Frank Bösch, Constantin Goschler (Hgg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt, New York 2009, Campus Verlag, 290 S., 29,90 EUR, ISBN 978-3-593-38863-2


Im Frühjahr 2010 veröffentlichte der Jenaer Philosoph Klaus-Michael Kodalle eine von ihm selbst so bezeichnete „Herausforderung“: „Zur deutschen Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert“.[1]) Ausgehend von der Feststellung, dass die „Erinnerungspolitik … vor einem Umbruch“ stehe, weil „Opfer und Täter als lebende Zeugen … bald nicht mehr unter uns“ sind, fragt Kodalle nach den Bedingungen für eine gelingende Vermittlung der Erinnerung des Holocaust an die nachwachsenden Generationen. Seine Forderung lautet: „Die Erinnerung muss entmoralisiert werden.“ Kodalle diagnostiziert eine „Verfilzung zwischen Erinnerung und Schuldvorwurf“, der nur durch eine differenzierte Darstellung der Zeit des Nationalsozialismus zu begegnen sei. Allerdings verstrickt sich Kodalle in eine nahezu spiegelbildliche „Verfilzung“ von Erinnern und Vergeben: denn die Vergebung für die Täter wird für ihn zur Bedingung für deren Schuldeingeständnis.

Die merkwürdige Verknüpfung von Erinnerung und Vergebungs-Postulat, die man bei Kodalles „Herausforderung“ antrifft, findet sich seit einigen Jahren auch in der Diskussion um die Theologie nach Auschwitz.[2] Denn wenn sich Theologen derzeit für die „Vergangenheitsbewältigung“ interessieren, steht mit der konkreten Täterforschung – auch in Theologie und Kirche – unübersehbar die Frage im Raum, ob eine christliche Vergebungs- und Gnadentheologie diese schmerzhafte Erinnerungsarbeit sozusagen apriorisch überwölben müsse oder ob die konkrete Erkenntnis dieser Vergangenheit gerade umgekehrt Fragen aufwirft an die gängigen theologischen Redeweisen von Gnade und Vergebung.[3]


Erinnerungskultur jenseits der Wissenschaft

Der in Theologie und Gesellschaft derzeit offenbar zum Problem gewordenen „Verfilzung“ von Erkenntnis- und Vergebungs-Perspektive begegnen wir vielleicht am besten, indem wir uns die Praxis von Erinnerung und „Vergangenheitsbewältigung“ in der Geschichte der Bundesrepublik zuwenden, also jener Zeit, in der Opfer und Täter noch nicht selbst Vergangenheit zu werden begannen. Von hier her lassen sich vielleicht sachgerechtere Postulate zur künftigen Entflechtung und Zuordnung von Erkenntnis und Moral finden, als sie derzeit durch die Debatte geistern. Mit dieser Hypothese habe ich den Sammelband Public History  gelesen.

Dessen Herausgeber haben es sich zum Programm gemacht, ein immer noch gängiges „Top-Down-Modell“ der öffentlichen Erinnerung zu überwinden, nach dem öffentliche Geschichtsdiskurse der historischen Wissenschaft nur popularisierend nachfolgen und wiederum von der Wissenschaft rezensiert und korrigiert werden müssen. Stattdessen geht es dem Buch um den originären Beitrag von Public History in Journalismus, Film, Gedenkstätten oder Literatur für die Rekonstruktion der Vergangenheit (8) – einen Beitrag, der mitunter auch die Geschichtswissenschaft herausfordert und antreibt.

So zeigt Jan Erik Schulte, wie der Journalismus in der frühen Bundesrepublik sich allmählich von der Bagatellisierung von Mittätern als „anständig, aber ängstlich und ehrgeizig“ [4]) über die Fixierung auf den Haupttäter Hitler hin zur Wahrnehmung der Vielzahl von Tätern in der Mitte der Gesellschaft und der komplexen Heterogenität des NS-Regimes entwickelte. Entscheidende Anstöße zur Veränderung der Darstellung gingen dabei zunächst nicht von der akademischen historischen Forschung aus, sondern von zeitgeschichtlichen Ereignissen wie dem Eichmann-Prozess. Die bedeutende Rolle großer NS-Prozesse für das öffentliche Vergangenheitsbewusstsein zeigt Inge Marszolek anhand der Prozessberichterstattung des Journalisten Axel Eggebrecht zu den Tätern von Bergen-Belsen (1945) und Auschwitz (1963-1965). Dagegen fungierten in der historischen Forschung lange – und das nicht nur in Deutschland – „Militärische Eliten als Stichwortgeber“, wie Oliver von Wrochem anhand der Memoirenliteratur von Generälen und ihrer Wirkungsgeschichte zeigt. Die hier grundgelegte „interpretatorische Angrenzung von Krieg und Nationalsozialismus“ wurde über Jahrzehnte zu einem entlastenden Erzählmuster – was die Aufregung um die Wehrmachtsausstellung seit 1995 erklärt.

Die wohl öffentlichkeitswirksamste Darstellung des Nationalsozialismus fand jedoch in Film und Fernsehen statt. Entsprechend deutlich lassen sich hier auch gesellschaftliche Veränderungen studieren, wie es Frank Bösch in seinem Beitrag über Dokumentarfilme tut: 1958 verhindert die Bundesregierung noch die Teilnahme des (französischen!) KZ-Films Nacht und Nebel bei den Festspielen in Cannes. Ins deutsche Fernsehen gelangt der Film erst nach einer Debatte im Bundestag (56). Auch später noch kommen viele Produktionen zunächst aus dem Ausland. Und in den 70er Jahren nimmt „die Präsenz des Nationalsozialismus im Fernsehen ab“ (69), denn entgegen der heute verbreiteten Wahrnehmung des Zusammenhangs von Studentenrevolte und Vergangenheitsbefragung kommt es im Gefolge der 68er zunächst zu einem Rückgang historischen Interesses. Das bestätigt auch Olaf Blaschkes Untersuchung des Verlagswesens: Zeitgeschichte hatte eher in der ersten Hälfte der 60er Jahre ihre Hochkonjunktur auf dem Buchmarkt (239-246).


Täter und Opfer

Die Unterschiede von Täter- und Opferperspektive in der öffentlichen Wahrnehmung des Nationalsozialismus dokumentiert der Band vor allem in den Beiträgen zu bestimmten Institutionen der Public History, wie der Justiz und der Gedenkstätten. Nimmt man die beiden Beiträge (von Annette Weinke und Habbo Knoch) zusammen, so zeigt sich ein bemerkenswertes Paradox in den verbreiteten Abwehrstrategien gegen die konkrete Konfrontation mit der Vergangenheit: Der Opferstatus wird nivelliert, für die Täter dagegen Differenziertheit eingefordert. So drang das mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen verbundene Programm einer „didactic legality“ (156) weitgehend nicht durch, weil die angebliche „Schwarz-Weiß-Optik“ (174) des Tribunals als „Siegerjustiz“ empfunden wurde.[5] Auf der Suche nach einer den Maßstäben der Justiz genügenden „‘Nüchternheit‘, ‚Objektivität‘ und ‚Sachlichkeit‘“ wandten sich die den Gerichten mitunter zuarbeitenden deutschen Zeitgeschichtsforscher in den 50er und 60er Jahren nun ausgerechnet „früheren Funktionsträgern des NS-Regimes“ und ihrem als wertvoll erachteten Insiderwissen zu (174), so dass diese ihre Sichtweise eines Gegensatzes von „Terror und verwaltungsmäßiger Normalität“ (176) in die Rechtsprechung einbringen konnten. Die später erst aufgewertete Bedeutung der Opfer als Zeitzeugen wurde von der Zunft dagegen eher kritisch betrachtet, weil sie „den Neutralitätsstatus des juridischen Zeugen“ unzulässig „mit der moralischen Autorität der Überlebenden verbunden habe.“ (178)

Dieser Entwertung des Opfer-Zeugnisses entspricht die in der Nachkriegszeit geschichtspolitisch dominierende „Tendenz …, die Opfergruppen der Lager in einem allgemeinen Gedenken an die Kriegsopfer zu subsumieren“ (194) – eine Politik, in deren Verlauf zahlreiche Lager einfach verschwanden, russische Kriegsgefangenenlager in Gedenkstätten der deutschen Vertreibung umfunktioniert wurden [6] und die Bundesregierung das allgemeine Gedenken an die „Opfer der Hitlerdiktatur“ pflegte (196). Diese merkwürdige Tendenz, gegenüber den Tätern differenziertes Zuhören einzufordern und gleichzeitig den Opfern subjektive Befangenheit zu attestieren, erinnert mich indirekt an die aktuelle Debatte um Verzeihen als Voraussetzung der differenzierten Erinnerung.

Constantin Goschler zeigt in seinem Beitrag zu den „Stimmen der Opfer“ denn auch, dass die deutschen Zeitgeschichtler der Nachkriegszeit ihr Berufsethos geradezu als ein „Wächteramt zur Verteidigung historischer Wahrheiten über den Nationalsozialismus gegen die verzerrten und interessengeleiteten Deutungen von Zeitzeugen und Nachlebenden“ verstanden (134). Der Gegenschlag kam erst in den 70er Jahren im Zuge der jetzt bewusst werdenden Zentralität des Holocaust für die Geschichte des Nationalsozialismus mit einem „immensen Ansehensgewinn der Zeitzeugenschaft“ (149), die sogleich „die Konstruktion der ‚vergessenen Opfer‘“ (147) hervorrief. Das verständliche Bemühen, alle Opfer zu Wort kommen zu lassen – bis zur Neuentdeckung deutscher Kriegskinder und Vertriebener in den vergangenen Jahren -, trägt in sich die Tendenz zu einer neuen „Universalisierung“ (155). Das kennzeichnet m.E. jenes Paradox, das die Autoren der Beiträge selbst nicht scharf herausarbeiten: Die Beschäftigung mit der Täterperspektive drängt auf Differenzierung sowohl gegen einfache Entschuldigungen als auch gegen Kollektivschuldvorwürfe – der Beschäftigung mit dem Opfern eignet dagegen (selbst in ihrer Aufwertung als unhintergehbarer Zeugen) ein Gefälle zur Nivellierung, bis hin zu der Rezeptionswahrnehmung in der Öffentlichkeit, nach der irgendwie alle Opfer einer schlimmen Zeit waren.


Irritierende Zeugenschaft

Viel zu wenig befasst sich der Band m.E. mit den fiktionalen und „kreativen“ Formen der Public History: mit den Liturgien der Gedenkfeiern etwa, den Jahrestagen, der Darstellung des Nationalsozialismus in Spielfilmen und Fernsehserien, der Denkmal-Kunst. Eine Ausnahme stellt Erhard Schütz‘ Beitrag zu Gegenwartsromanen dar. Leider geht sein Aufsatz häufig nicht in die Tiefe, sondern bleibt eher aufzählend. Aber schon dadurch räumt er mit einer Reihe von Klischeevorstellungen auf: So stimmt es nicht, dass in der DDR Auschwitz kaum eine Rolle gespielt habe (245), und auch nicht, dass es im Westen in der frühen Nachkriegszeit kaum KZ-Berichte gegeben habe (258). Gegenüber der neuen Rede von der angeblichen Tabuisierung der deutschen Leidensgeschichte zeigt Schütz, dass die Erinnerung von deutschen Kriegsgefangenen und Vertriebenen lange die Literaturszene dominierte (262 f.) [7], während die Klassiker der internationalen Holocaust-Literatur „in deutschen Übersetzungen nennenswert erst in den neunziger Jahren auftauchen“ (268).[8]

Was mir diesen Schlussaufsatz des Buches für die Leitfrage meiner Besprechung besonders wichtig erscheinen lässt, ist seine Reflexion des Verhältnisses von Zeugenschaft in der Geschichtsschreibung und in der Literatur. Schütz spricht der Literatur eine subversive Kraft gegen „hegemoniale Muster von Normalität“ auch in der Erinnerung zu, also „gegen eine fetischisierte, letztlich … antiquarische Gedächtniskultur“, in der nur noch bestätigt wird, was man schon weiß (279). Schütz zeigt dies anhand einer Reihe von umstrittenen, weil irritierenden Romanen der letzten Jahre, von Bernhard Schlinks Der Vorleser bis zu Jonathan Littells Die Wohlgesinnten. Ihnen gemeinsam ist eine Verunsicherung der schon gängig gewordenen Vorstellungen über Opfer und Täter. Als Gegenprobe dient Schütz die angebliche Autobiografie Aus meiner Kindheit von Binjamin Wilkomirski alias Bruno Dössecker: ein Stück Erinnerungsliteratur, dass die verbreiteten Erwartungen an deren Authentizität genau erfüllte, aber eben gänzlich fiktional war.

Das damit am Ende des Buches sehr offen thematisierte Problem der Zeugenschaft – ihrer Verdrängung, ihrer wachsenden Bedeutung, ihres Missbrauchs – zieht sich wie ein geheimer roter Faden durch die Beiträge. Es ist m.E. auch das für die Theologie wichtigste Thema in der Rezeption von Public History.[9] Und mit ihm sind wir wieder bei der Ausgangsfrage von Klaus-Michael Kodalle, wie Public History als didaktische Geschichtsüberlieferung für die Nachgeborenen möglich sei in der Zeit „nach den Zeugen“. Theologen sollten das Buch auch unter diesem Leitmotiv studieren. Dann dürfte es ihnen vor allem dies mit auf den Weg geben: Genauigkeit, differenziertes Hinsehen, Bereitschaft, sich irritieren zu lassen, gehört allerdings zu der von Nachgeborenen geforderten Wahrnehmung. Darin bin ich mit Kodalle einig. Aber solche Wahrnehmung setzt vor allem eines voraus: Aushalten. Das Buch erzählt auch eine Geschichte darüber, wie schwer es immer wieder in der Geschichte der Bundesrepublik war, Wahrheiten auszuhalten. Die neue Konjunktur des Themas Verzeihen kommt mir leider wie eine erneute Variation dieser Abwehrmechanismen gegen das Aushalten vor. Sollte nicht gerade in den Generationen, die nicht mehr als Täter oder Opfer in das Geschehen involviert sind, die Frage nach der Wahrheit aushaltbar sein ohne einen wie immer gearteten Ruf nach Exkulpierung (von wem?)? Verzeihen können nur die Opfer, und niemand kann es von ihnen verlangen. Und die Frage, wem Gott vergibt, müssen sogar Theologen Gott überlassen.


[1] So der Untertitel. In: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen, Heft 2/2010, 1-8
[2] Vgl. etwa den Aufsatz von Jan-Heiner Tück, Inkarnierte Feindesliebe. Der Messias Israels und die Hoffnung auf Versöhnung. In: Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah, Freiburg 2005, 216-258
[3] Vgl. zu dieser Diskussion meine Rezension des Buches „Mit Blick auf die Täter“ in theologie.geschichte 2006
[4] So der Spiegel 1950 über den Polizeichef Arthur Nebe.
[5] Dieser „Anti-Nürnberg-Polemik“ haben sich übrigens „insbesondere die beiden großen Kirchen mit Emphase angeschlossen“. (162)
[6] Vgl. 195 zu Sandbostel und Stukenbrock
[7] Zudem: „Im Westen blieb bis gegen Ende der fünfziger Jahre die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur von ‚wehleidigen Flüchtlings- und Vertreibungsgeschichten‘ dominiert.“ (270)
[8] Primo Levis „Was ist ein Mensch?“ erschien im Original 1947, in Deutschland 1995.
[9] Vgl. immer noch maßgeblich: N. Reck, Im Angesicht der Zeugen. Mainz 1998, außerdem aktuell: P. Petzel, Wider das Verschwinden der Zeugen im Erinnern – Erinnern als Bezeugen. In: Ders.: Christ sein im Angesicht der Juden. Berlin 2008, 63-87, sowie den Sammelband: P. Petzel/N. Reck (Hrg.) Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003


Zum Rezensenten:

Dr. Gregor Taxacher, geb. 1963, Theologe, freier Autor und Journalist in Köln.


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