Michael Basse (Hg.), Calvin und seine Wirkungsgeschichte (Dortmunder Beiträge zu Theologie und Religionspädagogik, Bd. 8), Berlin 2011, Lit Verlag Dr. W. Hopf, 260 S., 24,90 Eur, ISBN 978-3-643-10853-1


Michael Basse, Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Technischen Universität Dortmund, nahm das Calvin-Jahr 2009 zum Anlass, eine Ringvorlesung zu organisieren. „Das Ziel war es, das Lebenswerk des Genfer Reformators einmal aus der Perspektive der verschiedenen theologischen Disziplinen wie auch aus unterschiedlichen konfessionellen Blickwinkeln zu betrachten, um so die Bedeutung Calvins zu ergründen und kritisch zu würdigen“ (Vorwort).  Die Vorträge liegen nun gedruckt vor.

Thomas Pola fasst in „Calvin als Exeget des Alten Testaments – eine Skizze“ (5-27) den Forschungsstand zum Thema gut zusammen. Pola hebt Calvins Interesse am „mens scriptoris“ und „sensus simplex“ (26) hervor und beschreibt differenziert, wie Calvin die Kontinuität und Diskontinuität von Altem und Neuem Testament bestimmt. Weniger erfolgreich verläuft Polas Versuch, Calvins Hermeneutik für die heutige Exegese fruchtbar zu machen. Zwar werden Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen der heutigen Exegese und der Calvins deutlich, aber von Calvin inspirierte methodische und hermeneutische Impulse sind nicht erkennbar.

Eine Deutung von Calvins neutestamentlicher Exegese aus katholischer Sicht steuert Emmanuel L. Rehfeld mit „Hermeneutische und methodische Leitlinien in Calvins Auslegung des Neuen Testaments“ (29-56) bei. Rehfeld führt zutreffend aus, dass die Exegese Calvins ihren Ort in der Kirche hatte und der Kirche seiner Zeit dienen wollte. Nicht überzeugend ist dagegen, wie Rehfeld das Verhältnis zwischen Schrift und regula/analogia fidei bei Calvin bestimmt. Er versäumt zu klären, wie Calvin „regula/analogia fidei“ verwendet und scheint vorauszusetzen, dass der Ausdruck bei Calvin auf einen Set von Aussagen oder Überzeugungen verweist, an dem sich die Schriftauslegung zu orientieren habe. Doch wenn Calvin von der „regula/analogia fidei“ spricht, meint er ein Interpretationsverfahren, das theologische Aussagen daraufhin prüft, ob sie dem Glauben entsprechen, ob sie – anachronistisch gesprochen – mit dem Wesen des Glaubens übereinstimmen (vgl. dazu z.B. das von Rehfeld zitierte Widmungsschreiben an Franz I., CStA 1,1 72,23-74,2).

Beide Vorträge, die sich mit Calvins Exegese befassen, heben hervor, 1. dass für Calvin einerseits das Alte Testament eine große Bedeutung hatte und er dessen sachliche Einheit mit dem Neuen Testament betonte und 2. dass er die gesamte Schrift vom Römerbrief her las.

Detlev Dormeyers Beitrag „Calvin und seine Bedeutung für die römisch-katholische Exegese“ (57-73) verfehlt das Thema, und zwar nicht nur das Thema, das im Titel erscheint, sondern auch das in der Einleitung formulierte erweiterte Thema: „die Bedeutung von Calvin für die gesamte neuzeitliche Exegese“ (57). Statt diese Themenstellungen anzugehen, äußert sich Dormeyer zu zwei Einzelfragen, nämlich a) zu Calvins Auslegung der Evangelien-Harmonie sowie b) zu Mt 13, 1 ff. par. und Calvins Prädestinationslehre. Nun wäre es möglich gewesen, dass Dormeyer die Behandlung der Einzelfragen exemplarisch versteht und in einem Fazit zu Konsequenzen im Blick auf Calvins Bedeutung für die neuzeitliche Exegese kommt. Aber das geschieht nicht, sondern der Beitrag schließt mit offenen Fragen zum Thema „Verworfen-Sein“ (71).

Einen schönen Überblick über das Verhältnis von „Augustin und Calvin“ (75-98) hat Larissa Seelbach beigetragen. Sie macht überzeugend deutlich, warum und in welchem Sinn Calvin, obwohl er auch Kritik an Augustin äußerte, diesen als einen der Seinen verstehen konnte: „Augustinus totus noster“ (98; vgl. 75. 91).

Mit dem schwierigen Thema der Vorsehung Gottes in Calvins Theologie befasst sich Christian Link: „Wie handelt Gott in der Welt?“ (99-118). Nach Link besteht bei Calvin „ein erkennbarer Zwiespalt zwischen dem Vorsehungsglauben, der sich zu Gottes Führung bekennt, und der Vorsehungslehre, die auf ein geschlossenes Bild des göttlichen Handelns drängt“ (107). In der Vorsehungslehre erhalte der „Providenzbegriff einen weltüberlegenen, deterministischen Zug“ (ebd.). Der Vorsehungsglaube nehme dagegen eine „Innenperspektive“ (109) ein. Der Heilige Geist erschließe dem Glaubenden die Welt als „Anwesenheitsraum“ (111) Gottes, und dieser interpretiere, was er in diesem Raum erlebe, als Vorsehung. Im Unterschied zur Vorsehungslehre halte der Vorsehungsglaube „der Eigenwirksamkeit des Menschen, seiner Verantwortung für das eigene Leben, einen ungewöhnlich großen Raum frei“ (116). Es sei Calvin nicht „gelungen“, die „beiden Linien überzeugend zusammenzuführen“ (117).

Der Prädestinationslehre gewidmet ist Susanne Drees’ Beitrag „Calvins Prädestinationslehre und ihre Rezeption“ (119-141). Drees stellt die Entwicklung und die Grundformen der Präsdestinationslehre, den Kampf gegen sie und ihre Rezeption im Calvinismus dar. Im Anschluss an Wilhelm Neuser unterscheidet sie zwei „Lehrweisen“ (Neuser, zit. 129). Die erste, die durch die Predigt „L’élection éternelle de Dieu“ (1551) belegt ist, spreche nur von der Gnadenwahl, die zweite, die sich z. B. in der Abhandlung „De aeterna praedestinatione“ (1552) und in der Institutio von 1559 findet, lehre die doppelte Prädestination. Der „Intention“ (141) nach habe die Prädestinationslehre „der seelsorgerlichen Vergewisserung der Güte Gottes“ gedient. In Genf und in den Niederlanden „zu Beginn des Freiheitskampfes“ habe das noch „im Vordergrund“ gestanden. „Doch dann wurde die Prädestinationslehre systematisiert und abstrahiert“. „Die Dordrechter Canones zeigen dies deutlich“ (140). Wenn Drees die seelsorgerliche Intention betont, ist ihr zuzustimmen. Nicht überzeugend ist jedoch ihre These, die „Prädestinationslehre“ sei „für Genf [...] notwendig [!]“ gewesen, weil sie „zu Zusammenhalt, auch in Krisensituationen“ (136), geführt habe.

Unter dem Titel „Das Brot des Lebens zwischen biblischer und kapitalistischer Ökonomie“ (143-163) äußert Thomas Ruster sich zunächst kurz zu Max Webers These von der „Wahlverwandtschaft zwischen Calvinismus und Kapitalismus“ (143) und deren Entdeckungszusammenhang. Aber dann wechselt er das Thema und befasst sich mit dem Zusammenhang von Abendmahlslehre und Ökonomie. In der Eucharistie gehe es „um das Verhältnis der Ökonomie des Reiches Gottes zur Ökonomie der natürlichen Daseinserhaltung“ (150). (Der Rezensent bekennt, dass ihm dieser tiefe Sinn des Abendmahls bisher entgangen ist.) Die Deutungen der Gegenwart Christi im Abendmahl werden direkt Wirtschaftsordnungen und Deutungen ihres Verhältnisses zum Reich Gottes zugeordnet. Dadurch rehabilitiert Ruster die Weber-These in verwandelter Form. Denn indem der Calvinismus die Gegenwart Christi aus der Welt „hinausdefiniert“ (160) habe, habe er dem Kapitalismus „Raum gegeben – den Raum, der durch den Wegfall der Präsenz Christi auf Erden entstanden ist“ (159). Abgesehen davon, dass Ruster wenig Verständnis für die Intentionen zeigt, die Calvins Christologie und Abendmahlsverständnis zugrunde lagen, erscheint die gesamte Konstruktion nicht nur im Blick auf den Calvinismus willkürlich und kurzschlüssig.

Sehr gelungen ist Thomas K. Kuhns Beitrag „Johannes Calvin als Politikum“ (165-198) über die Calvin-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert. Er thematisiert Ernst Troeltschs Ausführungen über die Bedeutung des Calvinismus für die moderne Welt, das Calvin-Jubiläum 1909 in der Schweiz und in Deutschland sowie Leonhard Ragaz’ politische Inanspruchnahme Calvins angesichts des Ersten Weltkriegs und des Nationalsozialismus. Mit Recht berücksichtigt er nicht nur die Fachliteratur, sondern „die Calvin-Literatur in ihrer ganzen medialen Breite“ (167), so z. B. Wilhelm Conrads „geradezu ‚multimedial’ konzipierte reformationsgeschichtliche Inszenierung“ (186) in der Reihe „Volksabende“. In den Beiträgen zum Calvin-Jubiläum 1909 spiegelt sich die kontroverse Beurteilung Calvins. Während in der Schweiz der Traditionsanschluss an Calvin gesucht wurde, zeichneten lutherische Beiträge meist ein negatives Bild und bemühten sich, die Überlegenheit Luthers zu erweisen. Beide Sichtweisen kamen nicht ohne „eine gewisse Enthistorisierung“ (197) aus.

Ernstpeter Maurer beleuchtet das Verhältnis von „Calvin und Barth“ (199-224). Der Schwerpunkt liegt auf Karl Barths Auseinandersetzung mit Calvin in der „Kirchlichen Dogmatik“ (24 von 25 Seiten). Das lässt sich rechtfertigen, dennoch wäre es wünschenswert gewesen, Maurer hätte etwas mehr über Barths Calvin-Vorlesung von 1922 und über ihr Verhältnis zur Calvin-Rezeption in der „Kirchlichen Dogmatik“ geschrieben oder wenigstens Auskunft darüber gegeben, warum ihm das nicht sinnvoll zu sein scheint. Die Ausführungen zur „Kirchlichen Dogmatik“ behandeln einzelne Themen nacheinander, mit Recht besonders ausführlich die Erwählungslehre. Es fehlen aber ein roter Faden und ein Resümee: Gibt es Grundmuster oder Tendenzen, die sich in Barths Auseinandersetzung mit Calvin beobachten lassen, oder nicht? War der letzte Teil „III Problem: Selbstbestimmung und Bestimmung durch Gott – ein Rest des reformierten ‚Axioms‘ finitum non capax infiniti?“ (223 f.) als eine Art Resümee gedacht? Wenn das der Fall sein sollte, hat der Rezensent es nicht erfasst.

Dem schwierigen Thema „Calvin und der Calvinismus als Thema des Religionsunterrichts“ (225-242) wendet sich Gerhard Büttner zu. Nachdem er die Schwierigkeit, Calvin im Rahmen kirchengeschichtlicher Themen zu berücksichtigen, dargestellt und unbefriedigende Versuche didaktischer Calvin-Vermittlung diskutiert hat, entwickelt er eine Alternative. Diese orientiert sich an dem Grundsatz, „Fragestellungen Calvins“ sollten nicht „in erster Linie aus der spezifischen Situation Genfs im 16. Jh. [...], sondern aus lebensweltlichen Fragestellungen, die den Schüler/innen unmittelbar zugänglich sind“ (236), heraus entfaltet werden. Seinen Ansatz verdeutlicht er durch drei „Szenarien“: „1. Der Freie Wille, die Gnade und die Prädestination“ (236-239); „2. Der Zusammenhang zwischen Ethik und Ekklesiologie oder ‚wie sollen Christ/innen ihr Zusammenleben organisieren?’“ (239 f.) und „3. Einblicke in die calvinistische Welt“ (240-242).

Abgeschlossen wird der Band durch einen Beitrag des Herausgebers Michael Basse über „Die kulturgeschichtliche Bedeutung Calvins“ (243-259), der im Rahmen der Ringvorlesung auch als „Rückblick und Ausblick“ (253) gedacht ist. Basse gibt einen Überblick über die theologie- und kulturgeschichtliche Wirkung Calvins und charakterisiert den Calvinismus als spezifische „Konfessionskultur“ (252). Zutreffend, aber nicht überraschend ist, wenn Basse resümiert: „Es ist in verschiedenen Zusammenhängen dieser Vorlesungsreihe deutlich geworden, dass die Calvinrezeption und die damit einhergehende Wirkung Calvins immer eine Aneignung, oftmals auch eine Vereinnahmung des Genfer Reformators implizierte“ – man könnte ergänzen: oder Abgrenzung und Herabsetzung (vgl. Kuhns Beitrag) – „die aus ganz bestimmten Interessen und Konstellationen heraus erfolgte.“ (258)

Fazit: Die Aufgabe einer solchen Ringvorlesung besteht nicht so sehr darin, neue Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern einer breiteren Öffentlichkeit in und außerhalb der Universität Forschungsergebnisse zu vermitteln und die Diskussion der Beteiligten miteinander und mit dem Publikum anzuregen. Die meisten Beiträge werden dieser Aufgabe gerecht, teilweise sogar ausgezeichnet, aber einzelne erfüllen leider nicht die Erwartungen, die an einen Beitrag zu einer Ringvorlesung über „Calvin und seine Wirkungsgeschichte“ gestellt werden dürfen.


Zum  Rezensenten:

Dr. Michael Hüttenhoff, geb. 1958, Professor für Historische und Systematische Theologie, Universität des Saarlandes .

Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz