldvorwurf, zumal wenn er die Nachgeborenen mit einbeziehe, erzeuge nur Abwehr statt Interesse. Aber Kodalle verknüpft diesen Aspekt mit der Frage nach dem Verzeihen, das die Opfer den Tätern schenken – oder eben nicht. Anhand der „harten“ Haltung des französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch und des Vergebungs-Aktes der Auschwitz-Überlebenden Eva Mozes Kor diskutiert Kodalle die Bedeutung des Verzeihens für die Fähigkeit des Schuldeingeständnisses. Zwar betont Kodalle, dass ein Akt des Verzeihens nur konkret sein könne und den einzelnen Täter in die Pflicht nehme, dennoch kommt er zu einem merkwürdigen Fazit, nach dem die Vergebung durch die Opfer gewissermaßen als notwendige Vorleistung für die Gewissensregung der Täter erscheint - glaubt Kodalle doch, „dass Täter nur dann, wenn ihnen glaubhaft der Eindruck vermittelt wird, ihre Würde als menschliche Wesen sei nicht mehr grundsätzlich infrage gestellt, fähig werden, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen und sie nicht länger zu verdrängen“ [4].
Man reibt sich verwundert die Augen: Nicht nur, weil hier die bedrohte Menschenwürde der Täter plötzlich als Kernproblem des Diskurses erscheint, und nicht die tatsächlich zerstörte Würde der Opfer. Ich frage mich vor allem, wie Kodalle mit dem Vorsatz der Entflechtung von Erinnerung und Schuldvorwurf beginnen und am Ende beim Postulat der Verzeihung als Bedingung für die Erinnerung der Täter landen kann. Soll hier die Verfilzung zwischen Erinnerung und Schuldfrage aufgelöst und das „Moralisieren“ beendet werden, indem man im Zuge der Erinnerungsarbeit die Schuld selbst auflöst – und zwar als eine Arbeit der Opfer?
Theologie nach Auschwitz und
Allversöhnung
Die merkwürdige Verknüpfung von Erinnerung und Vergebungs-Postulat, die man bei Kodalles „Herausforderung“ antrifft, findet sich seit einigen Jahren auch in der Diskussion um die Theologie nach Auschwitz: so etwa in einem Aufsatz von Jan-Heiner Tück, [5] der schon beim ersten Lesen einige Parallelen zu dem von Kodalle aufweist. Auch Tück setzt mit der Forderung nach einer nicht nivellierenden historischen Genauigkeit bei der Betrachtung von Tätern und Opfern an und wehrt sich gegen eine Dämonisierung der Täter [6] und auch er schärft seine These in Auseinandersetzung mit V. Jankélévitch [7]. Aber bei Tück sind diese Überlegungen in einen äußerst „steilen“ theologischen Rahmen eingespannt: Es geht ihm um die Denkbarkeit des christlichen Heilsuniversalismus [8] auch angesichts der monströsen Taten von Auschwitz. Kann in einer Theologie nach Auschwitz noch endgültiges Heil für alle, die siegreiche Versöhnung der Welt in Christus erhofft werden?
Konfrontiert mit dieser theologisch brennenden und legitimen Frage
verstrickt sich Tück in eine „Verfilzung“, die auf theologischem
Niveau der von Kodalles Überlegungen analog wirkt: Entwickelt sich
bei Kodalle die Vergebung durch die Opfer zu einer Art Bedingung
für die Erinnerung an die Täter, so wird bei Tück die
Vergebungs-Bereitschaft der Opfer zum Prüfstein für eine
christliche Eschatologie.
Wie kommt diese „Verfilzung“ zustande? Ich kann die komplexen
theologischen Überlegungen Tücks hier nicht insgesamt
diskutieren. Das ist aber für meine Frage auch nicht nötig,
denn das Problem bei Tück besteht in einer bestimmten
Schlussfolgerung: Aus der respektablen Überlegung heraus, dass
Vergebung von Opfern niemals erzwungen werden kann (auch dies ein
Zwischenschritt bei Kodalle!) und dass theologisch gesehen auch Gottes
Vergebung nicht über die Köpfe der Opfer hinweg gedacht
werden kann [9], leitet
Tück die Notwendigkeit der
eschatologischen Vergebungsbereitschaft der Opfer als Vorbedingung
für die letzte Rettung der Täter ab. Das führt nun zu
einer ganz eigenartigen Umdrehung der traditionellen Rede vom
Jüngsten Gericht: Als entscheidende letzte Heilsfrage geht es nun
darum, „ob die Opfer die Haltung der vergebenden Liebe Jesu mit
vollziehen“ [10] oder ob
sie „den Tätern das erlösende
Wort der Vergebung verweigerten“ [11].
Die eschatologische Hoffnung
richtet sich nun darauf, „dass der Geist des auferweckten Gekreuzigten
die Opfer befähigt, sich von der niemand ausschließen
wollenden Liebe bestimmen zu lassen“ [12].
Daran hängt nun
alles: „Würden sich die Opfer dem Geist der Vergebung dauerhaft
verschließen und ihren Peinigern niemals verzeihen können,
liefe dies auf eine Perpetuierung unversöhnter Verhältnisse
hinaus.“ [13]
Das - ich kann es nicht anders ausdrücken - Gespenstische
dieser Formulierungen wird jeder ermessen, der die traditionelle
eschatologische Redeweise in der Theologie einigermaßen kennt.
Dort werden nämlich solche Formulierungen gebraucht, wenn es um
die letzte Grenzfrage der endgültigen Verweigerung des Menschen
gegenüber der Gnade Gottes geht, um die offen gehaltene
Möglichkeit der Hölle also. Dies ist aber stets die
Grenzfrage angesichts der Todsünde, des radikal Bösen des
Menschen. Tück überträgt diese Redeweise jedoch auf die
eschatologische Entscheidungssituation der Opfer von Auschwitz - bis
hin zu einer Formulierung wie: „die Möglichkeit definitiver
Verweigerung bleibt“ [14],
die man in jeder traditionellen Dogmatik
im Kapitel über die Verdammung lesen kann, die bei Tück aber
die Vergebungs-Verweigerung durch die Opfer der Geschichte meint. Denn
ihnen wird sozusagen die Verantwortung für die Hölle ihrer
Peiniger aufgeladen. [15]
Dass ich Tück hier nicht falsch
interpretiere, versichert er selbst im Vorwort zu dem zitierten
Sammelband, wo er das Fazit seines Beitrags so zusammenfasst: „Ob sich
… die Hoffnung auf eine eschatologische Versöhnung zwischen Opfern
und Tätern vertreten lässt, hängt an der Frage, ob die
Opfer am Ende die messianische Haltung Jesu übernehmen und in
ihren Tätern vergebungsbedürftige Nächste sehen
können.“ [16]
Tück ist nicht der einzige Theologe, bei dem sich diese
eschatologische Rede vom letzten Problem der Opfer-Versöhnung
findet. Magnus Striet geht im selben Sammelband ähnliche Wege.
Beiden Autoren geht es im Ansatz darum, das Erlösungsgeschehen mit
einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu vermitteln: Gottes in
Christus geschehene Versöhnung der Welt kann nur begriffen und
angenommen werden, wenn sie in die Freiheitsgeschichte der Menschen
sellbst eingeht und diese nicht sozusagen enteignet. Dafür stellt
Striet komplexe christologische Überlegungen an, denen meine
Kritik hier so wenig gilt wie dem theologischen Grundanliegen. Mein
Einspruch gilt dem Gefälle, in das diese Theologie des
Versöhnungsgeschehens am Ende gerät. An dessen Ende schreibt
Striet: „Niemand weiß ... zu sagen, ob die Gedemütigten und
Ermordeten sich von Gott versöhnen lassen werden“ [17]. Die
Formulierung irritiert so sehr, weil sie die paulinische Rede von der
Welt, die Gott in Christus mit sich versöhnt hat (2. Kor 5,19), in
einer Weise variiert, als sei dabei die letzte verbleibende
Restunsicherheit die Versöhnungsbereitschaft der Opfer der
schrecklichsten Menschheitsverbrechen – und nicht die Reue der
Täter, traditionell gesprochen: die der „Todsünder“.
Wahrheit und Versöhnung – Das
Beispiel Südafrika
Wie kommt es zu dieser auffälligen Parallele von
philosophischen
und theologischen Überlegungen (die offensichtlich nicht
voneinander abhängig sind), von Überlegungen, die sich einmal
auf die gegenwärtige Erinnerungskultur und ein anderes Mal auf das
Jüngste Gericht beziehen? Die Nähe säkularer und
religiöser Antworten ist wohl schon durch den ins Spiel gebrachten
Begriff der Versöhnung oder Vergebung angelegt. Wo Versöhnung
als Kategorie der politischen Vergangenheitsbewältigung
eingeführt wird, bringt sie stets einen
religiös-eschatologischen Unterton in die gesellschaftliche
Auseinandersetzung ein. „Versöhnung ... konstatiert eher einen
paradiesischen Endzustand, als dass ein Prozess des Umgangs mit Schuld
beschrieben würde.“ [18]
Um durch diesen aufgeladenen Begriffsgehalt nicht in eine weitere
Verfilzung zu geraten, dürfte es angebracht sein, die
gesellschaftliche und die theologische Verwendung des Begriffs
zunächst getrennt voneinander zu analysieren. Aus einer
zunächst also politischen Sicht sind die religiösen
Implikationen des Versöhnungs-Begriff erst einmal mit Vorsicht zu
betrachten, d.h. kritisch: Ihn unreflektiert und tendenziell
absolutistisch in die politische Debatte einzubringen, bringt die
Gefahr mit sich, die gesellschaftliche Aufarbeitung von Schuld zu
überspringen. Die Versöhnungsforderung wird dann zum
Legitimationsmittel, konkrete Schuldbenennungen zu unterbinden. „Weil
der Begriff 'Versöhnung' so viel verspricht ... zumal in der
christlichen Tradition, ist die Gefahr des propagandistischen
Missbrauchs groß.“ [19]
Ralf Wüstenberg, der diese
Warnung ausspricht, hat den Zusammenhang von politischer Aufarbeitung
von Schuld und der Möglichkeit von Versöhnung zwischen
Tätern und Opfern anhand der Wahrheitskommissionen (genauer eben:
Kommissionen für Wahrheit und Versöhnung) in
Südafrika
nach dem Ende des Apartheidregimes untersucht. Er ist durchaus kein
Gegner einer Praxis der Versöhnung. Aber er analysiert, unter
welchen Bedingungen Versöhnung wahrhaftig stattfinden kann und
wann ihre Propagierung zu einer unwahrhaftigen Ideologie wird.
„Versöhnung scheint möglich bei einer sich abzeichnenden
Veränderung des Täters“, konstatiert Wüstenberg aufgrund
der Erfahrungen in Südafrika: „Bedingung der Möglichkeit von
Versöhnung ist offenbar die Begegnung mit den Opfern“ [20] -
eine Begegnung, in der deren Opfer-Verhältnis zu den Tätern
wirklich aufgebrochen wird, indem sich die Täter nämlich
ihren Taten stellen und sie in öffentlicher Befragung durch die
Opfer eingestehen und sich mit ihnen konfrontieren müssen. Nur
unter dieser Voraussetzung können Opfer auch Vergebung
aussprechen. „Opfer können Tätern nur vergeben, wenn diese
ehrlich sind und ihre Taten aufrichtig bedauern.“ [21] Das
schließt für den Täter „das Erschrecken über seine
Unmenschlichkeit im Angesicht der Opfer“ ein. [22] Die Praxis der
Wahrheitskommissionen, welche auf diese Veränderung der Täter
ausgerichtet ist, beinhaltet „auch die öffentliche Scham, die aus
der minutiösen Schilderung der Taten folgt“ und darin auch „eine
Form der Strafe“ darstellt. [23]
Die südafrikanischen Wahrheitskommissionen haben diese Bedingung
geradezu zum Programm der politischen Vergangenheitsbewältigung
gemacht. Die Veränderung des Täters in Konfrontation mit
seinen Taten und mit den Opfern wurde zur Bedingung für seine
Freiheit von Strafverfolgung: „Amnestie gegen Wahrheit“. [24] Dabei
darf aber nicht der Eindruck entstehen, als sei die Vergebung durch die
Opfer Voraussetzung der Amnestie, als würde „durch ...
Amnestiegesetzgebung den Opfern die Vergebung verordnet.“ [25] Die
Bereitschaft zur Wahrheit und zum Bedauern (theologisch: zu Bekenntnis
und Reue) ist Voraussetzung der Amnestie - die Vergebung durch die
Opfer und so u.U. auch die Versöhnung zwischen Opfern und
Tätern ist dadurch vielleicht möglich, ist für die
gesellschaftliche Befriedung zu erhoffen, aber keine notwendige
Bedingung und kein praktikables Ziel. Wüstenberg hat zudem darauf
hingewiesen, dass nicht Versöhnung selbst, sondern nur ein
vorbereitender Beitrag zu ihrer Möglichkeit zum Mandat der
Wahrheitskommissionen gehörte. Versöhnung ist also keine
politisch machbare Sache, alle unsere Beiträge zu ihr bleiben
unter einem theologischen oder eschatologischen Vorbehalt.
Die von Kodalle geforderte Entflechtung von Wahrheitsfrage und Schuldfrage bedeutet also zunächst gerade, die konkrete Erkenntnis von Taten und Tätern und damit auch von historischer Schuld zu lösen von der Frage, ob Opfer diese Taten und diesen Tätern verzeihen können oder nicht. Es ist der Täter allein, der durch sein Verhalten die Amnestie erwirken kann. Dagegen kann „weder einem Opfer Vergebungsbereitschaft aufgezwungen werden, noch kann dessen Vergebung einen Täter vor der Strafverfolgung schützen“ [26] Wüstenberg nennt dies einen „teuren Versöhnungsbegriff“, einen „auf Veränderung bedachten Versöhnungsbegriff“ - im Gegensatz dazu steht ein „strategisch-illegitimer Versöhnungsbegriff.“ [27] Wo die Bedingungen für eine echte Veränderung des Täter-Opfer-Verhältnisses nicht gegeben sind, kommt es „zu einer verfehlten Romantisierung der Versöhnungsbemühungen“. [28]
Billige Gnade und Unschuldsdiskurs
Durch die Begrifflichkeit einer „teuren“ gegenüber einer
billigen
Versöhnungspraxis sind wir aber wieder im theologischen Diskurs
angelangt – stammt doch die Formel von der „billigen Gnade“ aus der
Kritik Dietrich Bonhoeffers am bürgerlichen Protestantismus. Er
hat diese Kritik schon vor dem Krieg und der Shoah formuliert. Wirklich
durchgedrungen ist er damit jedoch nicht – und das gilt nicht nur
für protestantische Kirchen. Denn der Missbrauch schlecht
interpretierter Gnadenlehre für eine Art fataler „Verkürzung“
der Vergangenheitsbewältigung ist leider ein Merkmal kirchlichen
Umgangs mit der Schuldfrage in der Nachkriegszeit. Und hier können
wir nun nicht mehr umhin, die Verfilzung politisch-gesellschaftlicher
und theologischer Argumentationslinien und ihre Folgen direkt zu
betrachten.
Wie K. von Kellenbach gezeigt hat [29],
neigte die kirchliche
Seelsorge dazu, im Namen der Lehre von der zuvorkommenden Gnade den
Tätern auch bei völliger Uneinsichtigkeit und mangelnder Reue
Vergebung zuzusprechen, während sie umgekehrt die Forderung von
Opfern nach Aufklärung und Strafe häufig als unchristliche
Unversöhnlichkeit geißelte. Kellenbach zeigt dies von der
Gefängnisseelsorge an NS-Tätern bis hin zum Fall des
Münchener Weihbischofs Matthias Defregger, der in Italien an einer
Geiselerschießung beteiligt war. Als Überlebende 1969 auf
einen Prozess drängten, wurde ihnen von Defreggers Vorgesetztem,
Kardinal Döpfner, Selbstgerechtigkeit und mangelnde christliche
Vergebungsbereitschaft vorgehalten. [30]
Im neuen theologischen Diskurs um die eschatologische Versöhnung
ist es nun wieder die streng zuvorkommende, nicht verdiente Gnade , die
aus der bis ans Kreuz gelebten Feindesliebe Jesu entspringt, welche das
Täter-Opfer-Verhältnis überwinden soll. [31] Es ist
dieser theologische Schachzug, gegen den m.E. deutlich protestiert
werden muss, weil er die Radikalität christlicher Gnadenlehre den
Tätern zuspricht, den Opfern jedoch als indirekte Forderung
aufbürdet. Zunächst spreche ich diesen Protest im Blick auf
die gesellschaftliche Funktion solcher theologischen Aussagen aus, die
auch in einer eschatologischen Argumentation nicht ausgeblendet werden
darf [32]. Theologische
Überlegungen über eine
eschatologische Versöhnung zwischen Opfern und Tätern leiden
an einer dogmatischen Abstraktheit, die so tut, als könne man rein
grundsätzlich Letzt-Fragen des Jenseits abhandeln, ohne die
Funktion dieses Diskurses für irdische
Verdrängungsmechanismen zu reflektieren, die immer noch anhalten.
Wer als entscheidende Frage des Endgerichts die Vergebungsbereitschaft
der Opfer diskutiert, der impliziert damit einen bestimmten
Zusammenhang von Gnaden- und Feindesliebe-Predigt mit dem Erinnerungs-
und Versöhnungsdiskurs auch schon in der Gegenwart.
Deshalb habe ich die Befürchtung, dass die neue Sorge um die
Versöhnungsbereitschaft der Opfer im Endeffekt einen Versuch
darstellt, die früheren bundesrepublikanischen Unschuldsdiskurse
auf einem endgültigen höheren Niveau wieder herzustellen. Was
Kodalle und Tück (beispielhaft für ähnliche Tendenzen)
gemeinsam haben, ist die "Verfilzung" der Frage, wie wir heute
erinnernd und hoffend mit Auschwitz konfrontiert sind, mit dem
Vergebungspostulat. Anders ausgedrückt: Im Kampf gegen die
angeblich gesellschaftlich prägende Tendenz zur
Kollektivschuldthese bzw. theologisch gegen einen Bruch mit dem
christlichen Heilsoptimismus nehmen sie ihre Zuflucht zu einer der
Kollektivschuld-These entgegengesetzten Hoffnung auf
All-Versöhnung, die nun aber ebenso konsequent wie paradox den
Opfern aufgebürdet wird. Es liegt nun an den Opfern, den Bann zu
brechen.
Wie eingangs skizziert, hat die historische Arbeit Schritt für
Schritt die Reservate angeblicher Unschuld zerstört. Sie hat damit
keineswegs eine Kollektivschuld erwiesen, sondern ein Ausmaß an
Verstrickung offen gelegt, das es erzwingt, in allen gesellschaftlichen
Bereichen - eben auch in Kirche und Theologie - die Schuld konkret
aufzuarbeiten. Dabei geht es heute und in Zukunft nicht um die
Verurteilung oder gar (im eschatologischen Sinne) Verdammung der
Täter. Geschichtsschreibung ist kein moralisches und Theologie
kein Weltgericht. Es geht vielmehr darum, die Imprägnierung von
Politik, Gesellschaft und Kirche durch die Schuldverstrickung so
konkret und tief zu erfassen, dass sich die gebliebenen Strukturen, die
Erbschaften dieser Schuld abarbeiten lassen. Dazu gehört in der
Theologie der sublime Antijudaismus, dazu gehört gerade auch der
Missbrauch der Gnadentheologie zur billigen Exkulpierung, dazu
gehört die Immunisierung der Kirche gegenüber
Schuldanerkenntnis durch ekklesiologische Überhöhung - und
einiges mehr.
Der hier problematisierte Diskurs um die
Versöhnungsbereitschaft der Opfer wirkt auf mich, als wolle man
Versöhnung wie eine große, alles einschließende
Klammer um die schmerzhafte konkrete Erinnerung legen, weil man sie nur
dann ertragen kann. Wie sonst lässt sich die ebenso schlicht
unlogische wie auch tendenziell zynische Umkehrung erklären, in
der in diesen Überlegungen die Opfer plötzlich das Problem
sind und nicht die Täter. Es ist, als hätten die Opfer die
Verantwortung dafür, dass wir Nachgeborenen der Täter mit
unserem Erbe leben können, gemäß dem bekannten Diktum
von Zwi Rex, dass die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen
würden. Tritt einem nicht als letztes dunkles Geheimnis in fast
jedem Bericht über Kontinuitäten vor und nach 1945 die
scheinbar unerschütterliche Schuldblindheit von Tätern
entgegen, und nicht das Problem unversöhnlicher Opfer? [33]
Gesellschaftspolitische Überlegungen müssen allerdings davon
ausgehen, dass der Adressat der Erinnerungsarbeit eine nachwachsende
Generation im Land der Täter ist, die weder beschuldigt werden
kann noch der vergeben werden muss, die vielmehr wissen soll. Auch und
gerade diese Generation sollte nicht mit Schlussstrichen und einer
alles zudeckenden Versöhnungsbotschaft abgespeist werden, sondern
mit konkreter Erkenntnis, die schmerzhaft ist, die aber den Bann von
Kollektivschuldempfindungen und Unschuldsdiskursen bricht.
„Der Holocaust wird da, wo ich herkomme, weitgehend ignoriert. Versucht man mit Zeitzeugen darüber ins Gespräch zu kommen, blockieren sie und wehren ab. Als ob man fragen würde: Warst du schuld am Tod von sechs Millionen Juden?“ So erzählt heute noch ein 19-Jähriger [34]. Die Studie, in der er zitiert wird, zeigt, dass die Reflexion auf konkrete Schuld und den Umgang mit ihr offensichtlich auch in der nachwachsenden Generation nicht unzeitgemäß ist. Danach halten 80 Prozent der 14- bis 19-Jährigen Erinnern und Gedenken für sinnvoll, „59 Prozent empfinden Scham angesichts der deutschen Verbrechen.“ [35] Nach den Ergebnissen der Studie „berührt die Frage nach der Schuld offenbar noch immer den deutschen Identitätskern.“ [36]
Gericht als reale Veränderung
Schließlich möchte ich mich als Theologe aber auch nicht um eine Positionierung in der durch das Versöhnungsthema aufgebrochenen eschatologischen Frage drücken. Die Problematik der hier kritisierten These besteht aus meiner Sicht in einer einseitigen Reflexion der Theologie des Gerichts – oder umfassender gesagt: der christlichen Erwartung der Wiederkunft Christi. Dass der christliche Messianismus auf die Wiederkunft des Gekreuzigten hofft, dessen Zeugnis von Feindesliebe und Reich-Gottes-Hoffnung auch angesichts des Todes das wahre Antlitz Gottes offenbar gemacht hat [37], bestreite ich nicht. Allerdings ist diese Feindesliebe gerade im Gericht nicht primär die Kraft, die Opfer zur Vergebungsbereitschaft bewegt, sondern die glühende Kohlen auf das Haupt der Täter sammelt (Röm 12,20). Sie ist also tatsächlich „zuvorkommende Gnade“, Angebot der Vergebung – die eschatologisch offene Frage ist, ob sich jene Täter davon demaskieren und zur Vergebungsbitte bewegen lassen, die auf Erden kein Zeichen auch nur eines schlechten Gewissens erkennen ließen.
Was die Opfer angeht, so ist deren Hoffnung auf das Gericht eine Hoffnung auf Gerechtigkeit. [38] Sie ist das in der christlichen Eschatologie der Bibel beider Testamente gegenüber zu Unrecht an den Rand gedrängte oder moralisch individualisierte Thema. Mit Wiederkunft und Gericht ist uns die Einlösung der ersten beiden zentralen Bitten des Gebetes Jesu verheißen: Dass Gottes Reich anbricht, bedeutet, dass sich sein Wille endlich auf Erden so durchsetzt wie im Himmel. In diesem Sinne ist das Jüngste Gericht tatsächlich eine „Wahrheitskommission“, die – im Unterschied zu deren irdischen unvollkommenen Varianten – die Macht auch zur echten Entschädigung und Wiedergutmachung hat. [39]
Das mag nun geradezu religiös naiv klingen. Aber wenn wir theologisch noch eschatologische Töne anzuschlagen uns trauen, dann müssen es die jener revolutionären Verheißung sein, die auf eine gerechte Umkehrung der irdischen Verhältnisse weisen – neutestamentlich etwa im Lukasevangelium vom Lied der Maria (Lk 1,46-56) bis hin zu den Seligpreisungen und Umsturzdrohungen Jesu (Lk 6, 20-26 – übrigens gleich vor dem Gebot der Feindesliebe!). Diese auf Gerechtigkeit zielende Verheißung stellt, wenn sie sich erfüllt, jene Verhältnisse her, in denen auch Versöhnung aller möglich ist, die sich zu ihr rufen lassen – Versöhnung, die nur in solchen Verhältnissen offenbarer Gerechtigkeit nicht mehr einseitig sein wird, nicht mehr betrogen und verhöhnt. Wir treiben Eschatologie, weil „Gott noch Antworten schuldet“ [40].
Angesichts der irdischen Weise von „Vergangenheitsbewältigung“ – und das mag nicht nur für die Shoah und nicht nur für Deutschland gelten – könnte die Theologie gerade lernen, was es heißt, das Gericht nicht zu fürchten, sondern herbei zu sehnen als die uns bitter notwendige Selbstverifikation Gottes. Wer die Beziehungen zwischen Tätern und Opfern konkret reflektiert, wie sie auch nach 1945 überwiegend weiter bestanden haben, der wird von den Eschata vor allem das Gericht erhoffen, das zurecht rückt, Gerechtigkeit schafft, wie es die hiesigen Gerichte nicht vermochten. Eine Versöhnung ohne diese Revolution Gottes kann ich mir nicht vorstellen.
Eine Eschatologie der letzten All-Versöhntheit erscheint wie eine Projektion des Wunsches, die Wunde von Auschwitz gerade in der christlichen Identität endlich geschlossen zu haben. Sie lässt sich aber nicht schließen – vor allem kann sie uns keine Vergebung durch die Opfer schließen. Man möge deshalb die Apokatastasis, das „Tikkun olam“ [41] wirklich den Eschata Gottes überlassen. Unser Tikkun besteht darin, die Risse zu bewohnen, die seit der Shoah das Christentum durchziehen und in ihnen die uns mögliche Aufräumarbeit und die uns mögliche Versöhnung zu leisten.
[1] Eckart Conze/Norbert
Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann, Das
Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in
der Bundesrepublik, München 2010.
[2] Vgl. etwa den Disput
zwischen Norbert Reck und Elisabeth
Gössmann über Michael Schmaus, nachzulesen: Norbert Reck,
„Wer nicht dabei gewesen ist, kann es nicht beurteilen“. Diskurse
über Nationalsozialismus, Holocaust und Schuld in der Perspektive
verschiedener theologischer Generationen, in: Münchener
Theologische Zeitschrift 56 (2005), S. 342-354.
Einschlägig
auch die Studie von Lucia Scherzberg, Kirchenreform
mit Hilfe des
Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe,
Darmstadt
2001. Für die weitere Diskussion zur Theologie im
Nationalsozialismus die Sammelbände: Lucia Scherzberg (Hg.),
Theologie und
Vergangenheitsbewältigung, Paderborn 2005 und
Björn Krondorfer/Katharina von Kellenbach/Norbert Reck, Mit Blick
auf die Täter, Gütersloh 2006.
[3] So im Untertitel seines
Aufsatzes in: Kalonymos.
Beiträge
zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig
Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen, Heft 2/2010,
S. 1-8.
[4] Ebd., S. 7
[5] Jan-Heiner Tück,
Inkarnierte Feindesliebe. Der Messias
Israels und die Hoffnung auf Versöhnung. In: Helmut
Hoping/Jan-Heiner Tück (Hg.), Streitfall
Christologie.
Vergewisserungen nach der Shoah, Freiburg 2005, S. 216-258.
[6] Ebd., S. 224-229
[7] Ebd., S. 230-236
[8] Ebd., S. 217
[9] So ebd., S. 235
[10] Ebd., S. 242
[11] Ebd., S. 243
[12] Ebd., S. 253
[13] Ebd., S. 254
[14] Ebd.
[15] Wie wenig Tück
selbst diese fatale Umkehrung der
üblichen eschatologischen Redeweise zu bemerken scheint, sieht man
an einem Zitat aus einer Eschatologie von Medard Kehl, das Tück in
einer Fußnote anführt: "Bei den Opfern scheint mir die
Möglichkeit einer endgültigen Unversöhnlichkeit weniger
plausibel zu sein", schreibt Kehl - zitiert bei Tück, S. 254. Im
Kontext bei Kehl ist dies natürlich im Vergleich zu den
Tätern gemeint, will sagen: Die Opfer in ihrer Leidensgemeinschaft
mit Christus sieht er der Annahme der Gnade Gottes per se näher
als die Täter des radikal Bösen, die hier erst über
einen gewaltigen Schatten springen müssen. Tück zitiert Kehl
jedoch, um sein letztes Problem der Versöhnungsbereitschaft der
Opfer einer Lösung entgegen zu führen. Das für Kehl
deutlich schwerer wiegende Problem der letzten
Versöhnungs-Verweigerung der Täter bleibt bei ihm völlig
blass. Zwar spricht Tück mehrfach davon, dass auf Seiten der
Täter Erkenntnis und Reue zu fordern sind, aber diese scheint Gott
im Gericht schon irgendwie herbeiführen zu können. (Vgl. S.
256: "Als Täter von Christus, dem Retter, unbedingt angenommen,
können sie mit Christus, dem Richter, das Gericht über sich
und ihre Untaten anerkennen, den Reueschmerz tragen und um Vergebung
bitten.")
[16] Hoping/Tück, Streitfall
Christologie (s. Anm. 5), S. 11.
[17] Magnus Striet,
Christologie nach der Shoah?, in:
Hoping/Tück, Streitfall
Christologie, S. 182- 214, hier: S. 211.
[18] Ralf K.
Wüstenberg, Aufarbeitung
oder Versöhnung?
Vergangenheitspolitik in Deutschland und Südafrika
(Internationale
Probleme und Perspektiven Bd. 18). Schriftenreihe der Landeszentrale
für politische Bildung. Potsdam 2008, S. 7.
[19] Ebd.
[20] Ebd., S. 44 f.
[21] Ebd., S. 62. Diesen
Grundsatz hat sich übrigens auch die
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung des
Unrechts im SED-Staat DDR zu eigen gemacht: "Erst wenn die Wahrheit
offengelegt und Schuld von den Tätern eingestanden ist, kann auch
die Versöhnung zur Sprache kommen." (Zitiert nach ebd., S. 98)
[22] Ebd., S. 64. Dieses
Erschrecken auf Seiten des Täters
ermöglicht es erst, ihn zu "verstehen", d.h. nicht ihn zu
entschuldigen, sondern ihm wieder den Menschen zu erkennen, der stets
mehr ist als die Summe seiner Taten.
[23] Ebd., S. 68.
[24] Ebd., S. 59.
[25] Ebd., S. 62.
[26] Ebd. 63.
Wüstenberg weist daraufhin, dass in der
südafrikanischen Diskussion die "Aufforderung zum Vergeben" an die
Opfer mitunter "aus religiöser Ecke kam", von anderen aber gerade
als "unchristlich" empfunden wurde. (Ebd.)
[27] Ebd., S. 66. Dabei
erkennt Wüstenberg in der
südafrikanischen Amnestie-Praxis durchaus auch Elemente solch
eines illegitimen Gebrauchs des Begriffs Versöhnung. Amnestie
tritt in Südafrika deshalb an die Stelle von Strafprozessen und
der Täter-Opfer-Ausgleich wird deshalb aktiv gefördert, weil
die Stabilität der südafrikanischen Gesellschaft nach der
Apartheid die Integration der alten Eliten, auch die des Militärs
und der Polizei, erfordert. Es gab den Druck zu einem "Neuanfang um
jeden Preis" und dieser führte auch zu einem "strategischen
Missbrauch des Versöhnungsbegriffs" (ebd., S. 129). Das erinnert
an manches, was sich in Deutschland nach 1945 ereignete - ein
Vergleich, den Wüstenberg nicht zieht, weil er Südafrika mit
dem Geschehen nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 vergleicht,
einem Fall von Vergangenheitsbewältigung, in dem es keine junge,
noch instabile Demokratie gab.
[28] Ebd., S. 129.
[29] Vgl. ihre drei
Aufsätze: Theologische Rede von Schuld und
Vergebung als Täterschutz, in: Katharina von Kellenbach/Björn
Krondorfer/Norbert Reck (Hg.), Von
Gott reden im Land der Täter,
Darmstadt 2001, S. 46-67; dann: Christliche Vergebungsdiskurse im
Kontext von NS-Verbrechen, in: Lucia Scherzberg (Hg.) Theologie und
Vergangenheitsbewältigung, Paderborn 2005, S. 179-195;
schließlich: Schuld und Vergebung. Zur deutschen Praxis
christlicher Versöhnung, in: Krondorfer/Kellenbach/Reck, Mit Blick
auf die Täter (s. Anm. 2), S. 227-312.
[30] Vgl. Kellenbach, Christliche
Vergebungsdiskurse, S. 190 f. Es
mutet angesichts dieser Tradition schon merkwürdig an, wenn
Tück George Steiners Formulierung, "Jesus ... revidiert elementare
Instinkte, vor allem die der Rache, in seinem eigenen jüdischen
Wesen" zustimmend zitiert, ohne eine Bemerkung zu der fatalen Funktion
dieses Klischees im christlichen Antijudaismus für nötig zu
halten; so Tück (s. Anm. 5), S. 242.
[31] Für Tück
vgl. dazu S. 237-242. Magnus Striet verbindet
diesen Ansatz mit der dogmatischen Überlegung, dass im Leiden des
Gottessohnes, also einer Person der Trinität, die letzte
Theodizee, also die Aufhebung des Leidens in Gott selbst hinein,
gegeben ist. Darin stellt er sich im Streit zwischen Karl Rahner und
Hans Urs von Balthasar um den Neuchalkedonismus (die Frage nach der
Bedeutung der Zwei-Naturen-Lehre für die Theologie des Kreuzes)
auf von Balthasars Seite; vgl. Striet (s. Anm. 17), S. 200-209. Auf
diese Diskussion kann ich hier nicht näher eingehen.
[32] Schon seit K.
Rahners Überlegungen über „Theologische
Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen“ (In: Schriften
zur Theologie, Bd. IV, Einsiedeln 1960, S. 401-428) dürfte
deutlich sein, dass sich theologische Spekulation über das
„Jenseits“ nicht in einem von der Gegenwart getrennten Raum von
End-Offenbarungen, von christlichem Wissen über die Zukunft
bewegt, sondern auf die absolute Zukunft angewandte Lehre dessen ist,
wie sich Gott uns gezeigt hat und gegenwärtig zeigt. Das
heißt hermeneutisch aber auch im Rückkehrschluss:
Eschatologische Aussagen sind keine Zukunfts-Visionen, die sich
lösen lassen von ihrer pragmatischen Funktion für die
Gegenwart, ihrem Charakter als Gegenwartskritik und ethischem Appell.
Das ist schon und gerade biblisch so und sollte von einer Dogmatik
nicht verdrängt werden.
[33] Unvergesslich ist
mir das Radiostück "Bei uns zu Hause in
Auschwitz" von Bruno Schirra, in dem der den Lagerarzt Hans Münch
in seiner bürgerlichen bayerischen Idylle aufsuchende ehemalige
Häftling Imre Gönczy noch in der Konfrontation wieder in
seine Opferrolle zurückgedrängt wird, während der
Täter sich vor jeder Anfechtung zu schützen weiß. Man
mute sich dieses Stück zu und frage sich dabei, was hier
"Versöhnungsbereitschaft" bewirken, was sie überhaupt
bedeuten soll. (Vgl.
http://www.themen-tv.de/de_G3/605-Das-Feature-Bei-uns-zu-Hause-in-Auschwitz-Der-Jude-und-der-Landarz.html
und den Bericht http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8001833.html)
[34] Zitiert in: „War
Ur-Opa ein Nazi?“, in: ZEIT Magazin
Nr. 45 v.
4.11.2010, S.19.
[35] Ebd. S. 14.
[36] Ebd., S. 15.
[37] Zu den darin
angesprochenen Überlegungen vgl. für
Tück, S. 247-252, ähnlich bei Striet, S. 196-200.
[38] Vom Gericht als der
„Gerechtigkeit schaffenden Macht Gottes“
spricht eindrücklich das Würzburger Synodendokument „Unsere
Hoffnung“ (Unsere Hoffnung 4). Vgl. dazu im Kontext der Diskussion um
Versöhnung jetzt: Lucia Scherzberg, Vergebung ohne Reue?
Christliches Sündenverständnis und Vergebungsritual
angesichts der NS-Verbrechen, in: Bibel
heute 185 (2011) H. 1, S. 26-28.
[39] J.-H. Tück hat
diesen Aspekt auf S. 251 f. deutlich
angesprochen.
[40] So Striet (s. Anm.
17), S. 215. Er fährt dann aber fort:
„und weil das erlösende Wort der Gemordeten noch fehlt“. Der Satz
zeigt damit deutlich die beiden Seiten, worin ich mit den hier
diskutierten Theologen übereinstimme und worin nicht.
[41] Tikkun olam (hebr.)
bedeutet so viel wie „Flicken von allem“ im
Sinne von Reparatur der Welt. Es ist ein traditioneller Gedanke
jüdischer Theologie, den insbesondere Emil Fackenheim in seiner
Theologie nach der Shoah aufgegriffen hat. Vgl. Emil L. Fackenheim, To
mend the World. Foundations of Post-Holocaust Jewish Thought,
Indiana
1994, bes. S. 250-255.
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