Yvonne Al-Taie
Tagungsbericht: Recht und Moral. Mediale Konstellationen gesellschaftlicher Selbstverständigung über ‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert
Vom 19. bis 22. Oktober 2011 fand an der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel die von der
Volkswagen-Stiftung geförderte Tagung Recht und Moral. Mediale
Konstellationen gesellschaftlicher Selbstverständigung über
‚Verbrechen‘ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert statt. Die
Organisatoren
der Tagung, Hans-Edwin Friedrich, Joachim Linder und Claus-Michael Ort
knüpfen mit dieser Tagung an einen seit den frühen 1980er
Jahren unter Anregung von Jörg Schönert geführten
Diskurs über Literatur und Kriminalität an.
Ausgehend von Niklas Luhmanns Beschreibung der Autonomisierung des
Rechts und dessen Loslösung von der Moral sowie der damit
einhergehenden Universalisierung des moralischen Kommunikationssystems
war die leitende Fragestellung der Tagung, inwiefern diese
Differenzierung von Recht und Moral ihren Niederschlag in der Literatur
gefunden hat und diese zum neuen Ort moralischer Auseinandersetzung
avancierte. Dabei vertreten die Organisatoren der Tagung die Hypothese,
dass es gerade Krisenzeiten waren, die zu einer verstärkten
Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Recht und Moral
geführt haben.
Die Tagung war in sechs Sektionen gegliedert, von denen die ersten drei
epochengeschichtlichen Fragen gewidmet waren, während die drei
folgenden Sektionen gattungstheoretische Fragen in den Fokus
rückten.
Sektion 1, die unter dem Titel
Ausdifferenzierung von Recht und Moral –
Konstellationen der Frühen Neuzeit und des Übergangs zur
Moderne stand, wurde durch Michael Titzmanns Vortrag Die
Ausdifferenzierung des Normensystems in Früher Neuzeit und
Aufklärung: ‚Moral‘ vs. ‚Recht‘ eingeleitet. Titzmann, der
eine
mentalitätsgeschichtliche Fragestellung verfolgte, skizzierte in
seinem Vortrag die Entwicklung der Konstellation von Recht und Moral
vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, die er anhand der Schriften
bedeutender Rechts- und Moraltheoretiker wie Grotius, Pufendorf, Wolff,
Hobbes, Montesquieu, u. a. rekonstruierte. Dabei zeichnete er die
Ablösung des juridischen Normsystems von
christlich-religiösen Rechtsvorstellungen nach und zeigte eine
zunehmende Trennung von „Recht“ und „Moral“ auf.
In einem zweiten Vortrag beleuchtete Hania Siebenpfeiffer unter dem
Titel Affekt und Amoral – Der Fall
der ‚Marquise de Brinvilliers‘
(1676/1734) die nachträgliche Konstruktion der Figur der
Giftmörderin am Beispiel der Marquise de Brinvilliers. Im
Vergleich der in François Gayot de Pitavals Causes
célèbres et intéressantes veröffentlichten
Prozessakten mit der literarischen Bearbeitung durch
Niethammer/Schiller arbeitete Siebenpfeiffer zum einen die
Gegenüberstellung von theologischem und juridischem
Rechtsverständnis und zum anderen die Fokusverschiebung hin zum
Genderaspekt heraus. Dabei zeigte sie die Giftmischerei, die auch mit
der Zauberei in Verbindung gebracht wird, als Nahtstelle zwischen
theologischem und weltlichem Sanktionsbereich auf. Pitaval löse
seine juristische Argumentation von theologischen
Begründungsmustern und ersetze diese durch die Affekte-Lehre.
Schließlich stellte Siebenpfeiffer die These auf, dass es in der
literarischen Bearbeitung des Falls durch Niethammer/Schiller zu einer
Substitution des Affekt-Motivs durch das Geschlechtsmotiv komme und
somit der Typus der weiblichen Giftmörderin geformt werde.
Thomas Weitin beschäftigte sich in seinem Vortrag Die Sichtbarkeit
der Folter. Zur Fallgeschichte ‚Nickel List und seine Gesellen‘
(1660ff) mit der Rolle eines Gefängnisgeistlichen bei der
Folter.
Dabei konnte er aufzeigen, dass der Geistliche die Folter keineswegs
ablehnte, sondern im Gegenteil die physische Gewalt der Folter durch
psychisch-geistlichen Druck noch erhöhte. Weitin unterschied
hierbei „reale, imaginäre und symbolische Gewalt“, wobei er die
geistliche Gewalt den letzten beiden Kategorien zuordnete.
Holger Dainat beschloß die erste Sektion mit einem Vortrag
über ‚Relationes Curiosae‘ oder
Merkwürdige Seltsamkeiten.
Frühe Kriminalgeschichten aus Hamburg, um 1700. Darin
betrachtete
er die Kriminalgeschichten, die in den von Rainer Happel
herausgegebenen Relationes Curiosae erschienen sind. Die
Kriminalgeschichten, die nur einen kleinen Teil der
erzählten Merkwürdigkeiten ausmachen, entnimmt Happel aus dem
Theatrum Europaeum; er präsentiert seinem Publikum damit keine
aktuellen Fälle. Happel agiert vornehmlich als Kompilator, ohne
den Schilderungen eine moralische Deutung beizulegen. Dennoch, so
Dainat, formt er aus den berichteten Ereignissen Erzählungen,
indem er ihnen einen Titel und ein Ende gibt. Auffällig ist, dass
Happel - trotz des Fehlens expliziter moralischer Wertungen - in dem
neu geschaffenen Schlussteil die Strafe schildert, die den Berichten
nicht zu entnehmen war. Dainat charakterisierte diese Texte als
frühe Form von Massenmedienliteratur, die ein breites Publikum
ansprechen sollte und ein Gegenprogramm zu den moralischen
Wochenschriften darstellte.
Die zweite Sektion stand unter dem Titel Ausdifferenzierung der
Systeme, konkurrierende Deutungen – Recht, Moral, Politik am Beginn des
19. Jahrhunderts und wurde von Michael Niehaus' Vortrag Zum
Verhältnis von Recht und Moral bei der Zuschreibung von
Zurechnungsfähigkeit eingeleitet. Die Frage nach der
Zurechnungsfähigkeit ist immer auch die Frage nach der subjektiven
Schuld, bei der der Richter auch moralischen Erwägungen Raum gibt.
Im 19. Jahrhundert wird im Zusammenhang mit der Frage nach der
Zurechnungsfähigkeit der Begriff des Triebes eingeführt.
Heinroth moralisiert die Zurechnungsfähigkeit schließlich,
indem er die Kontrolle des Triebes dem Täter zurechnet. So werden
moralische und rechtliche Zurechnungsfähigkeit im 19. Jahrhundert
miteinander verknüpft. Als Beispiel führte Niehaus die
Giftmörderin Gesche Gottfried an. Die Verurteilung basiere dabei
auf einem Narrativ, das die Taten nachvollziehbar und damit moralisch
zurechenbar mache. Durch die narrative Konstruktion, so Niehaus, wird
der Vergiftungstrieb erklärt und das Konzept des Triebes
schließlich durch eine sich allmählich durch die Angeklagte
selbst herbeigeführte Gewohnheit und Sucht ersetzt, um ihr die
moralische Zurechnungsfähigkeit zusprechen zu können.
John McCarthy setzte sich in seinem Beitrag 'Nicht halbieren': 'freie
Rechtslehrer' und Rechtsreformziele im Prozess des Mündigwerdens
in Politik und Moral im 18. Jahrhundert und heute mit dem Typus
des
„freien Rechtslehrers“ auseinander, der auf die
Reformbedürftigkeit von Recht und Moral verweist. Als Beispiel
besprach er Christoph Martin Wielands Diogenes-Roman, in dem Wieland
einen gerechten Staat fordert. Im Zentrum der im Roman entwickelten
Gedanken stehen dabei die Rede- und die Pressefreiheit. Wieland liefert
ein Plädoyer für die Erhebung der Erkenntnisse des gesunden
Menschenverstandes zum allgemeinen Gesetz. Eine Trennung zwischen Moral
und Gesetz ist für Wieland damit nicht möglich.
Beschlossen wurde die zweite Sektion von Karl Härters Vortrag
Recht und Moral am Beispiel der
medialen Repräsentation des
politischen Verbrechers in populären Medien des 18. und 19.
Jahrhunderts, der sich mit der Darstellung des politischen
Verbrechens
in den illustrierten Einblattdrucken des 17. Jahrhunderts
beschäftigte. Die öffentliche Auseinandersetzung ging mit der
politisch motivierten Tat immer schon einher ? sowohl von Seiten des
Täters wie von Seiten der Gerichtsbarkeit. Es fand ein
publizistischer Diskurs über die Tat statt. Pamphlete wurden dabei
nicht selten beschlagnahmt und öffentlich durch den Henker
verbrannt. Von Seiten des Gerichtes kam es, so legte Härter dar,
häufig schon während des Verfahrens zur Veröffentlichung
von Gerichtsakten. Dabei konnte Härter aufzeigen, dass es in der
Publizistik nach Verhängung der Strafe zu einer erneuten Bewertung
der Tat kam, in der der Angriff zunehmend als Angriff gegen den
Staat, nicht als Angriff gegen den Herrscher allein gedeutet wurde.
Eine dritte Sektion befasste sich mit dem Thema Konkurrenz der
Deutungen und der Wissensproduktion: Literatur und Kriminologie im 19.
und 20. Jahrhundert, die Johanna Bergann mit ihrem Vortrag Medium,
Mittler, Mediation: Vermittlerfiguren um 1800 einleitete. Dabei
zeigte
sie anhand der beiden Beispiele des Mittlers in Goethes
Wahlverwandtschaften und
Hebels Der Friedensstifter auf,
dass
Mittlerfiguren häufig als mediale Werkzeuge der
Konfliktlösung eingesetzt werden. In den Mittlern sei die
rechtliche Utopie des Ausgleichs verkörpert. Auffällig sei
dabei, dass diese Figuren häufig gerade nicht ausgleichend wirken,
sondern den Streit entfachen, um Kommunikation in Gang zu setzen. Die
Konzeption der Vermittlung als harmonisches Verfahren wird so ironisch
gebrochen.
Sebastian Bernhardt befasste sich in seinem Vortrag mit der
'Tötung auf Verlangen' in der Literatur nach 1850. Um 1818 setzte
in der Literatur eine Beschäftigung mit der Tötung auf
Verlangen ein, befördert von dem § 216 und der mit ihm
einhergehenden soziologischen Debatte. Indem die Literatur den
einzelnen Fall und die subjektiv-moralischen Beweggründe darlegt,
gelingt es ihr, so Bernhardt, aufzuzeigen, dass es Fälle gibt, in
denen die notwendig verallgemeinernde Rechtsnorm sowie die allgemeine
Moral nicht mit dem subjektiven moralischen Gefühl korrelieren.
Christian Bachhiesl beschäftigte sich in seinem Vortrag Über
die Verwandlung von Werten in Wissen. Ethik und Episteme in der
Kriminalwissenschaft um 1900 mit der Kriminologie Hans Gross'.
In
Anlehnung an die Naturwissenschaften versuchte Gross aus der
Kriminologie eine exakte Wissenschaft zu machen, die mit empirischen
Methoden arbeitet. Bachhiesl vertrat die These, dass die Ethik, die
Gross explizit für seinen Ansatz ausgeschlossen hat, unbemerkt
wieder Eingang in seine Theorie findet und es so zu einer Moralisierung
des wahr-falsch-Positivismus komme.
Simone Winko und Katharina Prinz beschlossen die Sektion mit ihrem
Vortrag Normen und Werte in
literarischen Texten - methodische Probleme
ihrer Analyse, in dem sie das literaturwissenschaftliche
Analyseverfahren, mit dem Werte und Normen in literarischen Texten
untersucht werden, einer kritischen Reflexion unterzogen. Ihr Ziel war
es, einen Kriterienkatalog zu entwickeln, der die Untersuchung von
Werten und Normen auf den verschiedenen Ebenen der Textanalyse
berücksichtigt, dabei aber methodenunabhängig bleibt und so
mit möglichst vielen literaturwissenschaftlichen Ansätzen
kompatibel ist. Exemplarisch führten sie die Textanalyse anhand
dieses Kriterienkatalogs an den beiden Beispielen des Nibelungenlieds
und von E.T.A. Hoffmanns Das
Fräulein von Scuderi vor.
In einer vorgezogenen sechsten Sektion zum Thema Medialität und
Serialität beschäftigte sich Stefan Höltgen mit
der
Frage nach Computer[n] als
(Serien-)Mordwaffe im Film der Gegenwart.
Höltgen konnte aufzeigen, dass Computer einhergehend mit einer
Technikfurcht in Filmen stets negativ besetzt seien und die Idee einer
"Mathematik des Todes" bedienten. Durch das Internet hat der Computer
stärker denn je die Funktion eines Zwischenmediums erhalten. In
den Internet-Thrillern der letzten Jahre zeichne sich ab, dass der
Computer gerade durch seine Funktion als Kommunikationsinstrument zum
Tatinstrument werden kann. Auf diese Weise wird die Frage nach der
Täterschaft in diesen Film neu gestellt.
Die vierte Sektion versammelte schließlich Vorträge zu dem
Themenfeld Konkurrenzen im
Literatursystem: Ausdifferenzierung der
Genreliteratur, Medienwandel seit 1850. Auftakt dieser Sektion
bildete
der Vortrag von Ulrike Zeuch zur Aktualität
des Falls
'Moosbrugger'. Die Problematik, die Musil im Mann ohne Eigenschaften
behandelt, so Zeuch, ist die Frage, wie ein Richter zur Innenansicht
eines Täters während der Tat gelangen kann. Damit ist
schließlich, wie in vielen anderen Beiträgen, die Frage nach
der subjektiven Zurechnungsfähigkeit der Tat berührt. Indem
Musil eine solche Innenansicht gibt, thematisiert er die Grenzen des
Rechts, der Gerichtsbarkeit und der Gerechtigkeit. Zeuch wies darauf
hin, dass Musil die Justiz aus einem psychologischen Interesse heraus
kritisierte, ohne eine moralische Bewertung Moosbruggers zu geben.
Carsten Würmann untersuchte in seinem Vortrag Kein deutsches
Genre? Der Krimi im 'Dritten Reich' ein bislang sowohl in der
NS-Forschung wie in der Forschung zur Kriminalliteratur
vernachlässigtes Gebiet. Er konnte aufzeigen, dass der Krimi trotz
Verbot ein bedeutendes Genre der Populärliteratur während des
Nationalsozialismus blieb. Dass es sich dabei um deutsche Autoren
handelte, wird mitunter durch den Umstand verwischt, dass die Plots im
angelsächsischen Raum spielen und die Protagonisten englische
Namen tragen. Mitte der 30er Jahre begann man den Kriminalfilm
propagandistisch aufzubereiten. Hierbei wurde Wert auf eine angemessene
Darstellung der deutschen Polizei und der deutschen Verhältnisse
gelegt. Dennoch traten antisemitische und propagandistische Elemente
generell eher in den Hintergrund. Gerade in diesen wenig
propagandistisch aufgeladenen Kriminalromanen und -filmen sieht
Würmann eine Stützung des Systems, da sie Normalität und
Alltag suggerierten.
Herbert Reinke wandte sich in seinem Beitrag
Wohlstandskriminalität. Moral
Panics in den 1950er Jahren dem
Nachkriegsdeutschland und der medialen Debatte über eine
veränderte Kriminalität in den Jahren des beginnenden
Wohlstands zu. Die ab Mitte der 1950er Jahre nach einem vorherigen
Rückgang wieder ansteigende Kriminalität in der
Bundesrepublik Deutschland durchbrach die traditionellen
Erklärungsmuster der Soziologen, die Kriminalität
traditionell mit materieller Notlage in Zusammenhang brachten. Erstmals
schien ein wachsender Wohlstand zu einer höheren
Kriminalitätsrate zu führen, was unter Soziologen
zunächst Ratlosigkeit auslöste und unterschiedlichste
Erklärungsmodelle hervorbrachte. In den publizistischen Medien
wurde das Phänomen unter dem Terminus der
"Wohlstandskriminalität" breit verhandelt, der bald zum Schlagwort
avancierte.
Nele Hoffmann betrachtete in ihrem Vortrag die Kriminalliteratur als
Genre der kulturellen Selbstreflexion. Dabei nahm sie besonders
die
deutschsprachige Kriminalliteratur der letzten dreißig Jahre in
den Blick und plädierte für eine neue Strukturierung der
Gattung. Hoffmann vertrat, belegt am Beispiel des feministischen
Kriminalromans, die These, dass es Kriminalliteratur gäbe, die,
wie sie am Beispiel von Prostitution und Homosexualität darlegte,
eine institutionenkritische Haltung einnähme und den
gesellschaftlichen Wandel der Normalitätskonzepte reflektierte.
Die Kriminalisierung des Devianten sowohl auf moralischer als auch auf
juristischer Ebene werde dabei kritisch hinterfragt.
Die abschließende Sektion stand unter dem Motto
Internationalisierung der Genreliteratur, Re-Visualisierung und die
Ausdehnung der 'Sinnprovinz Kriminalität': Verbrechen als
Erfolgsmedium. Todd Herzog eröffnete die Sektion mit einem
Vortrag
zu "German Noir": Deutsche Detektive
und deutsche Verbrecher im
englischsprachigen Kriminalroman. Herzog konnte aufzeigen, dass
sich
seit 1989 im anglophonen Raum eine neue Gattung von Kriminalromanen
herauszubilden begann, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts spielen
und in deren Mittelpunkt immer der Nationalsozialismus steht. Dabei
werden keine großen Verbrecher oder großen Helden
gezeichnet, vielmehr findet eine Auseinandersetzung mit dem Alltag
unter dem Nationalsozialismus statt. Wie in der Diskussion deutlich
wurde, scheint die moralische Bewertung des NS-Alltags, wie sie hinter
diesen Romankonzeptionen sichtbar wird, dem Diktum Hannah Arendts
von der "Banalität des Bösen" zu folgen.
Alexander Košenina befasste sich in seinem Vortrag Einzelvoten: Eine
Kriminalanekdote Kleists und eine Erzählung v. Schirachs
mit zwei
literarischen Fallbeispielen, anhand derer er die Kriminalanekdote
untersuchte, die in der Forschung bisher nicht als distinkte Gattung
wahrgenommen wurde. Die Anekdoten, sowohl von Kleist als auch von
Schirach, zeigen die Diskrepanz von Recht und Gerechtigkeit auf.
Schirach spitzt dabei in einer fiktionalen Fallkonstruktion die
juristische Position in einer Weise zu, die, wie sich in der Diskussion
klärte, de facto juristisch so nicht möglich wäre. In
beiden Erzählungen, die sich einmal mit dem amerikanischen common
law und einmal mit dem kontinentalen civil law beschäftigen, wird
eine Paradoxie zwischen Recht und Rechtsempfinden aufgewiesen.
Greta Olson widmete sich in ihrem Beitrag Cultural Work in 'Judge Judy'
and 'Richterin Barbara Salesch' der massenmedialen
Repräsentation
von Recht und Justiz im amerikanischen und deutschen Fernsehen. Dabei
untersuchte sie das unterschiedliche Auftreten der amerikanischen und
der deutschen Fernseh-Richterin ebenso, wie sie nach deren
möglichem Einfluss auf das Justizwesen fragte. Während bei
den Zuschauern eine falsche Vorstellung vom Ablauf eines
Strafverfahrens erzeugt würde, konnten Soziologen keinen Einfluss
auf das Verhalten der Justiz nachweisen. Interessanter ist damit die
Rolle, die diese Richterinnen für ihr Publikum einnehmen. Sie
erscheinen als moralische Instanzen, die klare Handlungs- und
Wertaussagen machen. Das Recht wird in diesen Serien
ausschließlich als funktionierend vorgeführt; Moral und
Recht stehen nie in Konflikt zueinander. Auch ein Blick auf die
Sendezeit am Nachmittag ist soziologisch aufschlussreich: Die
Zielgruppe lässt sich durch die Ausstrahlung am frühen
Nachmittag überwiegend auf Mütter und
Nicht-Vollbeschäftigte einschränken. In den Krimis des
Abendprogramms hingegen findet sich eine durchaus kritische Darstellung
von Justiz und Polizei.
Mit der Darstellung von Verbrechensaufklärung im Fernsehen
beschäftigten sich auch Christian Wickert und Katrin Bliesmeister
in ihrem Vortrag Moralvorstellungen
im Fernsehkrimi: der CSI-Effekt,
diesmal mit der Spurensicherung am Tatort. Das Crime Lab, so Wickert
und Bliesmeister, wird zur Moralinstanz. Zwar führten solche
Fernsehserien dazu, dass sowohl alle Beteiligten der Justiz als auch
die Laien sehr gut über die technischen Möglichkeiten der
Forensik informiert seien und diese bisweilen überbewerteten; ein
signifikanter Einfluss auf Strafverfahren lasse sich jedoch nicht
nachweisen.
Zum Abschluss der Tagung reflektierte Reinhard Merkel in seinem Vortrag
Willensfreiheit und Schuld.
Philosophisch-strafrechtliche Perspektiven
die Problematik der Willensfreiheit aus
rechtsphilosophisch-analytischer Sicht. Dabei diskutierte er die
vor
einigen Jahren von Neurowissenschaftlern vorgetragene Kritik an der
Willensfreiheit. Merkel schloss sich der Argumentation der
Kompatibilisten an, wonach die phänomenalen Empfindungen und damit
das Mentale nicht restlos auf Physik reduziert werden könnten und
favorisierte schließlich die Supervenienztheorie, wonach es einen
asymmetrischen Zusammenhang zwischen neuronalen und mentalen
Zuständen gäbe, bei dem die mentalen von den neuronalen
Zuständen abhingen. Auf die genauere Erklärung der
Beschaffenheit dieses Verhältnisses wird dabei verzichtet.
In den unterschiedlichen Beiträgen, die ein beachtliches
epochengeschichtliches und gattungstheoretisches Spektrum abdeckten,
haben sich an verschiedenen Schnittpunkten themenübergreifende
Fragestellungen und Problemkonstellationen herauskristallisiert. So
scheint sich die Literatur generell eher in den Dienst der Moral zu
stellen und eine justizkritische Haltung einzunehmen. Gleichwohl findet
man aber auch Phänomene, besonders in den Trivial- und
Massenmedien, die ein Bild der durchgängigen Kongruenz von Recht
und Moral zeichnen. Gerade in empirischen Ansätzen der
Kriminologie lässt sich wiederholt beobachten, wie der Anspruch
auf Objektivität, der auf eine ausschließliche Beschreibung
des Verbrechens mit Hilfe der Kategorien ‚wahr/falsch’ beziehungsweise
‚gesund/krank’ zielt, unbemerkt von den moralischen Kategorien 'gut'
und 'böse' unterlaufen wird. Eine Problematik, bei der sich
Jurisprudenz und Literatur zu begegnen scheinen, lässt sich in der
Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bzw. nach der
Schuldfähigkeit erkennen. Sie ist für die juristische
Beurteilung eines Verbrechens ebenso relevant, wie sie immer wieder im
Zentrum literarisch-philosophischer Reflexionen über das
Verbrechen steht.
Während die Tagung den Begriff des Verbrechens auf den einzelnen
Straftäter bezogen hat, ist die Frage nach kollektiven,
staatlichen Verbrechen und deren Beurteilung im Spektrum von Recht und
Moral durch die Literatur nicht eigens berücksichtigt worden. Zwar
wurde der Kriminalroman im Nationalsozialismus oder die Darstellung des
Nationalsozialismus in der jüngsten englischsprachigen
Kriminalliteratur untersucht, jedoch blieb der Fokus auf dem einzelnen,
strafrechtlich geahndeten Verbrechen. Interessant wäre zu fragen,
wie das staatliche, strafrechtlich nicht erfasste Verbrechen und die
mit ihm einhergehenden Problemkonstellationen in der Literatur
diskutiert werden - man denke nur an Hans Magnus Enzensbergers Essay
Reflexionen vor einem Glaskasten,
der die Problematik von Recht und
Moral geradezu exemplarisch behandelt. Solche Überlegungen zeigen
die Vielschichtigkeit des von der Kieler Tagung umrissenen
Forschungsfeldes, die weitere interessante Untersuchungen zu dem
Spannungsfeld von Recht und Moral und seiner Verhandlung in der
Literatur erwarten lässt.
Zur Autorin:
Yvonne Al-Taie, M.A., geb. 1980, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur/Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
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