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Katharina Peetz

Theologie und Vergangenheitsbewältigung IV. „Doppelte Vergangenheitsbewältigung“ und die Singularität des Holocaust

Bericht von der internationalen Fachtagung im Robert-Schuman-Haus, Trier, vom 14.- 16. Januar 2011


Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte internationale Fachtagung zum Thema Doppelte Vergangenheitsbewältigung und die Singularität des Holocaust (Theologie und Vergangenheitsbewältigung IV) fand vom 14. bis 16. Januar 2011 im Robert-Schuman-Haus in Trier statt. Veranstalter waren Prof. Dr. Lucia Scherzberg von der Fachrichtung Katholische Theologie der Universität des Saarlandes und Dr. Werner Müller von der Katholischen Akademie Trier, Abt. Saarbrücken. Die bislang vierte Tagung zum Thema Theologie und Vergangenheitsbewältigung eröffnete in ihrem ersten Abschnitt neue historische, theologische, philosophische, literaturwissenschaftliche und kunstgeschichtliche Perspektiven auf die kontrovers diskutierte Frage um Singularität, Vergleichbarkeit oder Universalisierung des Holocaust. Der zweite Tagungsabschnitt thematisierte Begriff und Theorien des Totalitarismus sowie die Möglichkeit eines Diktaturvergleichs. Im letzten Tagungsabschnitt wurde die Frage diskutiert, ob die Aufarbeitung verschiedener „Vergangenheiten“ sich gegenseitig beeinträchtigt, d.h. zu Aufrechungsbilanzen, Täterapologetik, Opferrivalitäten oder anderen Vermeidungsstrategien führt. Hierbei zeigte sich, dass die beiden Tagungsschwerpunkte „Doppelte Vergangenheitsbewältigung“ und „Singularität des Holocaust“ eng miteinander verflochten, die verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Diskurse aber nicht in entsprechender Weise miteinander verbunden sind.

1. Tagungsabschnitt: Die Singularitäts-These

Yvonne Al-Taie (Saarbrücken/ Jena) nahm in ihrem Vortrag Die Ambivalenz zwischen der Singularität der Ereignisse und der Kontinuität der Geschichte am Beispiel des „Holocaust-Gedenkens im Stadtraum“ in den Blick. Verstehe man die Stadt im Sinne der Stadtsemiotik als lesbares Zeichensystem, werde klar, dass ein selbstständiger Akt des Erinnerns nötig sei, da an einem konkreten Ort keine historischen Ereignisse ablesbar seien. Al-Taie unterschied zwischen verschiedenen Formen des Gedenkens. Mit den KZs gebe es einerseits Gedenkstätten, bei denen sich der Ort des Erinnerns und der reale geschichtliche Ort deckten. Andererseits fänden sich auch Mahnmale oder Gedenktafeln, bei denen kein direkter historischer Ortsbezug, wohl aber ein Bezug zum Geschehen vorhanden sei. Holocaust-Mahnmale sind nach Al-Taie zudem ambivalent, da sie an ein singuläres Ereignis in der Kontinuität der Geschichte erinnern wollen. Dabei lassen sich Formen des Gedenkens, die auf einer Verbalisierung des Geschehens beruhen (z.B. Gedenktafeln), unterscheiden von Mahnmalen oder Gegenmonumenten, die das radikale Verborgensein des historischen Geschehens thematisieren. Hinzu kommt noch eine symbolische Form des Erinnerns, wie sie sich z.B. in dem von Daniel Libeskind geschaffenen Jüdischen Museum Berlin äußert.

Karol Sauerland (Usti nad Labem) beleuchtete in seinem Vortrag Osteuropa und der Holocaust die Frage, in welchem Maße und in welcher Weise der Holocaust in den „Ostblockstaaten“ zwischen 1945 und 1989 thematisiert wurde. Sauerland kam zu dem Ergebnis, dass dies vor 1989 nur in einer kleinen Anzahl literarischer Schriften stattfand. Intensiver war nach Sauerland die Auseinandersetzung in Polen, da hier vor dem Holocaust die meisten Juden Europas gelebt hatten. Allerdings sei die Auseinandersetzung in Polen vor allem von einer „Aufrechnung zwischen jüdischen und polnischen Opfern“ geprägt gewesen.  Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der EU-Beitritt vieler osteuropäischer Länder setzten einen intensiveren Erinnerungs- und Aufarbeitungsprozess in Gang. Erstmals sei es möglich gewesen, offen davon zu sprechen, dass die Opfer des Holocaust Juden waren. Dieser Prozess sei noch nicht abgeschlossen, zumal die Erinnerung an den Holocaust von der Erinnerung an die brutale Gulag-Politik der Sowjetunion überlagert werde.

In seinem Vortrag Die Aufarbeitung des Holocaust und die Suche nach  Transitional Justice fragte Björn Krondorfer (St. Mary’s City, MD) nach der Rolle, die dem Holocaust in interkulturellen und globalen Kontexten zukommen könne oder solle. Einerseits könne man argumentieren, dass der als singulär verstandene Holocaust einen universalen Maßstab darstelle, an dem heutiges Unrecht gemessen werde, andererseits sei es ebenso denkbar, dass ein partikulares „Traumanarrativ“ wie der Holocaust die Aufarbeitung globaler Unrechtssysteme hemme. Einen Ausweg aus der zirkulären Dynamik zwischen Universalismus und Partikularismus bietet nach Krondorfer das Konzept der „transnational justice“, näherhin die Vorstellungen einer „restorative justice“ und einer „politics of reconciliation“.  Nehme man den Blickwinkel der „transnational justice“ ein, so komme es auf die Beziehung an, die man zum Ereignis Holocaust habe. Solange man selbst in einer transindividuellen, zum Dialog verpflichtenden Beziehung zum Holocaust stehe,  könne man von seiner singulären Bedeutung sprechen. Nehme man dagegen den globalen Kontext in den Blick, könne man eine ähnliche Gewichtung nicht erwarten, da sich die Singularität des Holocaust im Spiegel multidirektionaler Bewältigungsstrategien der Vergangenheit breche.

Heidemarie Uhl (Graz/Wien)  bestimmte in ihrem Vortrag Der Holocaust als Gedächtnisort in Postwall Europa die „religiösen Dimensionen der säkularen Gedächtniskultur“. Uhl betonte zunächst, dass das Gedächtnis historischer Ereignisse nicht vollständig in Kultur und Politik aufgehe, sondern noch Raum für religiöse Vorstellungen bleibe. Dies zeige vor allem das kollektive Gedenken und Erinnern des Holocaust als „des traumatischen Ereignisses der europäischen Geschichte“. Religiöse Vorstellungen werden nach Uhl z.B. in der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld wirksam. Gerade im Hinblick auf das Eingestehen der eigenen Schuld seien nach 1945 in den europäischen „Tätergesellschaften“ Veränderungsprozesse zu verzeichnen.  Während man z.B. in Österreich zunächst dazu tendiert habe, dass eigene Volk als unschuldiges Opfer des von außen eindringenden Nationalsozialismus zu betrachten, habe man sich seit den 1980er Jahren auch mit der eigenen Schuld am Holocaust auseinandergesetzt. Die in diesem Kontext entstandenen Mahnmale zeichnen sich nach Uhl durch ihren sakralen Charakter aus. An sie könne man die Frage stellen, ob die sakralisierte aber doch säkulare Holocaust-Erinnerung nicht als Versuch betrachtet werden müsse, „ohne die Opfer entsühnt“ zu werden.

In seinem Vortrag Der Topos der Singularität in der Theologie nach Auschwitz stellte Norbert Reck (München) die vielschichtige Diskussion der Singularitätsfrage in theologischen Texten nach dem Ende des Historikerstreites (1985-87) vor. Regina Ammicht-Quinn habe 1992 von einem Paradigmenwechsel nach Auschwitz gesprochen. Auschwitz mit seinen Implikationen für die Theodizee-Frage verstehe Ammicht-Quinn als Herausforderung für die Glaubwürdigkeit des eigenen Glaubens. Sie habe das Ereignis zugleich als singulär interpretiert, da Vergleiche das Spezifikum von Auschwitz ausblendeten.  1998 habe Gregor Taxacher betont, dass die Annahme eines Gesamtsinns der Geschichte nach Auschwitz obsolet geworden sei. Man müsse vielmehr die reale Geschichte vor dem Anspruch Gottes ernst nehmen. Der Gedanke der Singularität des Holocaust könne nur im Gesamtzusammenhang der einmaligen Täter-Opferbeziehung zwischen Nationalsozialismus und Juden verstanden werden. Reck warnte in diesem Zusammenhang vor einer Ausweitung des Holocaust-Begriffes, wie sie etwa von katholischen Würdenträgern auf die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs vorgenommen würde. Er verwies auf Johann Baptist Metz’ Interpretation der Geschichte als Summe von Singularitäten und als Ort des menschlichen Lebens. In diesem Sinne sei Auschwitz in einem nicht-exklusiven Sinne singulär und zugleich theologisch relevant.  Kritisch fragte Reck an, ob die im Historikerstreit formulierte Singularitäts-These nicht daher rühre, dass man es vermieden habe, „Täter“ und „Opfer“ als analytische Kategorien zu verwenden. Mit Hilfe dieser Begriffe hätte man Nolte nicht die Singularitäts-These entgegenhalten müssen, sondern seine Aussagen als Täter-Apologetik entlarven können.

Peter Thelen (Bonn/Budapest) setzte sich in seinem Vortrag Die Singularität des Holocaust aus Sicht der Roma kritisch mit der Vorstellung auseinander, der nationalsozialistische Genozid an den Juden sei ein singuläres Ereignis. Die unterschiedliche Behandlung der Opfergruppen zeige z.B. das (später wieder aufgehobene) BGH-Urteil vom 7. Januar 1956, in dem dargelegt wurde, dass die Verfolgung der Roma nicht aus rassistischen Gründen, sondern aufgrund ihrer „Asozialität“ erfolgt sei. Thelen wies nach, dass es sich bei der nationalsozialistischen Verfolgung der Roma um ein rassistisch motiviertes Vorgehen handelte, so dass der Ausdruck Genozid zur Charakterisierung der Verbrechen an den Roma angemessen sei. Dies untermauerte Thelen mit Hilfe der UN-Konventionen zur Bestimmung eines Genozids. Zwar wiesen die Roma keine religiöse Identität auf, wohl aber eine ethnische bzw. nationale. In der Praxis richtete sich die Verfolgung gegen alle Roma, obwohl in der Theorie Unterschiede zwischen sog. „reinrassigen Zigeunern“ und „Zigeuner-Mischlingen“ oder zwischen sesshaften und fahrenden Roma gemacht wurden. Die Deportation und Ermordung von Kindern sowie die menschenverachtenden medizinischen Experimente, die an Kindern durchgeführt wurden, belegten die Absicht der Nationalsozialisten zur totalen Vernichtung der Roma. Bezüglich der Zahl der Roma-Opfer fänden sich zwar kaum genaue Angaben. Doch die Sprache der Täter demonstriere, dass eine totale Vernichtung der Roma intendiert war. Aus Sicht der Rom ist nach Thelen also eine Vergleichbarkeit von Shoah und Porrajmos (Wort aus dem Romanes für den Genozid an den Roma, Bedeutung: Verschlingen) gegeben. Dies impliziert nach Thelen, dass nicht exklusiv von der Singularität des Holocaust gesprochen werden kann, sondern nur unter Einschluss des Porrajmos. 

Nicolas Berg (Leipzig) betrachtete in seinem Vortrag Historikerstreit und Uniqueness-Debatte 20 Jahre danach den Historikerstreit nicht als Beginn eines neuen, sondern als Abschluss eines alten Diskurses. Für die Erforschung des Nationalsozialismus sei der Historikerstreit teilweise unergiebig gewesen, da ihm ein wesentliches Element – nämlich der Bezug der Beteiligten zur eigenen Vergangenheit – gefehlt habe. Viele gerade der älteren Teilnehmer hätten sich nicht mit der eigenen Schuld oder Unschuld auseinandergesetzt, sondern dieses Thema systematisch ausgeklammert. Aus der Ablehnung der Identifikation ihrer Generation mit den NS-Verbrechen resultierte die Forderung nach Genauigkeit, Objektivität und Historisierung. Das Streben nach der eigenen „inneren Reinheit“ habe auf der einen Seite zu einer Täter-Apologetik geführt, auf der anderen zu deren „in souveräner Distanz und Objektivität gewonnenen Zurückweisung“ mit Hilfe der Singularitäts-These. Die Annahme einer Täterperspektive für die am Historikerstreit beteiligte Kohorte sei allerdings zu weitreichend, da es sich um klassische „Mitläufer“ gehandelt habe. 20 Jahre später erfahre der Historikerstreit eine eigene Historisierung, die unterschiedliche Perspektiven auf die Shoah zwischen Singularität und Partikularismus eröffneten. Zugleich zeige diese Historisierung, dass es sich bei der Singularitäts-Frage um eine Fragestellung handele, in deren Kontext nicht nur die Zeit, sondern auch der Ort und die Sprache der relevanten Debatten in die Reflexion und Beantwortung miteinbezogen werden sollten.


2. Tagungsabschnitt: Begriff und Theorien des Totalitarismus

Bernd Faulenbach (Bochum) untersuchte in seinem Vortrag Der Totalitarismus-Begriff vor und nach 1989 die Auswirkung des Epochenwandels von 1989 auf Begriff und Theorien des Totalitarismus. Wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Interessen seien im Totalitarismus-Begriff häufig miteinander verwoben. Die klassische Totalitarismus-Theorie erfuhr in den 60er Jahren eine Relativierung aus wissenschaftlichen und politischen Gründen: durch die intensivierte Erforschung des Nationalsozialismus einerseits, die viele Unterschiede zu kommunistischen Systemen ans Licht brachte, aber auch durch das Erstarken einer Neuen Linken und die Wiederentdeckung links-orientierter Faschismus-Theorien. Späterhin ließ die im Kontext des Historikerstreits der 1980er Jahre aufgekommene These von der Einzigartigkeit des Holocaust im Sinne eines Zivilisationsbruchs Totalitarismus-Theorien mit ihrer Annahme der strukturellen Vergleichbarkeit des Nationalsozialismus mit anderen totalitären Systemen als Verharmlosung des Holocaust erscheinen. Mit der Epochenwende 1989/90 bahnte sich eine Renaissance der klassischen Totalitarismus-Theorie an aus dem Bemühen, die kommunistischen Systeme und ihr Scheitern zu erklären Dies führte zur Frage der Vergleichbarkeit der Diktaturen und konkret zu vielen Vergleichsstudien. Zwar erleichterte die Totalitarismus-Theorie als Interpretationsrahmen die Durchführung solcher Studien, deren Ergebnisse trugen aber wiederum zur Relativierung der Totalitarismus-Theorie bei, da auch hier im Forschungsprozess zahlreiche Unterschiede erfasst wurden. Es sei notwendig, das Verhältnis der verschiedenen Totalitarismen in europäischer Perspektive in den Blick zu nehmen. Europa – so Faulenbach – muss sich im Umgang mit unterschiedlichen Konzepten einer angemessenen Aufarbeitung der Vergangenheit bewähren.

Emmanuel Faye (Rouen) beschäftigte sich in seinem Vortrag Nationalsozialismus und Totalitarismus bei Hannah Arendt und Aurel Kolnai mit den unterschiedlichen Interpretationen von Nationalsozialismus und Totalitarismus, die Hannah Arendt und der ungarische Philosoph Aurel Kolnai vornahmen. Arendts Darstellung des nationalsozialistischen Totalitarismus ist nach Faye von ihrem Wunsch geprägt, Martin Heidegger von jeglicher Verantwortung für die Etablierung und Legitimierung des Nationalsozialismus freizusprechen. Ihre Theorie des Totalitarismus erscheine fragwürdig, da sie nicht nur konzeptionelle Elemente von NS-Autoren eingearbeitet, sondern auch die intellektuelle Verstrickung der „großen Denker“, wie Heidegger, Carl Schmitt u.a., in die NS-Ideologie und die Bedeutung, die dies für die Durchsetzungsfähigkeit des Nationalsozialismus hatte, nicht wahrgenommen habe. Umso anfechtbarer werde ihre Interpretation, wenn man sie mit Kolnais Buch The War against the West vergleiche. In dieser frühen philosophischen Analyse des Nationalsozialismus sei sich Kolnai der Bedeutung des ideologischen Faktors und der unterstützenden Rolle der „großen Denker“ in aller Schärfe bewusst. Kolnai beschrieb den Nationalsozialismus als zielgerichtete, dezidiert anti-westliche Weltanschauung. Der Nationalsozialismus übe eine totale Herrschaft über die Seele und den Geist des Menschen aus und schließe so jegliche Privatheit des individuellen Lebens aus.

Michael Hüttenhoff (Saarbrücken) beleuchtete in seinem Vortrag Günter Jacob. Kirchliche Praxis in zwei Diktaturen die (scheinbar) widersprüchliche Entwicklung des Pfarrers Günter Jacob. Jacob war in der Zeit des Nationalsozialismus Anhänger des radikalen Dahlemitischen Flügels der Bekennenden Kirche und kritisierte die nationalsozialistische Weltanschauung scharf. In der DDR aber entwickelte er sich spätestens seit Ende der 1950er Jahre zu einem herausragenden kirchlichen Gesprächspartner des Staates. Nichtsdestoweniger sei sein Verhältnis zum DDR-Staat zu keiner Zeit konfliktfrei gewesen. Die Entwicklung Günthers vom „Kirchenkämpfer“ zum sog. „Roten Jacob“ interpretierte Hüttenhoff als den Versuch, in der DDR Handlungsspielräume für die kirchliche Praxis offen zu halten. Dies werde nicht zuletzt auch daran deutlich, dass Günther paradoxerweise davon überzeugt war, dass eine dem Wesen der Kirche gemäße kirchliche Gestalt und Praxis sich gerade in der christentumsfeindlichen DDR und nicht in der liberalen BRD verwirklichen lasse.

August H. Leugers-Scherzberg (Duisburg-Essen) befasste sich mit Herbert Wehners Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Stalinismus in den Jahren 1942-1947.  Obwohl Wehner Parallelen zwischen beiden Systemen gesehen habe, habe er nur für den Nationalsozialismus eine Totalitarismustheorie formuliert. Aus seinem persönlichen Hintergrund heraus, seiner fehlenden Distanz zu seiner Arbeit als Spitzenfunktionär der KPD und seinem Ziel, die internationale Arbeiterbewegung wieder aufzubauen, habe er eine ebenso eingehende Analyse des Stalinismus nicht zu leisten vermocht. Zwar forderte Wehner 1946 sowohl von Anhängern des Nationalsozialismus als auch des Kommunismus eine Vergangenheitsbewältigung, seine Forderungen diesbezüglich aber waren asymmetrisch. Während er von Ersteren eine radikale Selbstkritik verlangte, forderte er von Letzteren lediglich die Erkenntnis gefordert, dass der Aufbau einer internationalen Arbeiterbewegung im Kontext der Sowjetunion nicht gelingen könne. Es zeige sich also, dass Wehners politisches Handeln seine Auseinandersetzung mit den beiden Totalitarismen motiviert habe, wobei dieser Umstand gleichzeitig auf die Grenzen seiner Theoriebildung verweise. 

In seinem Vortrag Flucht und Vertreibung. Bundesdeutsche Debatten bestimmte Mathias Beer (Tübingen) die Begriffe „Flucht und Vertreibung“ als Chiffre für den zahlenmäßig größten Teil der europäischen Zwangsmigrationen am Ende des Zweiten Weltkriegs sowie für intensive gesellschaftliche und politische Debatten, die in jüngster Zeit wieder intensiviert wurden. An den gegenwärtigen Debatten sei vor allem die vom Bund der Vertriebenen initiierte Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen beteiligt. Oftmals werde in diesem Kontext das Sprechen von „Flucht und Vertreibung“ als Tabu der deutschen Geschichte beschworen. Beer betont, dass - entgegen vieler Einschätzungen - das Thema „Flucht und Vertreibung“ in der Bundesrepublik gerade kein Tabu gewesen sei, sondern seit 1949 unter unterschiedlichen politischen Voraussetzungen und mit unterschiedlichen Ergebnissen kontinuierlich diskutiert worden sei. Während Adenauer nach Beer in seiner Rede zum Los der Vertrieben aus dem Jahr 1949 die deutschen Ansprüche auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie betonte, lehnte der Bundestag 1975 eine umfassende Aufarbeitung der Darstellung der Verbrechen, die von und an Deutschen begangen wurden, ab. 2002 habe der Bundestag demgegenüber einen Antrag zur Errichtung eines europäisch ausgerichteten Zentrums gegen Vertreibungen angenommen. Ziel sei hier eine historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Flucht und Vertreibung mit ethischem Anspruch gewesen. Diese Debatten ordnete Beer dem jeweiligen historischen Kontext zu: dem Kalten Krieg, der Entspannungspolitik und dem Ende der bipolaren Weltordnung. 1949 wurde weder von den Ursachen von Flucht und Vertreibung gesprochen, noch wurden die Opfer des Holocaust erwähnt – als Opfer traten lediglich die Vertriebenen in Erscheinung. 1975 sprach man von Verbrechen von und an Deutschen und verwies auf den deutschen Anteil an den Ursachen der Vertreibung. 2002 liegt eine differenzierende Einschätzung von Ursachen und Wirkung vor. Vertreibung wird als europäisches Phänomen betrachtet, die NS-Verbrechen sind klarer Bezugspunkt der Argumentation. Die Debatte um Flucht und Vertreibung ist also einerseits eng mit der Täter- und Opferfrage sowie der jeweiligen Wahrnehmung und Einschätzung des Holocaust verbunden – andererseits finden die verschiedenen Diskurse selten zusammen.

Friederike Eigler (Washington D.C.) befasste sich in literaturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Thema „Heimat“, das als Gegenbild zu den Begriffen Flucht und Vertreibung von vielen deutschen Schriftstellern nach Ende des zweiten Weltkriegs aufgegriffen wurde. Heimat erscheine in diesem Kontext als „lieu de memoire“. Horst Bieneks Oberschlesische Chronik (1972-82) bewertete Eigler als kritischen Heimatroman, in dem Bienek die frühere Grenzregion Oberschlesien während des Zweiten Weltkriegs porträtiere. Symptomatisch für die Beschäftigung mit dem Thema „Heimat“ sei dessen Verflechtung mit unterschiedlichen Formen der Vergangenheitsbewältigung. Gleichzeitig ließen sich unter dem Stichwort „Heimat“ unterschiedliche Opferdiskurse verbinden, was gerade in den Grenzregionen eine Rolle spiele. Vor allem das deutsch-polnische Grenzland werde hierfür in der Literatur rezipiert. Die Phase nach der Wiedervereinigung habe in der deutschen Literatur zu einem neuen Interesse an den Opfern von Flucht und Vertreibung geführt, wobei der Blick eher national als transnational ausgerichtet sei. Dies zeigten z.B. die Romane Deutschstunde und Heimatmuseum von Siegfried Lenz.

Antonia Leugers (Tübingen) erläuterte ein Beispiel, wie die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch die Angst vor dem Kommunismus verhindert wurde. Gegenstand ihres Vortrags war das verschwiegene Wissen von katholischen Zeitzeugen um die Verstrickung der Katholischen Kirche in den Nationalsozialismus. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs habe die Angst vor der „roten Gefahr“ die Ansätze kritischer Vergangenheitsbewältigung bei katholischen Zeitzeugen im Keim erstickt – auch wenn diese Zeitzeugen sich vor 1945 gegen das Verhalten der katholischen Hierarchie ausgesprochen hätten. Viele relevante Quellen konnten – so Leugers – erst nach dem Tod dieser Zeugen analysiert werden.  Dabei zeigt sich, dass das Schweigen der Zeugen dem Ziel diente, Katholiken und Kirche im Kampf gegen den Kommunismus nicht zu schwächen. Dass von der „roten Gefahr“ eine reale Gefahr für Kirchen und Katholiken ausging, stellte Leugers in Frage. Sie kritisierte, dass Wissenschaftler, die als „von links unterwandert“ galten, der Zugang zu bestimmten Archiven und Quellen systematisch verwehrt wurde, so dass das Wissen der Zeitzeugen erst Jahre später offengelegt werden konnte.

In zwei Generaldebatten wurde vor allem die Frage erörtert, inwieweit heute von einer Singularität des Holocaust gesprochen werden könne. Vor allem der Vortrag zur Situation der Sinti und Roma wurde zum Anlass genommen die Singularität dieses Ereignisses zu hinterfragen. Dazu kam die Frage der Vergleichbarkeit des Holocaust mit anderen Genoziden bzw. die Frage nach der Vergleichbarkeit der Diktaturen und der Konkurrenz der Erinnerungskulturen. So wurde beispielsweise gefragt, ob es nicht ein „Wegwischen“ des Gulag-Systems der Sowjetunion oder anderer Genozide sei, wenn man die Singularität des Holocaust im Sinne einer Exklusivität betone. Gleichzeitig wurde um das besondere Moment des Holocaust gerungen, dass beispielsweise in seiner „Universalisierbarkeit“ festgemacht wurde. Entscheidend sei aber festzuhalten, dass der Holocaust den Juden angetan wurde: er sei „das den Juden angetane allgemeine Besondere“. Zudem wurde diskutiert, inwieweit von dem singulären Ereignis Holocaust Linien in die Gegenwart gezogen werden können. Eine Facette dieses Nachwirkens beschrieb ein Diskussionsteilnehmer mit der Formulierung „nation-building through the Holocaust“ und verwies darauf, dass die meisten heutigen Nationen Europas maßgeblich durch das Ereignis Holocaust geprägt seien. Auch der Zusammenhang der Singularitätsthese mit der Definition und Stabilisierung einer bundesrepublikanischen Identität (vor 1989) und die identitätsstiftende Bedeutung des Holocaust für ein vereintes Europa wurden thematisiert. Zugleich wurde auch auf die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Deutschland und Osteuropa verwiesen. Wesentliches Ergebnis der Tagung war die Erkenntnis der Verflochtenheit der thematischen Schwerpunkte und der innovativen Perspektiven, die ein Vergleich und eine Zusammenführung der verschiedenen Diskursstränge eröffnen.

 Die Beiträge werden als Sammelband in der Beiheftreihe der Online-Zeitschrift theologie.geschichte beim Verlag der Universität des Saarlandes Universaar veröffentlicht, d.h. online und als Druckversion zugänglich sein.[1]



[1] Zu den vorherigen Tagungen s. Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich, Paderborn 2005; dies. (Hg.), Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn 2008; dies. (Hg.), Gemeinschaftskonzepte im 20. Jahrhundert zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 2010. Tagungsberichte finden sich in den Jgg. 2006, 2007 und 2009 von theologie.geschichte.


Zur Autorin:
Katharina Peetz M.A., geb. 1984,  ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Systematische Theologie an der Universität des Saarlandes und Redakteurin von theologie.geschichte.

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