Das Verhältnis des Katholizismus zur modernen Demokratie ist nicht
leicht zu fassen. Otto von Bismarck bezeichnete das Zentrum, die Partei
des politischen Katholizismus in Deutschland, einmal als eine Bewegung,
in der „nicht [nur] zwei Seelen“ steckten, sondern gleich „sieben
Geistesrichtungen, die in allen Farben des politischen Regenbogens
schillern, von der äußerste Linken bis zur radikalen
Rechten“. [2] Eugen
Richter, der progressive Parteiführer, sprach von „einer politisch
sehr gemischten Gesellschaft, welche die denkbar schroffsten
Gegensätze in sich vereinigte“ und nur „in den kirchlichen und
religiösen Fragen“ [3]
übereinstimmte. Ob
der Katholizismus nun reaktionär oder fortschrittlich war, liberal
oder sozial, darüber stritten schon die Zeitgenossen; und auch
heute
noch gibt es dazu unterschiedliche Antworten.
Eine grundsätzliche Ambivalenz
Um den Beitrag des Katholizismus zur modernen Demokratie in Europa, zum
Sozialstaat und zur europäischen Einigung zu erfassen, ist es
notwendig, von einer grundsätzlichen Ambivalenz auszugehen. [4] Auf der einen Seite formierte sich
die katholische Bewegung im Laufe des 19. Jahrhunderts gegen die
Umsetzung der Ideen der Aufklärung in der französischen
Revolution. Sie verfocht Prinzipien, die den „Ideen von 1789“ diametral
entgegengesetzt waren. Gegen die Betonung der menschlichen Vernunft und
des Fortschritts propagierte sie die Verbindlichkeit der
göttlichen
Offenbarung und der Tradition des kirchlichen Lehramts. Gegen die Idee
der
Volkssouveränität hielt sie am göttlichen Ursprung der
Staatsgewalt
fest und am Anspruch der Kirche auf Gestaltung der öffentlichen
Ordnung.
Gegen die Tendenzen zur Herausbildung einer modernen
Industriegesellschaft
predigte sie die Einbindung in eine zeitlos harmonische
ständestaatliche
Ordnung. Gegen die Explosion der modernen Wissenschaften setzte sie auf
die Weisheit der mittelalterlichen Scholastik, und gegen den modernen
Nationalismus
entwickelte sie den Ultramontanismus, die absolute Bindung an den Papst
in Rom.
Die antimoderne Ausrichtung des Katholizismus ist immer wieder durch
päpstliche Erklärungen bestätigt und bekräftigt
worden. [5] Das begann mit
Pius VI, der sich nicht damit begnügte, die Zivilkonstitution der
französischen Nationalversammlung zu verurteilen, weil sie die
Kirche, gallikanischer Tradition entsprechend, ganz als
Staatsinstitution behandelte. Vielmehr lehnte er ausdrücklich die
Erklärung der Menschenrechte als mit der katholischen Lehre
unvereinbar ab: unvereinbar im Hinblick auf den Ursprung der
Staatsgewalt, auf die Religionsfreiheit und auf die gesellschaftliche
Ungleichheit. Ihren Höhepunkt erhielt
die antimoderne Ausrichtung mit der prägnanten Verurteilung der
liberalen Ideen durch Puis IX. 1864 in der Enzyklika Quanta cura und dem
beigefügten
Syllabus errorum: Sie richtete
sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, die Gesellschaft
könne ohne
Rücksicht auf die Religion und ohne Rücksicht auf die
Unterschiede
zwischen den verschiedenen Religionen organisiert werden, und
verurteilte
dann Volkssouveränität, Glaubens- und Kultusfreiheit,
Pressefreiheit,
Säkularisierung der gesellschaftlichen Institutionen und Trennung
von
Kirche und Staat als Ausdruck dieses Irrglaubens, ebenso wie
Rationalismus,
Ökonomismus und Sozialismus.
Die globale Absage des Katholizismus an die Moderne war kein Zufall und
auch nicht die Folge unbedachter Eskalation der Gegensätze
kirchenpolitischer Auseinandersetzungen. Die Aufklärung stelle
einen Angriff auf den Monopolanspruch der katholischen Weltdeutung dar,
und die Revolution bedrohte die materiellen Grundlagen der kirchlichen
Machtstellung, besonders seit ihre Führer sich zum Zugriff auf die
Kirchengüter und die geistlichen Fürstentümer
entschlossen hatten. Da war es ganz unwahrscheinlich, dass es der
Kirche gelingen würde, sich rechtzeitig von den traditionellen
Verhältnissen zu lösen und die christlich gestaltbaren, zum
Teil sogar christlich
fundierten Momente des Umbruchs zur Moderne zu erkennen. Viel
näher
lag es, sich in der Abwehr von Aufklärung und Revolution mit all
jenen
Kräften zu verbünden, die gegen die Entwicklung zur Moderne
opponierten,
und in idealistischer Verklärung der vorrevolutionären
Verhältnisse auf die Schaffung eines neuen christlichen
Weltreiches zu hoffen. In den
innerkirchlichen Auseinandersetzungen, die auf die Erschütterung
durch
Revolution und Säkularisierung folgten, hatte der Ultramontanismus
darum
von vorneherein die besseren Karten; und auch bei der Formierung des
Katholizismus
im gesellschaftlichen und politischen Raum stand er bald im
Vordergrund,
während Ansätze zur Bildung eines liberalen Katholizismus
immer
Episoden blieben. [6]
Die Frontstellung gegen die Moderne wurde noch dadurch zusätzlich
gefördert, dass der Papst als Herrscher über den Kirchenstaat
selbst Teil der alten Ordnung war und der Klerus auch in den
übrigen italienischen Staaten über starke Machtpositionen
verfügte. Das legte es allein schon aus Gründen des
Machterhalts nahe, für die Restauration der alten Ordnung zu
kämpfen. Es förderte einerseits den Glauben an die
Durchsetzbarkeit der theoretischen Visionen und bestärkte
andererseits die liberale Bewegung in ihrer Neigung, den Katholizismus
pauschal mit der Reaktion zu identifizieren und entsprechend zu
bekämpfen. In der Tat nahm der Kirchenstaat nach 1815 bald die
Züge eines christlichen Polizeistaates an, der modernem
rechtsstaatlichem Empfinden Hohn sprach; und die Päpste wandten
sich nach 1848 wie nach 1870 dem Bündnis mit den konservativen
Mächten zu, um ihre Herrschaft über den Kirchenstaat wieder
herzustellen. Beides stärkte die ultramontanen Positionen und
entzog denjenigen den Boden unter den Füßen, die an einem
Ausgleich der Kirche mit der modernen Welt arbeiteten. [7]
Auf der anderen Seite ist der
Katholizismus als soziale und politische Bewegung nicht etwa aus
Weisungen der kirchlichen Hierarchie hervorgegangen, sondern aus den
Initiativen vieler Einzelner und Gruppen, wobei Laien häufiger den
Ton angaben als Kleriker. Diese bedienten sich selbst der Mittel des
modernen Rechtsstaats, um die Stellung
der Kirche zu festigen, soweit sie durch die Auflösung der
vorrevolutionären
Geschlossenheit der Lebensordnungen bedroht war. Meinungs- und
Pressefreiheit,
die Parlamente und ihre Mitspracherechte wurden von den Anwälten
der
katholischen Bewegung dazu genutzt, das katholische Volk für die
Anliegen
der Kirche und des Papstes zu mobilisieren und die Kirche als
gesellschaftliche
Kraft in der nachrevolutionären Ordnung zu verankern. Der
Katholizismus stellte damit selbst eine moderne Bewegung dar, deren
Existenz an die Errungenschaften
der Revolution und der Säkularisierung gebunden war – eine moderne
Bewegung
gegen die Moderne sozusagen, die aber allein schon aus Eigeninteresse
keinen
Totalangriff gegen die Moderne führen konnte, vielmehr selbst
Elemente
der Moderne in sich trug und, indem sie verlorengegangen feudale
Stützen
durch die gesellschaftliche und politische Mobilisierung der Katholiken
ersetzte, die Kirche partiell modernisierte.[8]
Darüber hinaus verfocht der ultramontane Katholizismus selbst
liberale Prinzipien, wenn und soweit die Erben der Aufklärung
diese vergaßen. Das galt insbesondere für deren Verbindung
mit der staatskirchlichen Tradition im Protestantismus, aber auch
für die Tendenz zur Entwicklung moderner Staatsallmacht und
für die Verengung der liberalen Bewegung auf die Förderung
bürgerlicher Klasseninteressen. Gewiss: Die
katholische Kritik an diesen Entwicklungen fußte nicht auf der
bewussten
Übernahme liberaler Theoreme. Sie gründete vielmehr teils in
der
Überzeugung von der Unveräußerlichkeit vorstaatlicher
Rechte
und stellte zum Teil auch nur eine opportunistische Ausnützung der
Schwächen der liberalen Gegenspieler dar. Erst recht weitete sie
sich
nicht zu einer Infragestellung der eigenen Weltordnungsanspruche aus,
was
ihre Glaubwürdigkeit natürlich von vorneherein stark
beeinträchtigte.
Dennoch wirkte der Katholizismus mit dieser Kritik bisweilen als
liberales
Korrektiv, das mit dem Kampf für die Befreiung der Kirche von
staatlicher
Bevormundung zugleich an der Erweiterung der Freiheitsrechte des
Einzelnen
und der gesellschaftlichen Gruppen in einem pluralistischen Staatswesen
mitwirkte.
Drittens aktivierte der Katholizismus mit der Mobilisierung breiter
Bevölkerungskreise eine ganze Reihe von Gruppeninteressen, deren
Ziele über die Restaurierung kirchlicher Freiheiten und
Machtpositionen weit hinausgingen, dabei aber
der Bewegung vielfach überhaupt erst die nötige politische
Virulenz verschafften. So artikulierten sich im Widerstand gegen die
aufklärerisch-repressive Kirchenpolitik zugleich die Vorbehalte
traditioneller Eliten gegen den modernen Nationalstaat. Katholische
Bürger verbanden die Opposition gegen das Staatskirchentum mit dem
Kampf für die eigenen Freiheitsrechte im konstitutionellen Staat.
Angehörige der traditionellen Unterschichten ließen sich
für die katholische Sache gewinnen, weil sie zugleich die Abwehr
liberaler Führungs- und Modernisierungsanspruche zu vertreten
schien. Katholische Arbeiter erlebten den Katholizismus als Zuflucht
vor den Zumutungen der
industriellen Arbeitswelt und als möglichen Bundesgenossen bei der
Abwehr der Ausbeutung durch liberale Unternehmer.
In Deutschland, wo sich der Katholizismus zu einer besonders
schlagkräftigen Partei verdichtete, kam zu diesen durchaus
unterschiedlichen sozialen Interessen dann in der
Reichsgründungsära auch noch der latente Protest gegen die
meist protestantischen Führungsschichten in Bürokratie,
Kultur und Wirtschaft, die Abneigung süddeutscher und welfischer
Kreise gegen die preußische Hegemonie und die Opposition von
Elsässern, Lothringern und Polen gegen den deutschen Nationalstaat
überhaupt. Mit all diesen Momenten entwickelte sich der
Katholizismus zu einer politischen Kraft,
die zwar in Selbstbindung an den katholischen Glauben wirkte, aber in
wachsender Unabhängigkeit von Klerus und kirchlicher Hierarchie,
und die damit selbstverantwortetes politisches Handeln ganz im Sinne
der Aufklärung ermöglichte. [9]
Die modernen und modernisierenden Elemente innerhalb des Katholizismus
mussten mit der Zeit um so stärker zur Geltung kommen, als die
erklärten Hauptziele des Ultramontanismus illusionär waren.
Wissenschaftlicher Fortschritt, Säkularisierung und
Industrialisierung waren nicht aufzuhalten, und die verschiedenen
Emanzipationsbewegungen, die sich daraus entwickelten, konnten wohl
für eine gewisse Zeit unterdrückt, aber letztlich
nicht mehr rückgängig gemacht oder aufgelöst werden.
Eine
Rückkehr zur christlichen Fundierung der weltlichen Ordnung war
darum
ebenso wenig zu erreichen wie eine Verwirklichung der
ständestaatlichen
Vorstellungen, die man aus einem idealisierten Mittelalter-Bild
abgeleitet
hatte. Nach 1870 konnte auch nicht länger verborgen bleiben, dass
in
der Welt der Nationalstaaten und des Imperialismus kein Platz mehr war
für
die Wiederherstellung des Kirchenstaates. Erreichbar waren allenfalls
eine
Sicherung der Freiheit der Kirche als einer Gruppe unter vielen und die
Unabhängigkeit
ihres geistlichen Oberhaupts. Christliches Wirken in diese plurale Welt
hinein war nur möglich, wenn und soweit sich die Kirche den
nachrevolutionären Verhältnissen stellte.
Entsprechend ließ der ultramontane Eifer der Kirche mit der Zeit
tatsächlich nach. In gewisser Weise war das schon beim Ersten
Vatikanischen Konzil zu spüren: Die Verkündigung des
Jurisdiktionsprimats und des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes
stellte zwar einen Triumph der Ultramontanen dar und lag auch ganz in
der Konsequenz ultramontanen Denkens. Indem sie dem Papsttum die volle
Kontrolle über den Gebrauch der bürgerlichen Freiheiten durch
die Katholiken sicherte, rüstete sich die Kirche aber gleichzeitig
für eine Situation, in der die traditionellen Machtmittel feudaler
Prägung nicht mehr zur Verfügung standen. Von den materiellen
Machtmitteln der alten Kirche, die noch kurz zuvor im Syllabus
eingeklagt worden waren, war nicht mehr die Rede, nur noch von der
geistlichen Autorität des Papstes. 1885 ließ Leo XIII. dann
in der Enzyklika Immortale Dei
eine (wenn auch noch sehr vorsichtige) Distanzierung vom monarchischen
Legitimitätsprinzip erkennen. Gleichzeitig hielt er
französische Katholiken von der Bildung einer offen
gegenrevolutonären Partei ab und drängte sie zur
Verständigung, zum „Ralliement“ mit der Republik. Sechs Jahre
später, 1891, rückte er in der Enzyklika Rerum novarum auch von der
Fixierung auf ein ständisches Gesellschaftsverständnis ab.
Nach der Jahrhundertwende folgte, nach vergeblichen Anläufen schon
in den 1880er Jahren, die schrittweise Aufhebung des „Non expedit“, das
die italienischen Katholiken bis dahin von einer Beteiligung an den
allgemeinen politischen Wahlen der Republik abgehalten hatte. [10]
Rerum novarum und
Demokratisierung
Rerum novarum hatte insofern
eine mobilisierende Wirkung, als der Papst hier neben dem
natürlichen
Recht auf privates Eigentum auch die Rechte der Armen auf würdige
Behandlung und „gerechten Lohn“ betonte und die natürliche
Legitimität und Effektivität intermediärer sozialer
Organisationen und Kollektive (der Familien, Assoziationen, Kirchen und
Bruderschaften) hervorhob. Dem Staat wurde zwar eine soziale
Verpflichtung in Krisensituationen auferlegt; in erster Linie wurden
aber nach dem Prinzip der Subsidiarität die intermediären
Gruppen gefordert, die Lösung der „sozialen Frage“ in die Hand zu
nehmen. Das war unterschiedlich interpretierbar und ist auch
unterschiedlich interpretiert worden, als Kritik am Kapitalismus ebenso
wie als Aufruf zum Kampf gegen
den revolutionären Marxismus. Eindeutig war in jedem Fall die
Forderung
nach Solidarität und Subsidiarität. Indem Leo XIII. sie in
den
Mittelpunkt seiner Botschaft zum Umgang mit den Realitäten der
industriellen
Moderne stellte, gab er den Selbsthilfe-Strategien katholischer
Reformer
und einer katholischen Arbeiterbewegung starken Auftrieb. Das Auftreten
sozialreformerischer und christdemokratischer Gruppen wie Marc
Sangniers Le Sillon in
Frankreich muss in diesem Zusammenhang gesehen werden, ebenso die
Entwicklung des Volksvereins
für das katholische Deutschland zu einer mächtigen
Reformbewegung, die Bildung christdemokratischer Parteien in Polen, die
Entwicklung der katholischen Parteien in Belgien und
den Niederlanden zu Volksparteien, die die Emanzipation der
Benachteiligten auf ihre Fahnen schrieben, und das Aufkommen
machtvoller christlicher Gewerkschaften in vielen Ländern.[11]
Im deutschen Kaiserreich führte die Mobilisierung
gesellschaftlicher Kräfte im „Kulturkampf“ zu einem aktiven
Eintreten der Zentrumspartei für die „bürgerliche Freiheit
aller Angehörigen des Reiches“. Unter der Führung des
entschieden konstitutionell ausgerichteten Ludwig Windthorst schreckte
die Partei nicht davor zurück, bei der Verfechtung
rechtsstaatlicher Prinzipien wie der Wahrung der Rechte des Reichstags
mit Progressiven wie mit Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten. 1878
lehnte die Zentrumsfraktion im Reichstag Bismarcks Sozialistengesetz
geschlossen ab. In den 1890er Jahren wirkte sie als verlässliche
Barriere gegen alle Pläne Wilhelms II. zur Einschränkung der
Rechte des Reichstags
und Abschaffung des gleichen Wahlrechts bei den Reichstagswahlen. Am
Vorabend des Ersten Weltkriegs schickte sie sich im Verein mit den
Nationalliberalen an, die Reichsleitung durch schrittweise
Stärkung der Reichstagsrechte in dauernde Abhängigkeit von
einer parlamentarischen Mehrheit zu bringen. [12]
Vom Oktober 1918 an arbeitete das Zentrum konstruktiv an der
Etablierung der Weimarer Republik mit. Es akzeptierte die Abschaffung
der Monarchie
ebenso wie die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts
einschließlich des Frauenwahlrechts, auch in Preußen.
Zusammen mit den ideologischen Hauptgegnern, den Progressiven und den
Sozialdemokraten, arbeitete es die Weimarer Reichsverfassung und die
republikanischen Länderverfassungen aus und bildete mit ihnen die
„Weimarer Koalition“ – die einzige Gruppierung in der deutschen
Parteienlandschaft, die uneingeschränkt hinter der
Weimarer Demokratie stand. In den zahlreichen Krisen der Weimarer
Republik
war die Zentrumspartei immer wieder bereit, Regierungsverantwortung
entsprechend
den Grundsätzen der Verfassung zu übernehmen. [13]
Ähnlich wirkte die Christlichsoziale Partei in Österreich im
Verein mit den Sozialdemokraten an der Etablierung der Ersten Republik
mit. Die Partito Popolare Italiano
(PPI), die Luigi Sturzo nach der Aufhebung des „Non expedit“ 1919 ins
Leben gerufen hatte, wurde mit einem pragmatischen Reformprogramm zur
stärksten Kraft in den Regierungen der Endphase des liberalen
Staates in Italien. Die kleine Parti
Démocratique Populaire (PDP) in Frankreich verfolgte
einen ähnlichen Kurs, ebenso die katholischen Volksparteien
Mittel- und Osteuropas. Die Römisch-Katholische
Staatspartei in den Niederlanden bewegte sich unter heftigen
innerparteilichen Spannungen von einer Koalition mit den Protestanten
zu einer Koalition mit den Sozialdemokraten; die Katholische Union in Belgien
wirkte nach dem Verlust der absoluten Mehrheit 1919 in demokratischen
Regierungskoalitionen mit. [14]
Antimodernismus und
autoritäre Versuchung
Die Abkehr der Kirche von den ultramontanen Weltordnungsvorstellungen
ging allerdings nur sehr zögernd vonstatten. Ihre Amtsträger
blieben noch lange von der Sehnsucht nach Wiederherstellung
vorrevolutionärer Zustände geprägt. Sie betrachteten die
moderne Welt mit Misstrauen und zogen sich eher auf den
innerkirchlichen Bereich zurück, als neue Ordnungsvorstellungen zu
entwickeln, die den Realitäten der Zeit angemessen waren. Auf den
Diplomaten Leo XIII., der in seinen Anfangsjahren gehofft
hatte, die äußere Machtstellung der Kirche durch eine
Verständigung mit den konservativen Regierungen stärken zu
können, folgte 1930 der Seelsorger Pius X., der sich unter
Vernachlässigung der politischen Ambitionen auf innere Reformen
der Kirche konzentrierte. Getragen wurde
er dabei von einer breiten religiösen Erneuerungsbewegung, die der
religiösen Praxis mit Herz-Jesu-Verehrung, marianischer
Frömmigkeit
und Eucharistischen Kongressen ein zugleich individualisierendes und
weltabgewandtes
Gepräge gab. Ansätze zur Rehistorisierung theologischen
Denkens,
wie sie von einer breiten und vielfältigen Strömung
„reformkatholischer“
Theologen seit Mitte der 1890er Jahre entwickelt wurden, zerbrachen an
der
Intoleranz sowohl der Masse der Gläubigen als auch der
Kirchenleitung.
Immer rigidere Maßnahmen gegen eine „modernistische“ Irrlehre
(die
es in der vermuteten Geschlossenheit gar nicht gab) wirkten als
Barrieren
gegen eine aktive Auseinandersetzung der Kirche mit den Problemen der
modernen
Welt. [15]
Die Angst vor der Moderne ließ die kirchlichen Autoritäten
wiederholt intervenieren, wenn sich Gruppierungen des sozialen oder
politischen
Katholizismus allzu stark für die Sicherung von Freiheitsrechten
und
Emanzipation engagierten. So sprach Pius X. 1910 ein Verbot des Sillon aus, der in seiner Sicht
Religion
und Politik allzu sehr vermischte und das Engagement für die
soziale
und partizipative Demokratie unzulässigerweise religiös
begründete.
1912 entgingen die Christlichen Gewerkschaften in Deutschland nur knapp
einem
päpstlichen Verbot, weil sie auf einer interkonfessionellen
Ausrichtung
der Arbeitervertretungen und der damit einhergehenden Autonomie
beharrten.
Nach der Verkündigung der Enzyklika Singulari quadam mussten sie mit
dem
Stigma leben, vom Papst nur als unvermeidliche Ausnahme geduldet zu
werden.
Nach dem Ersten Weltkrieg verurteilte der Münchener Kardinal
Michael
Faulhaber die Weimarer Republik als Kind der Revolution. Papst Pius XI.
distanzierte sich von der italienischen Volkspartei und wandte sich
gegen eine Zusammenarbeit von „Populari“ und Sozialisten zur
Verhinderung des Sieges des Faschismus. Die niederländischen
Bischöfe verboten dem Vorstand der Staatspartei die Zusammenarbeit
mit den Sozialisten und warnten in Hirtenbriefen regelmäßig
vor dem Sozialismus als gefährlichstem Gegner der Kirche und der
Religion. [16]
Ein offensives Eintreten für die parlamentarische Demokratie war
den Führern des politischen Katholizismus unter diesen
Umständen
nicht möglich. Matthias Erzberger, der Hauptarchitekt der Weimarer
Koalition, wurde von seiner Partei im Stich gelassen, als er 1920 ins
Schussfeld
der antirepublikanischen Rechten geriet. Joseph Wirth versuchte
vergeblich,
das Zentrum in eine republikanische Massenbewegung umzuwandeln und so
eine
verlässliche Stütze für die Behauptung der Republik
gegenüber
ihren erklärten Feinden zu schaffen. Die Republikanische Union, mit der er
von
1926 an für die Erneuerung der Weimarer Koalition warb, fand nur
bei
Teilen des badischen Zentrums, der katholischen Arbeiterbewegung und
der
Parteijugend Resonanz. Die entscheidenden Führungsgremien und die
maßgeblichen
Presseorgane der Partei blieben auf Distanz. Die Zentrumsführer
begnügten
sich damit, ihr Engagement für die Republik defensiv zu
rechtfertigen,
als notwendig zur Vermeidung von Revolution und Bürgerkrieg. [17]
In Italien geriet Sturzo bei seinem Versuch, die Partei vor der
Vereinnahmung durch die Faschisten zu retten, in die Minderheit. Im
Oktober 1922 beschloss die Fraktionsführung gegen seinen Willen
die Beteiligung an der ersten Regierung Mussolini; im Juni 1923 sah er
sich gezwungen, nicht zuletzt unter dem Druck des Vatikans, von seinem
Amt als Parteisekretär zurückzutreten. Prominente Vertreter
des konservativen Parteiflügels stimmten für ein Wahlgesetz,
das den Faschisten eine Zweidrittel-Mehrheit sicherte; andere traten
aus der Partei aus. Vom Papst und den Bischöfen desavouiert,
wussten die verbliebenen „Populari“ ihrer Entmachtung und
schließlich dem Verbot der Partei 1926 keinen Widerstand mehr
entgegen zu setzen. [18]
Die Integrationsbemühungen der Parteiführer konnten nicht
verhindern, dass „Rechtskatholiken“ wie Martin Spahn in Deutschland
oder Josef Eberle in Österreich die republikanische Staatsform als
„Verfassung ohne Gott“ ablehnten und die Regierungspolitiker heftig
angriffen. Mehr noch: Unter
dem Eindruck der Mühen parlamentarischer Koalitionsbildung und
wirtschaftlicher Bedrängnis der Mittelklassen breitete sich eine
inhaltlich diffuse Sehnsucht
nach Gemeinschaft aus, die vom Unbehagen an der zunehmenden
Entchristlichung und Individualisierung der modernen Welt lebte und die
Republik mit dieser Moderne identifizierte. Ihr Ventil fand sie in
allerlei Visionen von einer „organischen Demokratie“ und einem neuen
„Reich“, die in der Geringschätzung der „westlichen
Formaldemokratie“ übereinstimmten und auf eine
Entparlamentarisierung der politischen Ordnung hinausliefen. [19]
Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Entwicklung der
offiziellen katholischen Soziallehre. Der deutsche Jesuit Heinrich
Pesch baute die Verbindung von Solidaritätsgebot und Forderung
nach gesellschaftlicher Selbstorganisation in Rerum novarum zum Programm einer
Wirtschaftsordnung aus, die vorwiegend auf körperschaftlich
organisierten Berufsständen aufgebaut sein sollte. Seine
Schüler Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning entwickelten
diesen „Solidarismus“ zu einem
umfassenden Gesellschaftsmodell weiter, das auf eine korporatistische
Neuordnung des Staates hinauslief. Dieses fand Eingang in die
Sozialenzyklika Quadragesimo anno,
mit der Papst Pius XI. 1931 den vierzigsten Jahrestag von Rerum novarum würdigte und
die
im Wesentlichen von Nell-Breuning verfasst wurde. Obwohl Gundlach und
Nell-Breuning
in ihren Kommentaren stets betonten, dass die „berufsständische
Ordnung“,
deren Einrichtung die Enzyklika forderte, mit den Prinzipien der
parlamentarischen
Demokratie vereinbar sei, wurde sie vielfach als Alternative
verstanden,
die an ihre Stelle treten sollte. [20]
Quadragesimo anno wirkte
damit als Katalysator bei der Ablösung
parlamentarisch-demokratischer Regime durch neue autoritäre
Ordnungen. [21] Das
Zentrum trug den Versuch Heinrich Brünings
mit, mit Hilfe von Präsidialkabinetten zum Regieren „über den
Parteien“ zurückzukehren, und plädierte dann für die
Schaffung
einer nicht näher definierten „autoritären Demokratie“. De
facto
befand es sich spätestens seit dem nationalsozialistischen Erfolg
in
den Reichstagswahlen vom September 1930 mit den Nationalsozialisten und
diversen anderen Kräften der politischen Rechten in der Konkurrenz
um
eine autoritäre Lösung der Staatskrise im Zeichen der
„nationalen Sammlung“. Dass es dabei letztlich den Kürzeren zog,
war zwar nicht
notwendig, aber angesichts seiner inneren Spaltungen und der
verbliebenen rechtsstaatlichen Skrupel durchaus konsequent.
Desorientiert und gespalten,
selbst von Sehnsüchten nach Führertum und „organischer“
Gemeinschaft
durchzogen, dazu nach wie vor auf Loyalität gegenüber der
herrschenden
Obrigkeit fixiert, wurde es nach dem 30. Januar 1933 zu einem leichten
Opfer nationalsozialistischer Gewaltdrohungen. [22]
In Österreich arbeitete Parteiführer Ignaz Seipel seit der
Mitte der 1920er Jahre mehr und mehr auf einen ständestaatlichen
Umbau der Republik hin. Singulari
quadam interpretierte er offensiv als Auftrag zur Beseitigung
des bisherigen demokratischen Parteienstaates. Dagegen gab es so gut
wie keinen Widerspruch. Engelbert Dollfuß, seit dem Frühjahr
1932 amtierender christlichsozialer Reichskanzler, konnte daher auch
nach der Lahmlegung des Parlaments im März 1933 im Amt bleiben und
die Durchsetzung einer entschieden
antiparlamentarisch-korporatistischen Verfassung in die Wege leiten.
Von Mussolini gedrängt und von der Entwicklung in Deutschland
fasziniert setzte er nach der Linzer Schutzbundrevolte
vom 12. Februar 1934 die Ausarbeitung einer autoritären
Verfassung durch, die Parteibildungen ganz verbot. Den
Christlichsozialen, soweit sie nicht von sich aus auf die neue
autoritäre Linie umgeschwenkt waren, blieb nur noch die
Auflösung der Partei. [23]
In die gleiche Richtung wirkte die Fortentwicklung christdemokratischen
Denkens zum „Personalismus“, wie sie junge Intellektuelle wie Raymond
de Becker
in Belgien und Emmanuel Mounier in Frankreich in den 1930er Jahren
betrieben.
Ihre Visionen von einem revolutionären „Dritten Weg“ zwischen
liberalem
Individualismus und sozialistischem Kollektivismus verbanden die
Forderung
nach allseitiger Entfaltung der Persönlichkeit in ihrem sozialen
Kontext
mit vagen Vorstellungen von konstruktiver Zusammenarbeit der sozialen
Korporationen,
Regionen und Nationen. Entsprechend war de Becker nach der Besetzung
Belgiens durch die Deutschen im Juni 1940 bereit, als neuer Herausgeber
der führenden
Tageszeitung Le Soir an der
Propagierung
der „neuen Ordnung“ unter nationalsozialistischer Vorherrschaft
mitzuwirken. Mounier und führende Theologen des renouveau catholique wie Henri de
Lubac engagierten sich als Lehrkräfte in der Kaderschmiede des
Vichy-Regimes im Schloss von Uriage, die die künftigen Eliten der
„nationalen Revolution“ in Frankreich ausbildete. [24]
In der Schweiz gewann die jungkonservative Bewegung eine Mehrheit der
Konservativen Volkspartei für die Unterstützung des Antrags
auf
Revision der Schweizerischen Bundesverfassung, mit dem 1935 eine
Umwandlung
der liberalen Demokratie in einen autoritären korporatistischen
Staat
durchgesetzt werden sollte. In der Tschechoslowakei fanden sich
ständestaatlich
orientierte Katholiken bereit, mit den Nationalsozialisten
zusammenzuarbeiten:
Deutsche Christlichsoziale schlossen sich der Sudetendeutschen Partei an; die Slowakische Volkspartei unter Jozef
Tiso übernahm die führende Rolle bei der Konstituierung des
slowakischen
Satellitenstaates im März 1939. In Ungarn gehörte die Christliche Wirtschaftliche und Soziale
Partei
(Keresztény Gazdasági és Szociális
Párt) zu den Stützen des Horthy-Regimes. Erst 1944
bildete sich eine Christlich-Demokratische
Volkspartei (Kerésztény Democrata Néppárt),
die einen antifaschistischen Reform-Katholizismus vertrat. [25]
Die Christdemokratie
nach dem Zweiten Weltkrieg
Eine grundsätzliche Befürwortung der parlamentarischen
Demokratie setzte sich im Katholizismus erst nach dem Zweiten Weltkrieg
durch. Konservative Katholiken wie christliche Demokraten, die
zunächst der autoritären Versuchung erlegen waren, lernten in
der Konfrontation mit der Praxis diktatorischer Regime vielfach das
Prinzip der Machtverteilung und den Wert der personalen Freiheit
schätzen. Einzelne und kleine Gruppen, die für ihre
Überzeugungen in den Widerstand gingen, entdeckten in der
existenziellen Gefahr der Untergrundarbeit, in gemeinsamer Haft oder
unter den schwierigen Umständen des Exils
das hohe Maß an Gemeinsamkeiten der Demokraten über
weltanschauliche Grenzen hinweg.1 Vor allem aber ließen die
Vorgaben der Siegermächte, die mit der Befreiung vom
Nationalsozialismus die Durchsetzung der Demokratie in Europa auf ihre
Fahnen geschrieben hatten, eine weitere Orientierung
an autoritären Ordnungsvorstellungen nicht mehr zu. [26]
Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte
die Wiedergründung von Parteien in der Tradition des politischen
Katholizismus daher fast ausnahmslos unter christdemokratischen
Vorzeichen. In Deutschland war sie mit einem Brückenschlag zu den
protestantischen Christen verbunden, wie ihn bürgerliche
Modernisierer und katholische Arbeiterführer lange vergeblich
verlangt hatten. Auch anderswo ging mit der Neugründung ein
weiterer Schritt der Emanzipation von der kirchlichen Obrigkeit und
der Öffnung für Andersdenkende einher. In Frankreich konnte
die
christdemokratische Volksbewegung (Mouvement
Républicain Populaire) jetzt die Mehrheit der kirchlich
orientierten
Katholiken für sich gewinnen. In Polen avancierte die
linkskatholisch
orientierte Arbeitspartei zur stärksten Kraft der Exilregierung.
Angesichts
nachlassender kirchlicher Bindungen der Anhänger und Wähler
konnte
die Kirche diese Emanzipationsbewegungen auch kaum mehr abbremsen.
Mit der nunmehr eindeutigen Orientierung an der parlamentarischen
Demokratie trugen die christdemokratischen Parteien nach dem Zweiten
Weltkrieg wesentlich zur Errichtung stabiler Demokratien in Europa bei.
Ihr ideologisches Erbe ließ sie – bei unterschiedlichen, oft
einander bekämpfenden Vorstellungen im Einzelnen – für eine
soziale Ausgestaltung der Demokratien und für eine Stärkung
der dezentralen Einheiten eintreten. Machtpolitisch trug das starke
Gewicht katholischer Standesorganisationen wie der Bauernverbände
und der Gewerkschaften zur Praxis korporativen Verhandelns im dem
demokratischen Rahmen bei. Gleichzeitig führten die Verwurzelung
der christdemokratischen Parteien in der katholischen Tradition und das
hohe Maß an gemeinsamen Erfahrungen auf dem Weg zur
demokratischen Ordnung zu einer besonderen Aufgeschlossenheit für
die Idee der europäischen Einigung. Dass der europäische
Zusammenschluss zu Beginn der 1950er Jahre mit jenen sechs Ländern
begann,
in denen die Christdemokraten entweder die führende
Regierungspartei darstellten oder zumindest über eine
Schlüsselrolle in der Regierung verfügten, ist darum kein
Zufall.[27] In allen
diesen Ländern arbeiteten
christliche Gewerkschafter mit ihren sozialdemokratischen Kollegen
zusammen.
Sie stärkten dadurch den reformistischen Flügel der
sozialistischen
Arbeiterbewegung und brachten beide – die Arbeiterorganisationen wie
die
christ- und sozialdemokratischen Parteien – dazu, mit den jeweiligen
Regierungen
über den Ausbau des Wohlfahrtsstaats zu verhandeln.
Eine theoretische Durchdringung dieser demokratischen Praxis, ein
grundsätzliches Bekenntnis zum politischen Pluralismus und zur
parlamentarischen Demokratie, ließen freilich weiter auf sich
warten. Sie gingen erst mit dem Verblassen der traditionellen
Milieubindungen einher, das parallel zum kirchlichen „Aggiornamento“ in
den 1960er Jahren erfolgte. Erst Papst Johannes XXIII. bekannte sich
ausdrücklich zum Gleichheitsprinzip und zu seinen
politisch-sozialen Konsequenzen. In der Enzyklika Pacem in terris
erklärte er, dass „alle Menschen in der Würde ihrer Natur
gleich sind“ [28], und
zog daraus weitreichende staats- und gesellschaftspolitische
Konsequenzen: die Forderung nach Unverletzlichkeit der Grund- und
Menschenrechte, insbesondere des Rechtes auf soziale Sicherheit, die
Forderung nach Gleichberechtigung von Mann und Frau, Beseitigung von
Rassendiskriminierungen, Schutz nationaler Minderheiten und Hilfe
für
Entwicklungsländer. Die Menschenrechte schlossen für ihn das
„Recht
auf Irrtum“ ein; damit bekannte er sich implizit auch zum Recht auf
Religionsfreiheit
und zum Prinzip der Toleranz.
Für die Praxis der christdemokratischen Parteien war das
unterdessen eine Begründung unter vielen; und längst nicht
alle Christdemokraten teilten die Forderung nach wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Mitbestimmung, die Johannes XXIII. in Mater et magistra wie die
französischen Personalisten aus dem Recht auf Entfaltung der
Person ableitete. [29]
Die späte Ankunft der katholischen Kirche in der Moderne fiel so
mit dem Ausklingen einer Sonderbeziehung zu einer politischen und
gesellschaftlichen Formation zusammen.
Auf lange Sicht können die Ideen von Solidarität und
Subsidiarität in den gegenwärtigen Debatten im kontinentalen
Europa über die
Zukunft des Sozialstaates als Erbe der katholischen Erfahrung
betrachtet
werden. Vielleicht helfen sie dabei, einen Ausgleich zwischen
Eigeninitiative
und staatlicher Unterstützung zu schaffen und für die
schwächer gewordenen nationalen Instrumente Lösungen auf
europäischer Ebene zu finden.
[1] Beitrag zur Konferenz
The Two Wests: Democracy, Citizenship
and
Social Rights in the United States and Europe (1918-2008) vom
22.-23.
Mai 2008 an der Universität Turin, in englischer Sprache
veröffentlicht unter dem Titel Social Rights and Democracy in
European Catholic Thought
in: Alice Kessler-Harris / Maurizio Vaudagna (Hgg.), Democracy and
Social
Rights in the 'Two Wests', Torino 2009, S. 143-156.
[2] Heinrich Poschinger
(Hg.), Fürst Bismarck und die
Parlamentarier, Bd. 3, Breslau 1896, S. 231.
[3] Eugen Richter, Im alten Reichstag. Erinnerungen,
Berlin 1894, S. 6.
[4] Siehe Wilfried Loth,
Katholizismus und Moderne. Überlegungen zu einem dialektischen
Verhältnis, in: Frank Bajohr / Uwe Lohalm (Hgg.), Zivilisation und Barbarei. Die
widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev
Peukert zum Gedenken, Hamburg1991, S. 83-97; John W. Boyer,
Catholics,
Christians and the Challenges of Democracy. The Heritage of the
Nineteenth
Century, in: Wolfram Kaiser / Helmut Wohnout (Hgg.), Political Catholicism in Europe 1918-1945,
London / New York 2004, S. 7-45.
[5] Siehe Leif Grane, Die Kirche im 19. Jahrhundert.
Europäische Perspektiven, Göttingen 1987; Hugh McLeod,
Secularisation in Western Europe
1848-1914, London / New York 2000; René Remond, Religion and Society in Modern Europe,
Oxford 1999.
[6] Christoph Weber,
Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in: Wilfried Loth
(Hg.), Deutscher Katholizismus im
Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991, S. 20-45
[7] Faszinierende
Insider-Informationen über die päpstliche Politik dieser Zeit
finden sich bei August
Bernhard Hasler, Pius IX.
(1848-1878),
päpstliche Unfehlbarkeit und I. Vatikanisches Konzil.
Dogmatisierung
und Durchsetzung einer Ideologie, 2 Bde., Stuttgart 1977;
ders.,
Wie der Papst unfehlbar wurde. Macht
und Ohnmacht eines Dogmas, München 1979.
[8] Dazu und zum Folgenden
s. Wilfried Loth, Integration und Erosion: Wandlungen des katholischen
Milieus in Deutschland, in: Loth, Deutscher
Katholizismus, S. 266-281; ders., Soziale Bewegungen im
Katholizismus des Kaiserreichs,
in: Geschichte und Gesellschaft 17
(1991), S. 279-310; Margaret Lavinia Anderson, Windthorst. A Political Biography,
Oxford
1981; Wilfried Loth, Katholiken im
Kaiserreich.
Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen
Deutschlands, Düsseldorf 1984; Paul Misner, Social Catholicism in Europe. From the
Onset of Industrialization to the First
World War, New York 1991.
[9] Für eine
Einschätzung aus jüngerer Zeit s. Wilfried Loth, Bismarcks
Kulturkampf. Modernisierungskrise, Machtkämpfe und Demokratie, in:
Anselm Doering-Manteuffel / Kurt Nowak (Hgg.), Religionspolitik in Deutschland. Von der
Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65.
Geburtstag, Stuttgart 1999, S. 149-163.
[10] S. die ausgewogene
Darstellung bei Oskar Köhler und Roger Aubert in: Hubert Jedin
(Hg.),
Handbuch der Kirchengeschichte,
Bd. 6.2, Freiburg / Basel / Wien 1973, S. 3-27, 195-264, 316-344,
391-500.
[11] S. John
Molony, The Worker Question. A New
Historical
Perspective on Rerum Novarum, Dublin 1991; Francis P. McHugh /
Samuel
M. Natale (Hgg.), Things Old and New.
Catholic Social Teaching Revisited, Lanham 1993; Jeanne Caron, Le Sillon et la démocratie
chrétienne, 1894-1910, Paris 1967; Jochen-Christoph
Kaiser / Wilfried Loth (Hgg.), Soziale
Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik,
Stuttgart 1997.
[12] Margaret L.Anderson,
The Kulturkampf and the Course of German History, in: Central European History 10 (1986),
S. 82-115; Wilfried Loth, Zwischen autoritärer und demokratischer
Ordnung. Das Zentrum in der Krise des Wilhelminischen Reiches, in:
Winfried Becker (Hg.), Die
Minderheit als Mitte. Die Deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik
des Reiches 1871-1933, Paderborn 1986, S. 47-69; Wilfried Loth,
Der Katholizismus und die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland,
in: Horst Lademacher / Walter Mühlhausen
(Hgg.), Freiheitsstreben, Demokratie,
Emanzipation. Aufsätze zur politischen Kultur in Deutschland und
den Niederlanden, Münster 1993, S. 215-243
[13] Karsten Ruppert, Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum
als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923-1930,
Düsseldorf 1992; ders., Die weltanschaulich bedingte Politik der
Deutschen Zentrumspartei in ihrer Weimarer Epoche, in: Historische Zeitschrift 285 (2007),
S. 49-97; Jürgen Elvert, Gesellschaftlicher Mikrokosmos oder
Mehrheitsbeschaffer im Reichstag? Das Zentrum 1918-1933, in: Michael
Gehler / Wolfram Kaiser / Helmut Wohnout (Hgg.), Christdemokratie in Europa im 20.
Jahrhundert, Wien 2001, S. 160-180
[14] Helmut Wohnout,
Bürgerliche Regierungspartei und weltlicher Arm der Katholischen
Kirche. Die Christlichsozialen in Österreich 1918-1934, in: Kaiser
/ Gehler / Wohnout, Christdemokratie,
S. 181-207; Tiziana di Maio, Zwischen
Krise des liberalen
Staates, Faschismus und demokratischer Perspektive. Die Partito
Populare
Italiano 1919-1926, ebd., S. 122-142; Jean-Claude Delbreil, Le parti démocrate populaire. Un
parti démocrate-chrétien français de l’entre-deux
guerres, ebd., S. 98-121; Jan Roes, Ein historischer Umweg. Die
Katholische Staatspartei in den Niederlanden vor dem Zweiten
Weltkrieg, ebd., S. 143-149; Emmanuel Gerard, The Emergence of a People’s Party: The
Catholic Party in Belgium 1918-1945, ebd., S. 98-121.
[15] Thomas Michael
Loome, Liberal Catholicism, Reform
Catholicism, Modernism. A Contribution to a New Orientation in
Modernist Research, Mainz 1979; zur religiösen Erneuerung
s. David Blackbourn, Marpingen.
Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany,
Oxford 1993; Ruth Harris, Lourdes.
Body and Spirit in the Secular Age, New York 1999; Norbert
Busch, Frömmigkeit als Faktor des katholischen Milieus. Der Kult
zum Herzen Jesu, in: Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hgg.), Religion im Kaiserreich. Milieus –
Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1966, S. 136-165;
Olaf Blaschke, Die Kolonisierung der
Laienwelt. Priester als Milieumanager und die Kanäle klerikaler
Kuratel, ebd., S. 93-135.
[16] Emile Poulat, Catholicisme, démocratie et
socialisme. Le mouvement catholique et Mgr. Benini de la naissance du
socialisme à la victoire du fascisme, Tournai / Paris
1977; Loth, Katholiken im Kaiserreich,
232-27; Heinrich Lutz, Demokratie im
Zwielicht. Der Weg
der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914-1925,
München 1963; Di Maio, Popular
Party, S. 143-145; Roes, Roman
Catholic State Party, S. 89-90.
[17] Loth, Der Katholizismus und die Durchsetzung der
Demokratie, S. 238-242.
[18] di Maio, Partito Popolare Italiano, S.
135-138.
[19] Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher
Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur 1929-1934,
München 1969; Gabriele Clemens, Martin
Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik,
Mainz 1983; Wohnout, Die
Christlichsozialen, S. 192-193.
[20] Siehe Anton
Rauscher, Sozialismus, in: ders. (Hg.), Der soziale und politische Katholizismus.
Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, Bd. I, München
/ Vienna 1981, S. 294-339; Michael Klöcker, Erneuerungsbewegungen
im römischen Katholizismus, in: D. Krebs / Jürgen Reulecke
(Hgg.), Handbuch der deutschen
Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 565-580.
[21] Dazu und zum
Folgenden s. Richard J. Wolff / Jörg K. Hoensch (Hgg.), Catholics, the State and the European
Radical Right 1919-1945, Boulder 1987.
[22] Siehe Rudolf Morsey,
Der Untergang des politischen
Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem
Selbstverständnis und „Nationaler Erhebung“ 1932/33,
Stuttgart 1977; Klaus Schönhoven, Zwischen Anpassung und
Ausschaltung. Die bayerische Volkspartei in der Endphase der Weimarer
Republik, in: Historische Zeitschrift
224 (1977), S. 340-378.
[23] Wohnout, Die Christlichsozialen, S. 198-203.
[24] John Hellman, Die
katholische nationale Revolution in Frankreich 1922-1944, in: Lucia
Scherzberg (Hg.), Vergangenheitsbewältigung
im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus,
Paderborn 2008, S. 78-101; Wilfried Loth, Französischer Katholizismus zwischen
Vichy und Résistance, ebd., S. 145-152.
[25] Lukas
Rölli-Alkemper, Swiss Conservative Catholics between Emancipation
and Integration: The Conservative People’s Party 1918-1945, in: Kaiser
/ Gehler / Wohnout, Christdemokratie,
S. 208-223; Arnold
Suppan, Katholische Volksparteien in
Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit am Beispiel der Tschechen und
Slowaken,
ebd., S. 273-293; Csaba Fazekas, Collaborating
with Horthy: Political Catholicism and Christian Political
Organizations in Hungary 1918-1944, ebd., S. 224-249.
[26] See Winfried Becker
/ Rudolf Morsey (Hgg.), Christliche
Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19.
Jahrhundert, Köln 1988; Gerd-Rainer Horn / Emmanuel Gerard
(Hgg.), Left Catholicism 1943-1955.
Catholics and Society in Western Europe at the Point of Liberation,
Leuven 2001; Michael Gehler / Wolfram Kaiser (Hgg.), Christian Democracy in Europe Since 1945,
London – New York 2004.
[27] Wolfram Kaiser, Christian Democracy and the Origins of
European Union, Cambridge 2007.
[28] zit. n. Franz
Klüber, Katholische Soziallehre
und demokratischer Sozialismus, Bonn – Bad Godesberg 1974, S. 14.
[29] Klüber, Katholische Soziallehre, S. 25.
Refbacks
- Im Moment gibt es keine Refbacks
Tübingen Open Journals - Datenschutz