Martin Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945-1963, Paderborn, München, Wien, Zürich 2010, Schöningh Verlag, 454 S., 48.00  EUR, ISBN 978-3-506-76806-3  


Das Buch ist die erste Gesamtdarstellung einer Geschichte des deutschen Protestantismus während der frühen Nachkriegszeit bis zum Jahr 1963 (warum eigentlich bis 1963?). Der Verfasser holt dabei weit aus – die Weltmächte USA und UdSSR, der Koreakrieg, Stalin und die Stalinnoten, Konrad Adenauer, Walter Ulbricht - und benötigt so einen extrem langen Anlauf, um nach fast 200 Buchseiten endlich zum Kernbereich seines Themas zu gelangen. Im ersten Kapitel werden die weltpolitischen Konstellationen um 1950 (die Rivalitäten der zwei Supermächte, der Koreakrieg etc.) als wesentliche historische Voraussetzungen der deutschen Teilung dargelegt. Das zweite Kapitel schildert die Entstehung der beiden deutschen Staaten: Adenauers innenpolitisch umstrittenen Kurs der Westintegration und Wiederbewaffnung sowie die komplementäre Integration der SBZ bzw. DDR unter Ulbricht in den sowjetisch dominierten osteuropäischen Machtbereich. Nach einem knappen Intermezzo (Kap. 3) über erneute weltpolitische Turbulenzen (Genfer Konferenz 1955, Aufstände im Ostblock wie DDR 1953 und Ungarn 1956, 20. Parteitag der KPdSU 1956, Berlin-Ultimatum und Kuba-Krise) kommt Greschat dann erst im 4. Kapitel (S. 195-315) zu den eigentlichen konfessionsgeschichtlichen Entwicklungen in der DDR (und zwar hier meines Erachtens viel zu detailliert und letztlich ermüdend) und in Westdeutschland, die - ungeachtet eines entschiedenen protestantischen Festhaltens an der deutschen Einheit - ein langsames Auseinanderdriften in einen DDR- und BRD-Protestantismus mit sich brachten. Im abschließenden Kap. 5 wird das „protestantische Leben“ der 1950er Jahre beschrieben: die weithin tradierten alten Frömmigkeitsformen; scharf kontroverse theologische Debatten wie jene um Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsthese; institutionelle Innovationen wie die Kirchentage und die für den protestantischen Diskurs maßgeblichen Evangelischen Akademien sowie neuartige ökumenische Orientierungen auf die Weltkirche.

Das ist - alles in allem - ein großes Programm, und fraglos erfährt der Leser zu allen genannten und einigen weiteren Stichworten viel. Gleichwohl bringt diese Anordnung auch erhebliche Darstellungsprobleme mit sich. Die gewählte Gliederung erfordert einen mehrmaligen chronologischen Durchgang: zuerst weltpolitisch, dann auf nationaler politischer Ebene und schließlich noch einmal konfessionsgeschichtlich – und letzteres wiederum in doppelter, west-östlicher Ausprägung. Das führt zu zahlreichen Wiederholungen, zu häufigen Neuaufnahmen von bereits Gesagtem: „davon war bereits die Rede“ ist, in Abwandlungen, ein sehr oft wiederkehrender Satz in diesem Buch. Auch wird kaum problematisiert, wie denn methodisch angemessen eine Geschichte der vielen deutschen Protestantismen überhaupt zu schreiben wäre, zerfiel doch der traditionsfixierte deutsche Protestantismus auch nach 1945 noch immer in eine große Ansammlung von rund zwei Dutzend separaten Landeskirchen (Gliedkirchen) mit eigenen theologischen, konfessionellen und religionspolitischen Prägungen. Mit der Darstellung auf der Spitzenebene von EKD-Verlautbarungen und des gewiss sehr maßgeblichen politischen Streits zweier Linien (CDU-Protestantismus um Ehlers, Dibelius und Lilje vs. Niemöller-Heinemann-Gollwitzer Opposition) ist es dann nicht getan.

Gravierender jedoch erscheint ein anderes Manko: die ganz verblüffende Ausklammerung der jüngsten Geschichte, der nur wenige Jahre zurückliegenden „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke), die nicht zuletzt auch eine Katastrophe des deutschen Protestantismus war, der Zweidrittel-Mehrheitskonfession im „Dritten Reich“. Schon der genannte und auf den ersten Blick unerklärlich selbstzerstörerische innerprotestantische ‚Streit zweier Linien’ hätte sehr viel tieferer historischer Herleitungen aus der Kirchenkampfzeit bedurft. Eine in dieser Hinsicht einschlägige Studie wie die von Matthew Hockenos wird bedauerlicherweise überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. [1] Die schwere historisch-moralische Last der über weite Strecken unsäglichen protestantischen Performance im Nationalsozialismus kommt in diesem 450-Seiten-Buch kaum vor; Entnazifizierung, im vorliegenden Fall die so völlig unzureichende „kirchliche Selbstreinigung“, kommt nicht vor; christlicher Antijudaismus, Antisemitismus und Holocaust kommen nicht vor; und auch die zaghaften protestantischen Anfänge einer erinnerungspolitischen und wissenschaftlichen „Aufarbeitung“ (beispielsweise die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte seit 1955) werden nicht eingehend thematisiert. Einschlägige kritische Studien hierzu wie die von Björn Krondorfer, Katharina von Kellenbach und Norbert Reck: „Mit Blick auf die Täter“ bleiben ebenfalls unberücksichtigt. [2]

 Nicht nur für viele Zeitgenossen scheint der Koreakrieg und genereller der Kalte Krieg an die Stelle dessen getreten zu sein, wo eigentlich etwas Unaussprechliches lastete und teils noch lastet, ein großes Dunkles, das damals über allen deutschen Protestanten schwebte. Und wie hilfreich, so könnte man meinen, war unter diesen Umständen dann doch der Kalte Krieg, der immerhin ermöglichte, über jene anderen, eigentlichen Dinge nicht sprechen zu müssen. Aber soll das auch heute für wissenschaftliche Darstellungen noch gelten? Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, warum das allgemeine große Schweigen und namentlich das aktive Beschweigen im Protestantismus, die vielfachen wohlfeilen Lebenslügen, das verbreitete Unter-den-Teppich-Kehren und hartnäckige Verdrängen in diesem Buch nicht vorkommen. Für das historische Verdrängen der Zeitgenossen der 1950er Jahre wird man mancherlei verstehbare Gründe anführen können, gewiss, aber jenes große Verdrängen heute noch einmal verdrängen und nicht zum Thema machen - dafür lassen sich schlechterdings keine plausiblen Gründe anführen. Eine deutsche Protestantismusgeschichte der 1950er Jahre ist insofern weniger von „Korea“ her zu konzipieren, sondern aus dem protestantischen Milieu selbst und dessen eigener jüngster Geschichte zu schreiben.

An dieser Stelle liegt das große und ganz unerklärliche Versäumnis einer ansonsten bedeutenden Studie, der ersten über die deutschen Protestanten in der frühen Nachkriegszeit, die aber dringend der substanziellen Erweiterung und Ergänzung bedarf.

   

[1] Matthew Hockenos, A Church Divided. German Protestants Confront the Nazi Past, Bloomington 2004.
[2] Björn Krondorfer/Katharina von Kellenbach/Norbert Reck, Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloh 2006.


Zum Rezensenten:
Dr. Manfred Gailus, geb. 1949, Professor  für Neuere Geschichte, Technische Universität Berlin.

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