Religionen nach der Säkularisierung. Festschrift für Johann Figl zum 65. Geburtstag, hg. v. Hans Gerald Hödl u. Veronika Futterknecht, Münster 2011, LIT-Verlag, 400 S., 39,90 EUR, ISBN 978-3-643-50278-0



Johann Figl ist der vielleicht renommierteste Religionswissenschaftler Österreichs. Entsprechend prominent und vielfältig präsentieren sich die Beiträge für die Festschrift zu seinem 65. Geburtstag. Der Titel Religionen nach der Säkularisierung benennt dabei nicht nur prägnant den Reflexionsort unserer Gegenwart, sondern skizziert zugleich das Forschungsprofil eines Geehrten, das nicht zuletzt die Spuren der langjährigen kritischen Auseinandersetzung mit Nietzsche erkennen lässt. Hans Gerald Hödl deutet dies in seiner Einleitung an, wenn er gleich zu Beginn die Prüfung der vielfältigen Bedeutungen des Wortes "nach" in der Formulierung Religionen nach der Säkularisierung als Programm des Bandes betont. Diese sollen ausgelotet werden, weshalb "Multiperspektivität" zu Recht als Leitbegriff fungiert und die methodische Herangehensweise charakterisiert. Diese kennzeichnet jedoch nicht nur das Buch, sondern auch – wie Hödl hervorhebt - das Werk Johann Figls selbst.

Die Festschrift gliedert sich in fünf Sektionen, die insgesamt vierundzwanzig Beiträge aus unterschiedlichsten Disziplinen versammeln. Da nicht jeder einzelne Text des Bandes hier besprochen werden kann, soll für jede Sektion einer repräsentativ herausgegriffen werden. Dies soll sowohl einen Eindruck von der Methodenvielfalt als auch von der Fruchtbarkeit des Dialogs zwischen den äußerst heterogenen Ansätzen der Beschäftigung mit Religion in der Gegenwart vermitteln.

Hartmut Zinser eröffnet das Buch in der Sektion Begriffliches mit 14 vorläufigen Thesen zur Säkularisierung. Er will im unübersichtlich gewordenen Sprechen über Säkularisierung damit schlicht Begriffsklärungen vornehmen, doch seine prägnant formulierten Denkperlen enthalten ein beeindruckendes Forschungsprogramm, das manchem Allgemeinplatz den Boden entzieht. So unterscheidet er "Säkularisierung" von "Säkularisation", wobei nur ersteres die bekannte Trennung von Religion und Gesellschaft bezeichnet, während der zweite Vorgang auf die Unterscheidung zwischen Sakralem und Profanem verweist, die in Säkularisierungsdiskursen zu Unrecht meist ausgeblendet bleibt. Ähnlich wie Émile Durkheim betont Zinser, dass die Formen der Säkularisierung in Wechselwirkung mit den Formen der Sakralisierung stehen und dass in der Moderne das Heilige keineswegs einfach verschwinde, sondern seine Gestalt wechsle. Diese Transformation müsse aber in einem Säkularisierungsdiskurs, der nicht mehr latent anti-religiös geprägt ist, kenntlich gemacht und erforscht werden. Ebenso sollte es auf religiöser Seite dann möglich sein, durch diesen Perspektivwechsel die Angst vor der Moderne abzulegen und sich von einer Geschichtsphilosophie des Verschwindens aller Religionen in der Moderne zu befreien. In dieser veränderten Konstellation ließe sich dann die Frage nach "gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen" in einer Weise neu stellen, die auch die Religionen als soziale Gebilde und Modelle zurück ins Gespräch bringt. Dies bedeute freilich Chance und Gefahr für die Religionen zugleich, da sie dann mit ihrem "Versagen" konfrontiert werden könnten, ihre "jeweilige Offenbarung zeitgemäß auszulegen".

In der zweiten Sektion zum Thema Religion und Moderne wechselt Paul M. Zulehner die methodische Tonlage von Theoriereflexionen zu einem exzellenten Beispiel quantitativ-soziologischer Religionsforschung. In seinem Aufsatz zur Ambivalenz der Religion in modernen Kulturen demonstriert er anhand von "Clusteranalysen" die Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Einstellungen in scheinbar homogenen Milieus. So konfrontiert er nicht nur mit den regionalen Differenzen der Einstellung zu Religion in Osteuropa (von "religiös" zu "polarisiert" zu "atheisierend"), sondern nimmt sich auch die in den gegenwärtig modischen Diskursen beliebtesten Gemeinplätze vor, wie jene vom autoritären Charakter religiöser Menschen, von ihrer angeblich größeren Neigung zu Solidarität, von der Verantwortung des Monotheismus für pluralismusfeindliche Gewalt oder von der Unvereinbarkeit bestimmter Religionen, respektive Konfessionen, mit der Moderne. Mittels quantitativ-empirischer Studien weist er nach, dass für jeden dieser Bereiche nicht die erwarteten Ergebnisse geliefert werden, sondern unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit eine breite Streuung von Einstellungen in jeder Personengruppe gefunden wird. Dieses Resultat ist nun keineswegs banal, sondern bietet eine befreiend nüchterne Stimme in den schrillen Debatten um den moralischen Mehrwert religiöser Lebensführung für die Gesellschaft. Der beliebte Gestus provokanter Polarisierung von Adorno zu Assmann und von Girard bis Böckenförde wird damit trocken unterlaufen.

Die dritte Sektion mit dem Titel Religionen und Säkularisierung unterstreicht in den Beiträgen von Eva Synek und Karl Prenner besonders die Dringlichkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Religionen und öffentlichem Raum. Eva Synek nähert sich in ihrem Text Der säkulare Rechtsstaat. Streiflichter aus der Perspektive orthodoxer Kanonistik und Theologie dem Thema der Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Religion durch einen Blick von den Rändern Europas her. Mit diesem Zugang gelingt es ihr, die Brüche im nur scheinbar selbstverständlich gewordenen Bekenntnis christlicher Kirchen zum religiös neutralen Staat oder zu den Menschenrechten wieder sichtbar zu machen. Anhand der Entscheidungen der orthodoxen Kirchen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus arbeitet sie die Komplexität und Mannigfaltigkeit möglicher Bezugnahmen heraus. Darin wird deutlich, dass nicht nur historisch genau zwischen verschiedenen Wellen der Säkularisierung unterschieden werden muss, sondern dass diese auch unterschiedliche Modelle der Trennung hervorgebracht haben, von denen die Differenzen zwischen der französischen und der US-amerikanischen Situation nur die bekanntesten sind. Die Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Staat ruft am Beispiel Osteuropas eine vergessene Heterogenität in Erinnerung, wie sie etwa in die Erfahrungen von Kirchen als Minderheiten eingehen, die eine Wertschätzung der Schutzrechte in pluralen Gesellschaften erzeugen.

Karl Prenner untersucht in seinem Text "Islamische Moderne" als Alternative zur Moderne? Zur Säkularisierungsdebatte in muslimischen Gesellschaften eine seit einiger Zeit prominent gewordene argumentative Strategie, nach welcher sich Religionen nicht mehr defensiv gegen die Ansprüche einer säkularen Moderne verteidigen, sondern offensiv zum Gegenangriff übergehen, indem sie das Konzept "Modernität" selbst zur Diskussion stellen. Anstatt sich also als Opfer der Dynamik einer neuen historischen Epoche zu verstehen, wird ein Streit um die Deutungsmacht ausgerufen, die eine solche Rollenverteilung überhaupt erst ermöglicht. Unter dem Stichwort "islamische Moderne" werden auf diese Weise alternative Verhältnisbestimmungen von Religion und Gesellschaft entworfen oder wiederentdeckt - etwa die Politische Philosophie des arabischen Mittelalters -, welche die Trennungsgeschichte zwischen Staat und Kirche als europäischen Sonderweg enttarnen wollen. Folgerichtig würde deren Universalisierung dann nur eine weitere Spielart des illegitimen, altbekannten Eurozentrismus darstellen. In dieser Perspektive wird das "westliche Modernekonzept" mit seinen Idealen von Autonomie und Menschenrechten schließlich als "inhumaner Moloch" denunziert, der sich in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu erkennen gegeben habe. Die Probleme dieses "spezifisch europäischen Bewusstseins" seien zu identifizieren und deren naiver Export in andere Kulturen zu stoppen. Neben der exzellenten Rekonstruktion dieser Argumentationsmuster zeichnet sich Prenners Text auch dadurch aus, dass er nicht davor zurückschreckt, die vielleicht überraschende Nachbarschaft der Diskurse einer solchen "islamischen Moderne" zur Modernekritik der Postmoderne zu benennen.

In der vierten Sektion zum Thema Spiritualitäten bietet Elisabeth Hofstätter mit ihrem Beitrag Spirituelle Renaissance in der Medizin schließlich ein besonders spannendes Beispiel des historischen Wandels von Spiritualitäten. Indem sie das Verhältnis von Religion und Medizin nachzeichnet, lenkt sie den Blick auf eine Frage, die im naturwissenschaftlich codierten Klinikalltag bislang primär marginalisiert oder als Aberglaube schlicht der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. Zunächst skizziert sie den "Trennungsprozess" zwischen Religion und Medizin seit dem Ende des Mittelalters. Wenn der christliche Glaube einmal eine der "Haupttriebfedern für die medizinische Versorgung erkrankter Menschen" in Europa war, dann betonte im Gefolge einer religionskritischen Aufklärung die Religionspsychologie lange Zeit "die krankmachenden Aspekte religiöser Überzeugungen", wodurch sie vor allem die Trennung zwischen Wissenschaft und Religion sicherte. Hofstätter zeigt, wie angesichts einer breiter orientierten US-amerikanischen Forschungslandschaft, aber auch aufgrund der zunehmenden Sensibilisierung für kulturelle und religiöse Hintergründe in der Arbeit mit Migranten als Patienten, eine solche strikte Grenzziehung zwischen Religion und Klinikalltag heute bröckelt.  In der Medizin etablierte sich in den letzten Jahren so eine neue Aufmerksamkeit für die Zusammenhänge von Spiritualität und Gesundheit, die den Fokus nun wieder auf die heilenden Wirkungen religiösen Glaubens legt – ein Aspekt, den William James in seinem bahnbrechenden Werk The Varieties of Religious Experience schon vor 100 Jahren meisterhaft ins Licht rückte. Hofstätter verwendet hier die Formel eines "neuen Aufbruchs", wenn sie "nach Jahren der Exklusion" nun das starke Bestreben nach einer Integration von Religiosität und naturwissenschaftlicher Medizin attestiert.

Die fünfte Sektion Zur Identität der Religionswissenschaft im säkularen Umfeld beschließt den Band zuletzt mit Methodenreflexionen zum Status und den Aufgaben der Religionswissenschaft unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart. Ulrich Berner lenkt dort die Aufmerksamkeit auf das Phänomen des "Neuen Atheismus", für dessen Gegenwartsmacht der Erfolg von Autoren wie Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder Sam Harris symptomatisch steht. In seinem Beitrag Der neue Atheismus als Gegenstand der Religionswissenschaft erläutert Berner, wie die Ereignisse des 11. September 2001 nicht allein eine Renaissance der Religion brachten, sondern zugleich das Wiedererstarken der Religionskritik initiierten. Jedoch interessiert ihn keineswegs das unvergängliche Hin und Her zwischen Kritikern und Apologeten der Religion, stattdessen fragt er nach der religionswissenschaftlichen Bedeutung dieses Neuen Atheismus. Der Religionswissenschaft weist Berner einen herausragenden Platz zu, weil er in ihr die Möglichkeit einer "dritte[n] Alternative zwischen Religionskritik und -apologetik" identifiziert. Befreit vom weltanschaulichen Ballast der Parteinahme, könne diese aus der Position eines neutralen Beobachters und Schiedsrichters die nicht explizit gemachten theoretischen Vorurteile der Diskutanten aufdecken. Unter anderem nennt Berner als wichtige Beispiele solcher impliziten Voraussetzungen etwa den Religionsbegriff, anhand dessen willkürlich friedfertige und kriegerische Varianten von Religion konstruiert werden, oder polemische Akzentsetzungen im Bereich der Religionstheorie, wenn es etwa um heute heiß umstrittene Verhältnisbestimmungen zwischen Religion und Naturwissenschaft gehe. Die Leistung der Religionswissenschaft zeige sich hier in "historischen Differenzierungen", die Hypostasierungen aus einseitig gewählten Beispielen entgegenarbeitet. Eine solche Sichtbarmachung faktischer Pluralität sei die zentrale Aufgabe der Religionswissenschaft, die auch innerhalb der Religionen selbst zu leisten wäre. So dient die Rekonstruktion innerreligiöser Diskurse dem Aufmerksamwerden auf eine Heterogenität hinter den jeweiligen Schablonen "Islam", "Christentum" oder "Buddhismus", die in öffentlichen Debatten viel zu wenig beachtet wird.

Die Wiedergewinnung eines Sinnes für historische Kontingenzen in unserer Rede von Religion ist jene Forderung, die das Werk von Johann Figl eindrucksvoll demonstriert und einklagt. In den Beiträgen der Festschrift spiegelt sich dies idealtypisch wider.


Zum Rezensenten:
Stephan Steiner M.A., geb. 1979, ist Doktorand am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.

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