Gregor Taxacher, Apokalyptische Vernunft. Das biblische Geschichtsdenken und seine Konsequenzen, Darmstadt 2010, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 24,90 EUR, 254 S., ISBN: 978-3-534-23547-6


Hat die Apokalyptik Konjunktur? Naturkatastrophen wie das verheerende Erdbeben in Japan (Fukushima), literarische Endzeitstimmung wie in Cormac McCarthys Roman „The Road“ (2006) oder cineastisch inszenierte Untergänge wie „The Day After Tomorrow“ (2004) und „Hell“ (2011) wecken apokalyptische Grundbefindlichkeiten und Ängste oder verarbeiten sie kreativ. „Apokalypse“ ist häufig ein Begriff, der sich bei politischen und gesellschaftlichen Krisen aufzudrängen scheint. Dabei ist er beinahe immer losgelöst von seinem ursprünglichen religionsgeschichtlichen und theologischen Hintergrund. Trägt auch die Theologie selbst dafür eine Verantwortung? Überlässt sie das „Apokalyptische“ sich selbst, weil sie sich mit ihrem eigenen „apokalyptischen“ Erbe schwer tut?

Die Theologie entgeht der Apokalyptik nicht, auch wenn sie es versuchen sollte – das ist eine der Grundthesen des anregenden Buches von Gregor Taxacher. Die Theologie bleibt – als Rede von Gott – auf die Offenbarung bezogen, von dorther hat sie ihren „logos“, ihre eigene Vernunft: „Es ist dieser ‚apokalyptische‘ Charakter biblischer Offenbarung, der ihr geschichtliches Schicksal und damit ihre Bedeutung für eine Theologie der Geschichte begründet, die in einer Zeit entworfen wird, in der sich die Menschheit dem möglichen Ende ihrer Geschichte, der säkularen Apokalyptik, zu stellen hat.“ (14).

Damit ist das Programm umschrieben: Konzise und mit dem Mut zur Synthese verfolgt Vf. den Weg dieser „apokalyptischen Vernunft“ durch die Religionsgeschichte Israels und die Geistesgeschichte des Christentums und der säkularen Moderne bis in unsere Tage. Erhellt - Apokalyptik hat es ja v. a. mit Aufdecken zu tun! - wird ein „Gott-Denken…als eine Weise, das gute Ende der Dinge vorwegzunehmen, weil der Ausgang des Denkens von einer Offenbarung Gottes ein Wissen um Gott als Umschließenden und Ziel alles Denkbaren schon einschließt“ (113).


Der Gang der Untersuchung sei kurz nachgezeichnet:

Den Weg der „apokalyptischen Vernunft“ lässt Vf. mit der alttestamentlichen Prophetie beginnen: die Propheten sagen in ihrer Zeit an, was an der Zeit ist. Damit wird die Geschichte selbst – den archaischen Mythos beendend – zum Ort der Epiphanie Gottes.

Doch bleibt sie keine Siegergeschichte: die vielen kleinen Katastrophen der vorexilischen Zeit und die große Katastrophe des Exils führen zu einer kritischen relecture der bisherigen Geschichte Israels mit JHWH – quasi eine Geschichtsschreibung „gegen sich selbst“ (59ff.). Vf. macht deutlich, dass der Blick auf die eigne Schuld- und Versagensgeschichte auch die Chance zum Neuanfang und zur Vertiefung apokalyptischer Vernunft impliziert. Der „Reichsgott“ wird zum universalen Schöpfer- und Erlösergott – ein Bekenntnis, hinter das Israel grundsätzlich nicht mehr zurückfällt.

Die frühjüdische Apokalyptik kommt ab dem 3. Jahrhundert als Krisenphänomen in den Blick (92). Sie ist primär keine Katastrophen-, sondern Krisen- und Trosttheologie - wobei hier „apokalyptischer“ Trost keine Vertröstung, sondern Krisenbewältigung ist. Zu Recht stellt Vf. den untrennbaren Zusammenhang von alttestamentlichem Kanon und neutestamentlichem Denken heraus: die Apokalyptik ist „missing link“ (75), keine „spätjüdische“ Verfallserscheinung alttestamentlicher Gottesbotschaft.  Nur von der Denkform der Apokalyptik her ist – so paraphrasiere ich hier – die „Reich-Gottes-Botschaft“ Jesu von Nazareth und die „apokalyptische“ Interpretation seiner Auferweckung überhaupt erst möglich. (119)

Das NT reflektiert eine umstürzende Erfahrung im und mit dem Ereignis von Leben, Sterben und Auferweckung Jesu von Nazareth: die apokalyptische Hoffnung auf Erlösung bekommt hier ein Gesicht und eine konkrete Lebens- und Leidensgeschichte.

Paulus – vom „Ereignis“ der Auferweckung des Gekreuzigten herkommend – sieht den neuen „Äon“ – das ist dezidiert apokalyptische Terminologie – im Alten anbrechen: die Wende der Zeit in der Zeit.

Doch nun erzählt Vf. so etwas wie eine „Verfallsgeschichte“ apokalyptischer Vernunft: Zwar ist im Urchristentum der „apokalyptische“ Impuls noch lebendig – mit durchaus konkreter Naherwartung -, aber schon in den Spätschriften des NT selbst wird eine Umdeutung erkennbar – man vergleiche nur den ersten mit dem zweiten Thessalonicherbrief! Sein Resumé: „Am Ende beginnt sich die autoritäre Weisheit einer Glaubensinstitution zu melden, welche die eschatologische Zeitansage über die Zeit zu retten antritt und dafür den Preis zu zahlen bereit ist, die Eschatologie als prophetische Kraft in eine stabilisierende Lehre von den Letzten Dingen am Ende der Zeiten zu verwandeln.“ (160)

Das gilt vollends im spätantiken, etablierten Christentum. Prägnant hier Augustinus: Statt der prophetischen Zukunft eine beinahe schon „ontologisierte“ Ewigkeit mit starker Individualeschatologie.

Die Neuzeit entwindet sich zwar geistlichen Herrschaftsansprüchen, kommt aber vom „Apokalyptischen“ nicht los. Der Vf. benennt hier die problematischen Folgen einer „Dialektik der Aufklärung“, die durchaus mit der Dialektik apokalyptischer Vernunft – etwa der Exekution von Geschichte mit entsprechendem „Sendungsbewusstsein“ der Sieger – zusammenhängt.

Der geistesgeschichtlichen Nachzeichnung des Weges apokalyptischer Vernunft folgen am Ende Optionen einer - so könnte man sagen – „apokalyptiksensiblen“ Theologie. Dass die Theologie zu apokalyptischen Grundbefindlichkeiten nicht schweigen darf, sondern den ihr aufgegebenen „apokalyptischen logos“ in ihre Reflexion aufzunehmen hat, fordert Vf. zu Recht.

Das Buch bietet eine Fülle anregender und erhellender Einsichten, originelle historische Beobachtungen und benennt am Ende klare theologische Optionen und Desiderate. (218 – 250)

Wünschenswert wären allerdings zum einen eine stärkere Herausarbeitung der Tatsache, dass die frühjüdische Apokalyptik einen genuin jüdisch-biblischen Kern, ein ganz eigenes Proprium hat: sie ist erklärbar v. a. in der kritischen und kreativen Auseinandersetzung mit dem Globalanspruch hellenistischer Kultur. Die Wahrnehmung, dass diese Zeit auf das „Ende“, die von Gott selbst erwirkte Vollendung, hin drängt, gewann in und durch diese Auseinandersetzung ihr scharfes Profil.

Die wichtigen Studien von Martin Hengel („Judentum und Hellenismus“, schon 1969, aber immer noch unverzichtbar!) und Karl Löning hätten hier zur Vertiefung beitragen können – ebenso wie die gehaltvolle Arbeit von Ulrich Körtner („Weltangst und Weltende“, 1988, beinahe so etwas wie eine Kulturgeschichte der Apokalyptik in der Moderne) und – im Hinblick auf das NT – die grundlegenden Arbeiten von Kurt Erlemann („Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament“, 1994).

Zum anderen: Auch die systematisch-theologische Frage nach einer „Theologie der Zeit“, also die Reflexion auf das „katastrophische Wesen der Zeit“ (Karl Löning) selbst in Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsches These von der „Unendlichkeit der Zeit“ und die entsprechenden Überlegungen von Johann Baptist Metz wären mindestens einer weiteren Erwähnung wert gewesen. Denn die „apokalyptische Vernunft“ impliziert ein Zeitverständnis, das offenbar „quer“ – im Sinne Walter Benjamins – zur „postmodernen“ Welt- und Zeitwahrnehmung steht.

Eine Anmerkung sei noch zur Sprache erlaubt: Über manche „verschachtelten“ und bewusst subjektiv gehaltenen Passagen im Text mag die Leserin/der Leser unnötig stolpern; ein Lektorat hätte dem Buch in dieser Hinsicht sicher gut getan.

All das schmälert den Wert des originellen und anregenden Buches jedoch nicht. Es ist sein Verdienst, der „apokalyptischen Vernunft“ – gegen ihre „Verächter“ - genau das zugesprochen zu haben: Vernunft (logos). Und das ist allemal: not-wendige Theo-Logie!



Zum Rezensenten:
Martin H. Thiele, geb. 1964, promoviert im Fach Katholische Theologie mit einer Arbeit über die Verhältnisbestimmung von Gott – Allmacht – Zeit in der Theologie von Johann Baptist Metz und Eberhard Jüngel, seit 2010 Geistlicher Rektor und Fachbereichsleiter Theologie der Katholisch-Sozialen Akademie Franz Hitze Haus in Münster.

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