Stefanie Westermann, Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Köln, Weimar Wien 2010, Böhlau Verlag, 336 S., 42,90 EUR, ISBN 978-3-412-20562-1


Der Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen – sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR – wird seit mehreren Jahren intensiv wissenschaftlich erforscht. Die Thematik ist jedoch noch längst nicht umfassend oder abschließend aufgearbeitet, wie die jüngste, großes Aufsehen erregende Publikation über die Rolle des Auswärtigen Amtes zwischen 1933 und 1945 und die Übernahme zahlreicher Diplomaten mit NS-Vergangenheit in den bundesrepublikanischen Dienst nachdrücklich gezeigt hat.[1]

In vielen Bereichen, nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in der Wissenschaft, haben die Historiker mit Blick auf die Zeit vor und nach 1945 erstaunliche Kontinuitäten über den Systembruch hinweg festgestellt, und zwar sowohl in personeller Beziehung als auch hinsichtlich der Denkstrukturen. Dies gilt auch für die Eugenik, wie Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz bereits Ende der 1980er Jahre in ihrer umfangreichen Untersuchung zur Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland nachgewiesen haben.[2]

Stefanie Westermann hat diese wissenschaftlichen Erkenntnisse mit Blick auf den politischen, juristischen und gesellschaftlichen Umgang mit den nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik durch weitere Detailergebnisse bestätigt. Unter dem NS-Regime wurden nach Schätzungen der Forschung zwischen 300.000 und 400.000 Menschen Opfer des 1933 erlassenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) und aufgrund des Urteils eines in jedem Landgerichtsbezirk eingerichteten Erbgesundheitsgerichts zwangssterilisiert. Nach Gründung der Bundesrepublik wurde das GzVeN allerdings nicht als typisch nationalsozialistisches Gesetz gewertet, was bedeutete, dass die Zwangssterilisierten nicht als NS-Verfolgte anerkannt und damit von einer Entschädigung ausgeschlossen wurden. In einzelnen deutschen Gebieten bestand jedoch die Möglichkeit, im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens einen eventuell zu Unrecht ergangenen Sterilisationsbeschluss im individuellen Fall überprüfen und annullieren zu lassen. In ihrer 2009 abgeschlossenen Dissertation untersucht Stefanie Westermann diese Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen nach 1945, die in der britischen Besatzungszone bzw. in den auf diesem Territorium gelegenen späteren Bundesländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Nordrhein-Westfalen bis zum Jahr 1998 möglich waren. Als konkrete Quellenbasis dienten ihr insgesamt 250 durch Zufallsstichprobe ermittelte Verfahrensakten der Amtsgerichte in Hamburg, Kiel und Hagen, die den Zeitraum bis 1989 abdecken.

Derartige Wiederaufnahmeverfahren waren bereits nach dem GzVeN möglich, nach 1945 lehnten sie sich nicht nur in rechtlicher Hinsicht sondern auch in der formalen Ausführung, wie z.B. der Besetzung der Gerichte mit einem Jurist und zwei Medizinern, an das NS-Gesetz an. Wenngleich die Gerichte vielfach umfangreiche Überprüfungen der früheren Sterilisationsbeschlüsse vornahmen, zu diesem Zweck medizinische Gutachten einholten und Befragungen der Antragsteller und ihres Umfeldes durchführten, konnten die Betroffenen, wie Stefanie Westermann konstatiert, nicht mit Empathie und prinzipieller Ablehnung des GzVeN als NS-Unrecht rechnen. Vielmehr sahen die Gerichte ihre Aufgabe in „einer ergebnisoffenen Überprüfung der nationalsozialistischen Urteile auf der Grundlage neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder einer positiven Spätentwicklung der betroffenen Person“ (S. 110) und folgten damit in ihrem Selbstverständnis ungebrochen nationalsozialistischen Gesetzesnormen. Nicht nur die Argumentationsmuster in den Gerichtsurteilen sondern auch die Zahl der Aufhebungsbeschlüsse machten die fortdauernde Akzeptanz eugenischer Zwangseingriffe und die weitere Anerkennung der Grundlagen des GzVeN zumindest in den ersten Jahrzehnten nach 1945 sichtbar. Nur bei einem Viertel der rund 3700 bis Ende Juni 1965 in der ehemaligen britischen Besatzungszone durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren folgte das Gericht dem Antrag der Betroffenen auf Aufhebung des früheren Sterilisationsbeschlusses. In den 1960er Jahren setzte allmählich ein Wandel in der Gerichtsbarkeit ein, der zunächst zu genaueren Gutachten und einer vermehrten Berücksichtigung der Sozialisationsbedingungen führte. Schließlich wurde der Perspektive der Betroffenen mehr Platz eingeräumt und eine stärkere Empathie für diese entwickelt. In den 1980er Jahren beanstandete eine zunehmend kritischer eingestellte Ärzteschaft häufig die damaligen Sterilisationsgutachten als unwissenschaftlich und stellte Alltagspraxis und Hintergründe des GzVeN grundsätzlich in Frage. Dieser Sichtweise schlossen sich auch die Gerichte an, die nun den Wesenskern des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch die staatlich verfügte Zwangssterilisation verletzt sahen. Auch auf der politischen Ebene wurde der Bewertungswandel vollzogen: 1988 ächtete der Deutsche Bundestag die zwischen 1933 und 1945 durchgeführten Zwangssterilisationen als nationalsozialistisches Unrecht; 1998 wurden die Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte aufgehoben und 2007 folgte schließlich die Ächtung des GzVeN. Diese Entwicklung war Folge einer sich wandelnden politischen Kultur in Deutschland, die seit den 1970er Jahren von einer wachsenden gesellschaftlichen Demokratisierung und, davon beeinflusst, auch von der Bereitschaft zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt ist.

Im zweiten Schwerpunkt ihrer Arbeit untersucht Stefanie Westermann die Perspektive der Betroffenen, und zwar vor allem im Hinblick auf das Leben mit der Zwangssterilisation, und die Bewertung des politischen Umgangs mit den nationalsozialistischen Sterilisationsopfern. Hierfür sichtete sie über 400 Briefe, Stellungnahmen und Lebensbeschreibungen von Zwangssterilisierten, die im Archiv des „Bundes der ‚Euthanasie’-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ (BEZ)[3], einer 1987 gegründete Selbsthilfe- und Interessenorganisation, verwahrt werden, und wertete verschiedene Interviewaufzeichnungen aus. Die verwendeten Ego-Dokumente stammen sämtlich aus einer späten Phase des bundesdeutschen Umgangs mit der NS-Zwangssterilisation und beschreiben die vorangegangenen Jahrzehnte lediglich aus der Rückschau und Erinnerung, die Konstatierung eines möglichen Wandels in der Perspektive der Betroffenen ist mit dem ausgewählten Material nicht möglich.

Auf der Grundlage der von ihr untersuchten Selbstzeugnisse kommt Stefanie Westermann zu dem Ergebnis, dass die geraubten Lebensperspektiven infolge der erzwungenen Unfruchtbarkeit und der damit verbundenen Stigmatisierung die Betroffenen lebenslang begleiteten und belasteten. Dieses Ergebnis widerspricht durchaus früheren Studien zu psychischen und physischen Folgen der Zwangssterilisation, die zum Teil bereits unter der NS-Herrschaft entstanden. Erst in den 1980er Jahren vollzieht sich auch hier ein Wandel, nun werden der Zwangseingriff und die erzwungenen Folgen wie Kinderlosigkeit und Isolation in entsprechenden Untersuchungen als traumatisierend für die Betroffenen beschrieben.

Stefanie Westermann liefert mit ihrer Untersuchung der Wiederaufnahmenverfahren von nationalsozialistischen Erbgesundheitsprozessen sowie der ausführlichen Darstellung der Opfer der Zwangssterilisation und ihres oftmals lebenslangen Leidens einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der „Vergangenheitsbewältigung“ auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Medizinverbrechen. Aus Sicht der Rezensentin wäre es allerdings notwendig gewesen, im einleitenden ersten Teil der Untersuchung stärker die wissenschaftlichen Protagonisten und ihre Vita vor und nach 1945 sowie die Initiativen für ein neues bundesrepublikanisches Sterilisationsgesetz[4] in den Blick zu nehmen, um Kontinuität und Wirkmächtigkeit überkommener Denkstrukturen noch deutlicher herauszustreichen. Es waren gerade die Gutachten und Stellungnahmen dieser Wissenschaftler, die der Politik die Möglichkeit zur gesetzlichen Ausgrenzung der NS-Zwangssterilisierten gaben.


[1] Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
[2] Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988.
[3] Zum 31.12.2009 löste sich der BEZ in seiner Rechtsform als e.V. auf und arbeitet seit dem 01.01.2010 unter dem Namen "Arbeitsgemeinschaft Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten" weiter. Das Archiv des BEZ befindet sich als Depositum im Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe in Detmold.
[4] Roland Zielke, Sterilisation per Gesetz. Die Gesetzesinitiativen zur Unfruchtbarmachung in den Akten der Bundesministerialverwaltung (1949-1976), Berlin 2006.


Zur Rezensentin:
Annette Hinz-Wessels, geb. 1962,  ist Wiss. Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin, Berlin.

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