Wolfgang Beinert (Hg.), Vatikan und Pius-Brüder. Anatomie einer Krise, Freiburg 2009, Herder, 258 S., 14,95 EUR, 978-3-451-30279-4


Gut zwei Jahre ist es her, seit die Holocaust-Leugnung des Piusbruder-Bischofs Williamson für Papst Benedikt XVI. eine veritable Pontifikatskrise auslöste, weil er diesen just vor dessen selbstherrlichem TV-Auftritt von der Exkommunikation befreit hatte. Anders als bei den vorherigen Disputen über die intellektuell verunglückte Regensburger Rede und über die religionstheologisch instinktlose Veränderung der Karfreitagsfürbitte ging diese Krise so weit, dass der Papst sich selbst in einem Brief an die katholischen Bischöfe für diesen Skandal rechtfertigen musste. Nach der Offenbarung der vielen Skandale um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der deutschen katholischen Kirche und nach den Mixa-Wirren der deutschen Bischofskonferenz liegt das gefühlt Lichtjahre zurück. Aber wegen der anfälligen Piusbrüder-Entscheidung bleibt der Skandal theologisch dennoch weiterhin einschlägig. Zudem bildet das öffentliche Kopfschütteln vieler katholischer Universitätstheologen darüber, dass der Papst unverkennbar auf die Piusbrüder setzt, ein Vorspiel zum Memorandum der Theologieprofessoren. Der Habitus schließlich, mit dem Papst Benedikt seinen „leise[n] Gestus der Barmherzigkeit gegenüber vier gültig, aber nicht rechtmäßig geweihten Bischöfen“ gegen die „sprungbereite Feindseligkeit“ ins Feld führt, mit der seine Kritiker „auf mich einschlagen zu müssen glaubten“ (250), ist nicht nur in Hintergrundgesprächen ein Thema. Die Differenz, mit der die Papstkritik von konzilsfeindlichen Traditionalisten und die papstkritischen Anfragen aus der Welt der professionellen Theologie behandelt werden, ist ein Hintergrundrauschen für das, was aus den kurialen Versöhnungsgesprächen mit dieser so befremdlich selbstgerechten Bruderschaft noch so alles werden mag.

Es lohnt sich von daher, die Debatte im Abstand von zwei Jahren Revue passieren zu lassen, die Wolfgang Beinert ebenso verdienstvoll wie nüchtern in der Publikation „Vatikan und Pius-Brüder“ gesammelt und herausgegeben hat. Beinert erspart mit dem Titel dabei seinem Lehrer die personale Zuspitzung „Papst und Pius-Brüder“, wenn man schon nicht „Papst und Pius-Bruder“ als angemessene Markierung ansehen will. Denn es geht in den Beiträgen so gut wie nicht um den Vatikan. Die Parallelwelt seines innerhierarchischen Habitus, die sich als unfähig erwiesen hat, an das theologisch-politische Machtkalkül des Pius-Brüder-Fundamentalismus heran zu kommen, ist nur am Rand ein Thema. In den zwölf Beiträgen pro und contra des päpstlichen Verhaltens und in dem Vorwort des Herausgebers ist das entscheidende Thema vielmehr das Verhältnis von Benedikt XVI. zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Verrät dieser Papst mit der Option für die Versöhnung mit der Bruderschaft das Konzil? Stellt er sich zugunsten der Piusbrüder über die Lehren des Konzils? Hält er der konzilsorientierten Theologie oder den Piusbrüdern eine falsche Hermeneutik des konziliaren Bruches mit der Tradition vor? Das sind die Fragen, die sich alle in dem Buch versammelten Theologen – eine Theologin ist nicht darunter – stellen.

Die terminliche Nähe zum 50. Jahrestag der Ankündigung des Konzils, in der der Papst das Aufhebungsdekret der Exkommunikationen unterzeichnete, ist ihnen allemal wichtiger als die Unwilligkeit von hohen Kurienbeamten, das Internet für Recherchen über diese Bischöfe heranzuziehen. Auch für die acht Texte von Päpsten, Dikasterien, Bischofskonferenzen, Bischöfen und besorgten Laien, die im Anhang dokumentiert werden, ist der rote Faden die Frage nach dem Respekt dieses Papstes vor dem Konzil. Das entspricht auch der Sachlage. Um diese Frage ging es und geht es weiterhin in dem Diskurs, dem in diesem Buch eine beeindruckende Verdichtung gegeben wird. Mit den Worten des Herausgebers: "In allen diesen Vorgängen steht latent die Frage: Was gilt vom Zweiten Vatikanischen Konzil noch, ja gilt es fürderhin überhaupt? Wollte sich Rom endgültig aus der Gegenwart verabschieden oder doch 'Freude und Hoffnung, Trauer und Angst' mit den Zeitgenossen teilen (Vaticanum II, Gaudium et spes 1)? Kannte es diese denn überhaupt oder betonierte es sich hinter den eigenen Mauern ein? Fast gebetsmühlenartig verlautbarten die katholischen Kirchenführer ein Bekenntnis zum Konzil nach dem anderen. Nur: Man glaubte dem kaum." (10) Wolfgang Beinert nennt denn auch "als Epizentrum des Bebens das Zweite Vatikanische Konzil." (12) Bewirkt dieses Epizentrum einen gefährlichen Riß in den Grundmauern der Kirche, den der Papst mittels der Piusbrüderoption nun ausbessern muss, oder hat es die manieristischen Verkrustungen weggebrochen, um die diese neue Religionsgemeinschaft Krokodilstränen weint?

Zwischen diesen Antworten entscheiden sich die Autoren. Ludwig Ring-Eifel und Thomas Rigl informieren sowohl chronologisch wie mit Textproben über den traditionalistischen Fundamentalismus und den Verlauf des behandelten Skandals. Deren prinzipielle Gegnerschaft zum Konzil wird dabei erneut sichtbar. Ulrich Ruh stellt ihnen die Erfolge und gesamtheitlichen Perspektiven des katholischen Ökumenismus entgegen, der die Beseitigung der Selbstblockaden der Kirche durch das Konzil weiterträgt. Daran scheitern die Piusbrüder. Die von ihnen "geforderte Rückkehr zur geschlossenen, gegenüber allen anderen christlichen Gemeinschaften abgeschotteten katholischen Welt ist Gottseidank in der Breite der Kirche nicht mehr möglich" (199f). Stephan Häring informiert über die rechtliche Seite der Lefebvre-Taktiken mit seiner Piusbruderschaft, über die Exkommunikation nach den Bischofsweihen und die rechtlichen Voraussetzungen ihrer Aufhebung. Zum einen kann er festhalten, "dass die Pius-Bruderschaft, ungeachtet ihres faktischen Fortbestehens, seit 1975 keine Einrichtung der katholischen Kirche mehr ist." (83) Das ändert auch das Dekret vom Januar 2009 nicht. Zum anderen erweist sich Papst Benedikt XVI. bei der Aufhebung nicht als oberster Rechtsgeber, "sondern gewissermaßen als Pädagoge." (89)

Auf die Nicht-Kirchlichkeit der Piusbruderschaft beruft sich auch der damalige Basler Bischof und heutige Kurienkardinal Kurt Koch. Ihm ist es um die Mitte zu tun. So mahnt er auf der einen Seite die volle Anerkennung der Konzilslehren durch die Bruderschaft als unausweichlich an, wie er andererseits beansprucht, nur eine Hermeneutik des Vertrauens gegenüber Äußerungen und Taten des Papstes sei das einzig Angemessene. Koch hält weder den Preis der päpstlichen Barmherzigkeit für zu hoch noch die Konsequenz von dessen Entscheidung als zu hoch angesetzt. Dafür bemüht er beide Male die Geschichte, die "Papst Benedikt darin Recht geben wird, bis zum Äussersten gegangen zu sein, um die Spaltung, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (wie übrigens nach verschiedenen Konzilien) eingetreten ist, zu heilen." (107) Das Konzil sei Reform, nicht Reformation, weshalb er die päpstliche "gesunde[n] Mitte" (119) lobt.

Wolfang Beinert stellt dagegen nicht die Papst-, sondern die Konzilsfrage. Er  widmet sich ausführlich jenen Konzilslehren, die den Piusbrüder-Widerspruch auslösen. Er hält die Einschätzung der Pastoralkonstitution dabei für entscheidend. "So wird die Pastoralkonstitution auch zum Kristallisationspunkt der Konzilsinterpretation. Sage mir, was du von Gaudium et spes hältst, und ich sage dir, wie du zum Vatikanum II stehst." (65) Im Vorwurf, das Konzil sei diskontinuierlich zur Tradition, votiert er für die Kontinuität und bietet eine Friedensformel an. "Während die vorkonziliare Theologie in der Tradition gelebt hat, lebt das Konzil aus der Tradition. Es kreist nicht um sich selber, sondern reicht das Feuer weiter." (70) Auf dieser Linie liegt dann auch seine Analyse der Chancen, die die Auseinandersetzung bietet: "Gottes Wege sind bisweilen uneinsichtig verschlungen. Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Krise ums Konzil wird, was sie dem Wortsinn nach ist: Scheidung aus Entscheidung." (75)

Für Magnus Striet ist die Frage nach der Konzilsinterpretation zentral, auch wenn sie ein Dilemma auslöst. Die allseits geforderte Anerkennung des Konzils ist als Auslegungspraxis selbst "interpretationsoffen und bezogen auf die konkrete Auslegungspraxis sogar konfliktträchtig" (130). Darin verortet er auch die Beiträge von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt selbst. Wie für Beinert steht auch bei Striet die Pastoralkonstitution im Zentrum der Debatte. "Vor allem wird die hermeneutische Stellung von Gaudium et spes im Gesamtgefüge der Konzilstexte diskutiert. Eine dynamische Interpretation dieses Textes erkennt in ihm die Aufforderung, auch künftig den offenen Dialog mit der Welt zu suchen. Gaudium et spes wäre dann nicht nur als Frucht der Aufforderung eines Aggiornamento zu verstehen, […] sondern auch als ein Text, der dazu aufforderte, diesen Text immer wieder zu überschreiten." (132) Die Interpretationen des Konzils sind untrennbar verbunden mit der Einschätzung der modernen Welt und deren Zerrissenheit. In dieser Hinsicht plädiert er dafür, dass "die Diskussion um das Zweite Vatikanische Konzil wieder systematisch an Fahrt gewänne." (138) Wegen der gläubigen konstitutiven Bindung des Exodusgottes "an eine Geschichte, die sich durch Freiheit auszeichnet." (140) kann es dabei nur "eine Pluralität im Verstehen" (139) geben. Eine zur Schau getragene Sicherheit der Kirche im Wissen über Welt und Mensch löst entsprechend zu Recht Unbehagen aus, dem die Piusbrüderentscheidung Vorschub leistet.

Peter Hünermann nimmt die Amtsführung des Papstes ins Visier. Wegen des schon von Johannes Paul II. festgestellten widersprüchlichen Begriffs der Tradition bei Erzbischof Lefebvre ist es entscheidend, die piusbrüderliche Glaubensauffassung genau zu prüfen. Die Piusbrüder rechnen zentrale Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils offensiv aus der Tradition des kirchlichen Credos heraus, das allein auf Antimodernisteneid und Pius IV.' Glaubensbekenntnis reduziert wird. Deshalb stellt Hünermann die Frage, wo die reumütige Umkehr sei, die unabdingbar für die Aufhebung einer Exkommunikation ist. Da sie offenkundig fehlt, konstatiert er die Aufhebung als päpstlichen Akt, "der einen Amtsfehler bedeutet." (155) Der ist gravierend, "da er einen Dispens von der vollen Annahme des Zweiten Vatikanischen Konzils bedeutet." (156) Von einem gültig zustande gekommenen Konzil kann jedoch auch kein Papst dispensieren; es steht ihm auch in Verhandlungen zur Versöhnung nicht zur Disposition. Der Papst bejaht zwar das Konzil, sieht "die Gefährdung der Rezeption des Konzils aber völlig einseitig" (160) allein auf der sog. progressistischen Seite. Hünermann konstatiert bei diesem Papst die Überzeugung, "dass in der Rückgewinnung ganz traditioneller Kreise die Zukunft der Kirche liegt" (161). Solange das nicht korrigiert wird, steht die Kirche "vor einem Scherbenhaufen ungeheuren Ausmaßes." (162)

Kontinuität steht im Zentrum des Beitrags von Joseph A. Komonchak, der sich wie der Beitrag von Ulrich Ruh nicht direkt mit der Aufhebung der Exkommunikation auseinandersetzt, sondern sich zum 50. Jahrestag der Konzilsankündigung mit den gegensätzlichen Hermeneutiken befaßt. Trotz einer gewissen Unschärfe in der Gegenüberstellung hält Komonchak die päpstliche Unterscheidung von Bruch und Kontinuität in der Konzilshermeneutik primär gegen Traditionalisten gerichtet. Er erkennt darin "ein Bemühen, Traditionalisten zu überzeugen, dass legitimerweise eine Trennung zwischen der Ebene der Lehre beziehungsweise der Prinzipien und der Ebene der konkreten Anwendung beziehungsweise Antwort auf bestimmte Situationen vorgenommen wurde." (172) In den theologischen Ansätzen und soziologisch eine Diskontinuität, steht das Konzil kontinuierlich zu Glaubenslehren, "die in den vergangenen Jahrhunderten relativ unbeachtet geblieben waren" (173). Papst Benedikts Intervention nötigt entsprechend, die Interpretationsdebatte um das Konzil "auf einem weit höheren Niveau" (174) zu führen.

Für Helmut Hoping ist ebenfalls ausgemacht, dass sich die päpstliche Warnung vor einer Hermeneutik konziliarer Brüche gegen die Piusbrüder und deren Kampf gegen die konziliare Liturgie richtete; aber sie treffe "auch jene, die das Konzil als eine Art revolutionären Paradigmenwechsel betrachten, mit dem sich die Kirche von der als Last empfundenen Tradition befreit habe" (178). Ähnlich stellt Hoping die neue Karfreitagsfürbitte von 2008 sowie die Reform der Liturgiereform mit der Erlaubnis an alle Priester, den usus antiquior zu nutzen, in eine bewusste Absicht des Papstes, die sperrigen Traditionsstücke keinem weltoffenen Katholizismus zu opfern, der "die inneren Widersprüche der Moderne" (186) allzu leichtfertig überspielt. Deshalb sieht Hoping auch die historische Aufgabe der Piusbruderschaft erfüllt, weil der Papst den usus antiquior der römischen Liturgie rehabiltiert hat. Ob sie darüberhinaus aus ihrer "sektiererischen Isolation" (187) herausfinden und einen Platz in der Kirche wieder finden könne, hänge nun von ihr ab. An der Weite des Entgegenkommens des Papstes scheitert das nicht.

Friedrich Wilhelm Graf zeigt die dezidiert anitliberale Linie der Konzilsinterpretation des Dogmatikprofessors Ratzinger auf, die sich in seinem Pontifikat erfüllt und in der Piusbrüderentscheidung austreibt. In der "genialen Formel" (202) der 'Diktatur des Relativismus' verdichtet sich Ratzingers Grundargument, "Kirchenpolitik dürfe sich nicht an Pragmatismus und Machtinteresse, sondern allein an theologischer Einsicht orientieren." (202) Im Zentrum der individuellen kognitiven wie theologisch gesellschaftlichen Ordnung stehe bei Ratzinger stets die Kirche; "die sozialen Umwelten 'der Kirche', etwa staatliche Institutionenordnungen, ideenpolitische Diskurse und andere gesellschaftliche Akteure" könne er deshalb "nur sehr unscharf wahrnehmen" (203). Grundeinsichten der Reformation wie die Freiheit des Christenmenschen und die revolutionäre Denkform Kants müssen Ratzinger deshalb als haltloser Subjektivismus erscheinen. Moderne Sozialtheorien bleiben ausgeblendet, es wird allein unhistorisch von Ratzinger gedacht. "In seiner Theologie gibt es für Außenperspektiven auf 'die Kirche' als gesellschaftlichen Akteur keinen systematischen Ort." (204) Hier regiert vielmehr der "Ideenhimmel römisch korrekter Sakramentenlehre", den die harten Ethno-Religionen der Orthodoxie weit weniger stören als "jener Geist der Aufklärung, dem sich viele protestantische Kirchen Europas in harten Lernprozessen geöffnet haben." (205)

Der Beitrag von Hermann J. Pottmeyer, der den Band abschließt, widmet sich dem doppelten Kern der Sache: "dem Vorwurf der Traditionalisten, das 2. Vatikanische Konzil habe mit der katholischen Lehrtradition gebrochen, und dem Bemühen des Papstes um Aufklärung und Versöhnung." (207) Den Aufklärungsgehalt sieht Pottmeyer vor allem in der Hermeneutik der Reform, den der Papst der Hermeneutik der Diskontinuität entgegenstellt. Diese trifft speziell die Traditionalisten. In dieser Aufklärungshaltung und durch die Gesten des Entgegenkommens wird Papst Benedikt "für die Traditionalisten zur stärksten Herausforderung in ihrer bisherigen Geschichte" (212). Offen bleibt für Pottmeyer die Frage, wie weit der Papst mit der Rücksicht auf diese gehen darf, "ohne das Wohl der Gesamtkirche und deren drängende Bedürfnisse hinter diese Rücksicht zurücktreten zu lassen." (212)

Dokumentiert werden von diesem Band im Anhang das Errichtungsdekret zur kurialen Institution 'Ecclesia Dei', Papst Benedikts Weihnachtsansprache an die Kurie von 2005 (im Auszug) sowie sein Brief an die Bischöfe vom März 2009, das Aufhebungsdekret der Exkommunikation von der Bischofskongregation sowie die Klarstellungen des Staatssekretariats zur Piusbruderschaft, Bischof Müllers Hirtenwort in der Sache sowie die Erklärung der deutschen Bischofskonferenz.

In den Skandalen um sexuelle Gewalt in der Kirche wurde offenbar, dass die so genannte Diktatur des Relativismus zunächst einmal ein innerkirchliches Problem darstellt; Menschenrechte wurden auf breiter Front und in manchen Diözesen systematisch zu Gunsten von Kirchenrechten relativiert. Die Lektüre dieses Bandes zeigt in eine ähnliche Richtung. Angesichts der selbstgerechten Selbstverständlichkeit, mit der Bischof Williamson die Aufhebung seiner Exkommunikation als Fanal für den schlimmsten Relativismus des 20. Jahrhunderts nutzte, der Leugnung des Holocaust, musste sich der Papst gefallen lassen, dass ihm selbst die Relativismusfrage gestellt werden. Relativiert er mit seiner Piusbrüder-Entscheidung die Lehren des Konzils? Und geht er dabei prinzipiellen Relativierern des Glaubens in die Falle, die eine arrogante Widerspenstigkeit zur Moderne für Traditionsbewusstsein ausgeben? Die Antwort darauf fällt bei den Autoren dieses Bandes uneinheitlich aus. Allerdings ist bei allen deutlich, dass die Konzilsrezeption keiner traditionalistischen Relativierung offen steht. Bei allem offenen Ausgang der Interpretation des Konzils ist das eine rote Linie, die von allen gezogen wird. Das Problem in dieser Sache besteht darin, dass hier die Zeit nicht die Wunden heilt. Die Wunden einer traditionalistischen Konzilsrelativierung werden kirchlich offen bleiben und weiter schwären, solange die päpstliche Piusbrüder-Angelegenheit nicht wirklich entschieden ist. So lange kann der Papst der Anfrage danach, wie er es selbst mit der Relativierung ad intra hält, gegen die er ad extra auftritt, nicht entgehen. Das ist sein Pontifikatsproblem geworden. Der vorliegende Band ändert daran nichts, aber er legt unmissverständlich den Finger in diese Wunde. Das bleibt der Verdienst des Buches.

Die einzige Problemanzeige, die dem Band allerdings auch durchgängig fehlt, bezieht sich auf den konziliaren Charakter der Auseinandersetzung selbst. Sie stellt ein spätmodernes Remake des zentralen Diskurswechsels auf dem letzten Konzil dar: Benötigt der Glaube die Sozialform einer selbstbezogenen societas perfecta, der unter globalisierten Lebensbedingungen nur mehr die Alternativen Weltfremdheit oder Borniertheit offen stehen? Oder gedeiht er in den heutigen Verhältnissen erst mit einer offenen Zeitgenossenschaft, die innerkirchlich unweigerlich zu prekären Auseinandersetzungen führt? Kann die Kirche überzeugend darstellen, dass der christliche Glaube tatsächlich allen Menschen etwas zu sagen hat, ohne dass sie dabei die Realität klammheimlich überspielt, dass niemals alle Menschen katholisch sein werden? Die Abkehr von der societas perfecta ist konziliar beschlossen und lehramtlich sogar abgeschlossen worden. In der anstehenden Piusbrüderentscheidung des Papstes steht der letzte Versuch zur Debatte, diese Entscheidung umzukehren. Wie alle vorherigen wird auch dieser Versuch scheitern. Aber daran entscheidet sich dieses Pontifikat; die Piusbrüder sind seit 2009 zu seiner Schicksalsfrage geworden.


Zum Rezensenten:

Dr. Hans Joachim Sander, geb. 1959, ist Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg.

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