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Maurice Chemnitzer

Der 13. Januar 1935. Ein Gespräch mit Dr. Paul Burgard



Dr. Paul Burgard studierte Politik, Französisch und Geschichte an der Universität des Saarlandes, arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Historischen Institut (Lehrstuhl Prof. Dr. Richard van Dülmen) und promovierte im Fach Geschichte. Seit sieben Jahren ist er für das Landesarchiv Saarbrücken v.a. in den Bereichen Forschungs- Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Er hat eine Reihe von Studien zur Geschichte der Frühen Neuzeit sowie zur saarländischen Landesgeschichte vorgelegt. Hier ist er u.a. auch (Mit-)Autor des Buches Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte, das zum 70. Jahrestag der ersten Saarländischen Volksabstimmung 2005 in der Reihe Echolot des Saarländischen Landesarchivs erschienen ist.


Am 13. Januar 1935 schloss sich das Saarland dem deutschen Reich an. Wie war das möglich?

Die Saarländer hatten die Wahl zwischen der „Rückkehr“ nach Deutschland, der Angliederung an Frankreich und der Beibehaltung des Status Quo - d.h. des Status als Mandatsgebiet unter einer dem Völkerbund verantwortlichen, internationalen Regierungskommission. Über 90 % der Abstimmungsberechtigten haben für den Anschluss an Deutschland votiert, nur knapp jeder zehnte Wähler stimmte für den Status Quo. Trotz dieser überwältigenden Mehrheit wäre das Votum für eine „Heimkehr ins Reich“ ohne die Nazis noch größer gewesen. Denn ein patriotisches Gefühl für Deutschland haben prinzipiell alle politischen Kräfte geteilt, Konservative und Rechte ebenso wie Wähler des katholischen Zentrums oder auch Sozialdemokraten und Kommunisten. Es haben wohl deshalb, auch dies ist eine Einsicht aus dem Wahlergebnis, noch nicht einmal alle diejenigen den Status quo gewählt, die dieses Anti-Hitler-Bündnis geschmiedet hatten (SPD, KPD, Christliche Wähler).

Einige haben jedoch hellsichtig gesehen, was kommen würde. Beispiele sind in den Veröffentlichungen und Reden des SPD-Vorsitzenden Max Braun nachzulesen. „Hitler bedeutet Verfolgung, Unterdrückung, Diktatur und Krieg“, in diesem Sinne hat Braun bereits nach der „Machtergreifung“ von 1933 gewarnt. Doch nur wenige konnten oder wollten diese Warnung wahr haben. Wie bereits erwähnt: Nicht einmal KPD(ca. 20% der Wähler in den letzten freien Wahlen von 1932) und SPD (9,9%) sind geschlossen Brauns Warnungen gefolgt; viele aus der Arbeitnehmerschaft haben statt dessen eindeutig „deutsch“ gewählt.

Angesichts dieser ungewöhnlichen Konstellation geht die Forschung auch heute noch der Frage nach, warum über alle Parteigrenzen hinweg so einhellig für die Rückkehr nach Deutschland gestimmt wurde.

Es gibt verschiedene Thesen:

[1.] Die propagandistische Übermacht der NS-Parteien. Schon wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung haben sich die Parteien im Saarland gewissermaßen selbst gleichgeschaltet. Die Zentrumspartei war im Saargebiet während des Kaiserreichs politisch die absolut dominierende Kraft gewesen. Im Sommer 1933 schloss sie sich gemeinsam mit Konservativen und Liberalen zur ersten „Deutschen Front“ zusammen, einem Aktionsbündnis für die „Heimkehr ins Reich“.

[2.] Gerhard Paul (Autor von Deutsche Mutter, heim zu dir, erschienen 1985; benannt nach dem bekanntesten Plakat des Abstimmungskampfes von 1935, das die Gefühlslage vieler Saarländer in dieser Auseinandersetzung in „perfekter“ Weise ansprach) hat versucht zu zeigen, dass die Deutsche Front mit Unterstützung aus Deutschland und ihren nationalsozialistischen „Hilfstruppen“ ein bedrohliches Szenario aufbauen konnte, wobei vor konkreter Gewaltanwendung gegen Rückkehrgegner (und damit Hitlergegner) ebenso wenig zurückgeschreckt wurde wie vor psychologischen Manipulationen, die bis in die Wahlkabine hinein gewirkt hätten. Eine Art kollektiver Angstpsychose hat das Wahlergebnis nach dieser These eindeutig beeinflusst.

[3.] In einer kulturhistorisch-anthropologischen Sicht, die bemüht ist, das Wahlergebnis weniger aus einer historischen ex-post-Perspektive zu begreifen (eine Perspektive, die die Abstimmung von 1935 automatisch von 1945 her sieht und die deshalb oft das historisch gesehen wünschenswerte Resultat – d.h. die Ablehnung Hitlers – in den Vordergrund ihrer Überlegungen setzt) rückt der historische Kontext und die politische Praxis der 1920er und 1930er Jahre verstärkt in den Mittelpunkt. Dabei wird deutlich, dass die kulturelle und politische Prägung der Saalränder im damals von Deutschland abgetrennten Saargebiet so geartet war, dass die Saarländer unter nahezu allen Bedingungen für Deutschland gestimmt hätten. Das Votum von 1935 kam insofern einerseits trotz Hitler zustande, wobei einige überzeugte Anhänger des „neuen“ nationalsozialistischen Deutschlands sicher auch wegen des „Führers der Bewegung“ für die „Heimkehr“ stimmten.

Wie so oft ist es eine Gemengelage, die der historischen Realität am nächsten kommt, natürlich haben Momente, die in allen drei Argumentationssträngen genannt werden, gewirkt. Allerdings wird in der Forschung manches noch zu wenig beachtet – z. B. die Interpretation der politischen Praxis aus dem historischen Kontext, die das Geschehen von 1935 adäquat verortet.

Es gab in den 1920er Jahren nicht nur eine Wirtschaftsunion mit Frankreich, auch die politischen Symbole des Nachbarlandes waren in der saarländischen Öffentlichkeit präsent. Zudem waren die Saargruben als wichtigster und größter Arbeitgeber des Landes in französischem Besitz; das alles hat bei den meisten Saarländern deutliche Gegenreaktionen hervorgerufen. Während später, nach dem Zweiten Weltkrieg, eher die Kooperation gesucht wurde, sind die Franzosen 1925 – obwohl die Kriegsschuldfrage nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs so eindeutig zu fixieren war wie nach dem Zweiten Weltkrieg – eher als Kriegsgewinner aufgetreten. Das zeigte sich z.B. auch am Regierungsstil des Präsidenten der Regierungskommission Victor Rault, eines Franzosen, der bis 1925 mit harter Hand regierte.

Man muss auch bedenken, dass der „Patriotismus“ damals etwas ganz anderes war, als es heute ist, zumindest im Empfinden der Menschen. Das Vaterland war ein nahezu „sakraler“ Wert, eine geradezu „natürliche“, unverrückbare Tatsache, die niemals zur Diskussion gestellt werden durfte. Das zeigte sich bei nationalen Feiern ebenso wie bei innenpolitischen Auseinandersetzungen, das manifestierte sich aber auch im Alltag und war zum Beispiel sogar in den Todesanzeigen der Nachkriegsjahre 1919/21 präsent, in denen z.B. davon die Rede war, dass der Verstorbene die Trennung seiner saarländischen Heimat vom deutschen Mutterland nicht verkraftet hätte – die Abtrennung des Saargebietes wird mit zur „Todesursache“.

Ähnlich wie bei der Ursachenanalyse heutiger Historiker fiel auch die Deutung der Ereignisse von 1935 im Laufe der Zeit höchst unterschiedlich aus. Die Nationalsozialisten werteten das überwältigende Votum der Saarländer für die „Heimkehr ins Reich“ nach ihrer Übernahme des Saargebiets im März 1935 als eindeutiges Bekenntnis zu Hitler. Umgekehrt wurden die nationalsozialistischen Momente nach der Katastrophe von 1945 unabhängig von den jeweiligen tatsächlichen Beweggründen völlig ausgeblendet. Nun hieß es, dass die Abstimmung ausschließlich ein Bekenntnis zu Deutschland gewesen sei, also rein national und damit „natürlich“ zu erklären sei. Diese Argumentationslinie wurde ganz besonders im zweiten saarländischen Abstimmungskampf von 1955 von den „Nein-Sagern“ (also den Gegnern des europäischen Saarstatuts) betont, während die Statut-Befürworter, die „Ja-Sager“, mit umgekehrter Logik in ihren Kontrahenten die Nazis von einst wieder auf dem Weg zur Macht sahen.

Schon nach 1947 gab der mit antifaschistischer Staatsdoktrin und mit Unterstützung Frankreichs gegründete teilautonome Saarstaat eine entsprechende Deutung der ersten Saarabstimmung vor. Demnach hatten 1935 die Saarländer in ihrer Mehrheit für Hitler gestimmt und diese Nazis müssten umerzogen, in schlimmeren Fällen ausgewiesen werden. Der elementare Widerspruch, der sich in der politischen Debatte von 1935 bis 1955 artikulierte, wurde schließlich auch kennzeichnend für die seit den 1960er Jahren verstärkt einsetzende historische Forschung. Erst in den siebziger Jahren gab es eine Wende, die abermals vom politischen Zeitgeist beeinflusst war. Statt Wegschauen und Verdrängen hieß es nun, sich bewusst der Vergangenheit zu stellen.

Nun wurde bewusst auch „die andere Seite“, die Gegner der Heim-ins-Reich-Bewegung beleuchtet und erstmals umfänglich der Widerstand gegen den Anschluss an Hitler-Deutschland gewürdigt. Viele Wähler von 1935, so lautete die Interpretation nun andererseits, haben es bewusst mit in Kauf genommen, dass Hitler mit an die Macht kam und es gab sogar ein gewisses Wählerpotential, die die „neue“ nationalsozialistische Bewegung sehr begrüßte.

Erst in den 1980er/90er Jahren wurde der Nationalsozialismus nicht mehr nur als politische Richtung verstanden, sondern auch als historische Position gewertet. Dies war erst durch den zeitlichen Abstand möglich, die historische Debatte konnte sich jetzt langsam vom politischen Konflikt lösen, der auch deshalb so lange lebendig blieb, weil viele Beteiligte und Zeugen des Abstimmungskampfes von 1935 noch lebten und teilweise selbst noch politisch aktiv waren. Man hat zunehmend auch von der wechselseitigen Stigmatisierung abgesehen und die Welt von damals nicht mehr in quasi manichäistischer Weise in Gut und Böse unterteilt. Nicht alle nationalen Befürworter einer Heimkehr ins Reich wurden jetzt mehr als potenzielle oder tatsächliche Nazis gebrandmarkt. Ganz im Gegenteil zeigte sich, dass auch Wähler aus einem traditionell linken Milieu – vor allem aus der Arbeiterschaft - aus durchaus verständlichen Gründen „deutsch“ votierten, auch wenn sie damit die Herrschaft der NSDAP mit herbeiführten.

Gerade im Saargebiet gab es zum Zeitpunkt der Abstimmung von 1935 ja auch fast kein Vorwissen und erst recht keine Erfahrung mit den Regeln eines demokratischen Gemeinwesens. Während man an der Saar 1919 in den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung überhaupt zum ersten Mal allgemein, freie und gleich gewählt hatte, wurde in den Folgejahren die Regierung des Saarlandes nicht von seinen Bürgern gewählt. Auf der anderen Seite empfand man die parteipolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik als Negativ-Beispiel, als Vorbild für die „Zerstörung“ eines nationalen Gemeinwesens. Auch deshalb waren autoritäre, ja diktatorische Staatsformen für den saarländischen (und auch deutschen) Zeitgenossen keineswegs Schreckensbilder, sondern oft sogar gewünscht. In diesen Zusammenhang reiht sich auch das Wissen um die ersten Arbeits- und Besserungslager in Deutschland ein: das KZ in Dachau als erstes seiner Art hatte 1935 nicht nur einen ganz anderen Zuschnitt als später, es wurde auch von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert.

So sehr man also auf der einen Seite den historischen Kontext in seiner ungeheuren Komplexität dechiffrieren muss, um die Deutung des Abstimmungsergebnisses richtig zu taxieren, so sehr muss man auch den Abstimmungskampf selbst nochmals genauer unter die Lupe nehmen. Dabei ist zum Beispiel der Tatsache Rechnung zu tragen, dass auch der Widerstand gegen die Heimkehr ins nationalsozialistische Deutschland lange Zeit sehr zerstritten war. Sozialdemokraten und Kommunisten z.B. verband eine innige Feindschaft, die dazu führt, dass die KP die SPD lange Zeit mit ähnlichen Begriffen und Argumenten bekämpfte wie die Nazis. Auch für die meisten christlichen Wähler war die Verbindung mit den „Linken“ in einem Aktionsbündnis gegen Hitler schwer zu verkraften – zumal die beiden christlichen Kirchen ein solches Bündnis keineswegs einhellig unterstützten – eher war bei den Amtskirchen das Gegenteil der Fall. Allerdings, das zeigt eine nähere Sichtung noch vorhandener Polizeiakten, stimmt es nicht, dass die Ordnungsmacht zwischen 1933 und 1935 nur linke Gruppierungen im Visier und entsprechend „unterdrückt“ hätte (wie dies große Teile der historischen Forschung seit den 1980er Jahren behauptet haben). Es ist jedenfalls noch eine Fülle von Anzeigen gegen Aktions- und Kampfgruppen der Deutschen Front überliefert, und das obwohl die Staatsorgane dem rechteskonservativen Lager fraglos näher standen als dem linken. Man kann aber sagen, dass die Polizei mit Gewalt von beiden Seiten zu tun hatte. Außerdem wird aus den Akten auch deutlich, dass vor den von internationalen Abstimmungstruppen bewachten Urnengängen von beiden Seiten deutlich mehr Gewalt ausgeübt wurde als bisher angenommen.

Wie wurde auf außenpolitische Signalgeber, wie z.B. den Austritt aus dem Völkerbund reagiert?

Diejenigen, die für den Austritt optierten, waren der Meinung, dass der Versailler Frieden ein von den Siegermächten oktroyierter, ungerechte „Diktatfrieden“ sei. Geradezu als ein Symbol dieses für Deutschland ungerechten „Diktatfriedens“ galt der Völkerbund. Mit seiner Politik würde das deutsche Volk beleidigt, und so wurde im Völkerbund auch so etwas wie der Agent des „Erbfeindes“ Frankreichs gesehen. Allerdings wurden die internationalen Verhältnisse nach 1925 wesentlich besser, vor allem unter Außenminister Stresemann entspannte sich das Verhältnis, zumal auch im Saargebiet nach Ende der Präsidentschaft Frankreichs in der Völkerbundsregierung eine Phase der „goldenen“ zwanziger Jahre folgte.

Später, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, hat im Saargebiet der SPD-Vorsitzende Max Braun immer wieder auf die Gefahren der nationalsozialistischen Despotie hingewiesen. Der Völkerbund war aber zu dieser Zeit keineswegs entsprechend etabliert, geschweige denn mit entsprechenden Instrumenten des politischen Handelns auf internationalem Terrain ausgestattet. Und das Zeitalter der Nationalstaaten und ihrer gewaltsamen Konfliktaustragungsmechanismen war keineswegs beendet – ganz im Gegenteil.

Auch war zu dieser Zeit die politische Kultur weitaus segmentierter, sodass die Äußerungen anderer Parteien gar nicht gelesen wurden. Heute bekommt man natürlich Äußerungen aller Parteien mit, aber damals wurden parteifremde Äußerungen kaum ernst genommen und höchstens diffamiert. Die politische Meinungsbildung war eine andere. Jedenfalls war auch die Schlagzeile der Saarbrücker Zeitung nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund eine Begrüßung dieser „Abstrafung der Versailler Verbrecher“. Auch hier dürfen wir nicht vergessen, dass das, was wir heue mit allen unseren historischen Einsichten aus dieser und der dann folgenden Zeit wissen, etwas ganz anderes ist, als das was sich damals auf der subjektiven Handlungsebene der Zeitgenossen und in einer emotional höchst aufgeladenen Atmosphäre abspielte.

War das Saarland zu diesem Zeitpunkt nicht die letzte Bastion demokratischer, christlich-oppositioneller oder linksintellektueller Menschen, die vor dem Nationalsozialistischen Regime flüchten mussten?

Das Saarland war, obwohl es sich im 19. Jahrhundert zum drittgrößten Industrierevier Deutschlands entwickelt hatte, keineswegs eine Hochburg der politischen Linken. Dominant war vielmehr das katholische Zentrum, daneben spielten im Wahlkreis Saarbrücken die Nationalliberalen und – bis zur Jahrhundertwende – die Freikonservativen des Industriemagnaten Freiherr von Stumm eine führende Rolle. Dennoch konnte sich unter der Führung der Bergarbeiter 1889-93 eine Streikbewegung erfolgreich etablieren, die 1890 auch als politische Kraft bei den Reichstagswahlen antrat und im Wahlkreis Saarbrücken sensationelle 33% errang. Doch dies blieb eine Episode, insgesamt hatten im „Königreich Stumm“ sozialdemokratische Kräfte keine Chance. Nicht zuletzt auch, weil die staatlichen Organe und die Arbeitgeber – mit einem Sozialistengesetz, das sogar noch vor dem im Deutschen Reich erlassen worden war - rigide gegen jegliche Form des „Sozialdemokratismus“ vorgingen.

Erst im Saargebiet der Völkerbundszeit konnten sich die SPD und die KP dauerhaft etablieren, wobei die Kommunisten in manchen Regionen und Kommunen zur „Regierungspartei“ aufstiegen (v.a. in Dudweiler, das als die „röteste“ Landgemeinde Preußens galt). Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung von 1933 gab es dann einen großen Zulauf von Kommunisten, Sozialdemokratien und Linksintellektuellen, die aus dem Reich flüchteten. So haben zum Beispiel Herbert Wehner, Bertolt Brecht und viele andere prominente Hitlergegner vorübergehend ihre Heimat im Saarland gefunden oder bezogen aus ihrem ausländischen Exilort sehr engagiert Stellung zur Saarfrage. Eine linksintellektuelle Opposition gegen Rechts gab es aber vor 1933 nicht.

Was macht dieses Ereignis, den 13. Januar für die jüngeren Generationen erinnerungswürdig?

Es ist ein ambivalentes Ereignis mit verschiedenen Erinnerungskulturen. Bei einigen spielt das Nationale eine Rolle. Bei diesen ist es ein Bekenntnis des Saarlandes zu Deutschland, andere begreifen es als den Sündenfall des Saarlandes. Für diese ist der 13. Januar der dunkelste Tag in der saarländischen Geschichte. Denn in dieser Sicht der Dinge haben die Saarländer ja besonders „verwerflich“ gehandelt: Obwohl sie bereits zwei Jahre Zeit hatten, Hitlers Diktatur kennen zu lernen, obwohl sie die ungezählten Mahnrufe von inner- und außerhalb des Saargebietes hätten registrieren können, obwohl es Anzeichen für die sich etablierende Schreckensherrschaft der Nazis gab, haben sie in freier Wahl für Deutschland – und damit für Hitler gestimmt. Und das nicht etwa mit 42% (wie in den letzten „freien“ reichsdeutschen Wahlen 1933 geschehen), sondern mit über 90% der Abstimmungsberechtigten!

Es gibt aber auch andere und durchaus „erfreulichere“ Dinge, die in Bezug auf den 13. Januar 1935 erinnerungswürdig sind. So konnte hier als eines der ersten Male das Selbstbestimmungsrecht eines „Volkes“ oder einer Volksgruppe wahrgenommen werden – wenn man so will, ein kleiner Meilenstein in der Geschichte des Völkerrechts. Damit korrespondiert auch, dass der Einsatz internationaler Abstimmungstruppen zur Gewährleistung einer freien, allgemeinen demokratischen Wahl so etwas wie den ersten Einsatz von „Blauhelmen“ in der internationalen Geschichte darstellt. Und schließlich ist es auch für die Saarländer ein ganz besonderes Datum: erst mit dem Versailler Vertrag wurde das Saargebiet zu einer selbstständigen Verwaltungseinheit, eine bürokratische Autonomie, die 1935 von den Nazis unter Gauleiter Bürckel nicht rückgängig gemacht wurde. So gesehen ist der 13. Januar 1935 eine Etappe auf dem Weg in die saarländische Selbstständigkeit – auch wenn das „Saarland“ namentlich von den Nazis „erfunden“ wurde.

Was ich mir für die Zukunft insgesamt beim Umgang mit dem Thema 13. Januar stärker wünsche, wäre eine Berücksichtigung der unterschiedlichen Formen und Funktionen dessen, was wir heute „Erinnerungskultur“ nennen. Denn es gibt durchaus sehr verschiedene Erinnerungsstränge, von denen jeder seine Legitimation besitzt. Zu trennen sind vor allem die politische und die historische (im Sinne historiographischer Forschung) Erinnerungsarbeit. Politische Erinnerung muss zwangsläufig moralisch sein, ist meist an Orte oder Personen - in diesem Fall sind das z.B. vor allem die Opfer von Gewaltherrschaft – gebunden, hat eine didaktische Aufgabe, die sich in Gedenkveranstaltungen oder Denkmalen symbolisiert. Ihre Aufgabe ist die Wahrung und Untermauerung des freiheitlich-demokratischen Geistes unserer Gesellschaft. Dahingegen ist die historische Erinnerung zunächst einmal vollkommen wertneutral, das heißt, sie kann nicht mit einem moralischen apriori, einer schon vorher getroffenen moralischen Festlegung an ihren Untersuchungsgegenstand gehen. Das nämlich würde ihr die historische Erkenntnis ungeheuer erschweren, in vielen Fällen sogar unmöglich machen: sie würde nur nach dem suchen, was sie vorher ohnehin schon gefunden zu haben glaubt.

Wie problematisch es ist, wenn sich historische und politische Erinnerungskultur vermischen, das zeigte sich in geradezu klassischer Weise am Fall der Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 1988. Jenninger hielt seine Rede (die man übrigens auch heute noch im Internet findet), im Bundestag in Anwesenheit von Opfern nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, darunter vor allem viele Angehörige von Juden, die ihr Leben in den Vernichtungslagern der Nazis verloren hatten. Obwohl gegen Jenningers Rede in historiographischer Hinsicht nichts zu sagen war (ganz im Gegenteil war sie mit ihrer Konzeption damals sehr innovativ) führte sie zum Eklat. Zuhörer verließen noch während der Rede den Bundestag, Jenninger musste auf öffentlichen Druck hin sogar einige Tage später zurücktreten. Was war geschehen? Jenninger hatte, mit seinen Ausführungen darüber, wie aus „normalen“ Deutschen Täter, Mittäter oder Mitläufer von Verbrechen werden konnten, einen Tabubruch begangen. Er hatte, wie es damals hieß, am Grab der Opfer über die Psyche der Täter doziert. Er hatte, kurzum, zu einem politischen Anlass eine „historische“ Rede gehalten und war damit in die „Falle“ der Erinnerungskultur getreten. Dass seine Rede an sich durchaus sehr bemerkenswert war, bewies wenige Jahre später der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis. Er hielt die gleiche Rede (ohne vorher den Namen des Autoren zu nennen) vor einem größeren Auditorium in Hamburg, darunter auch viele jüdische Vertreter. Und erhielt dafür großen Applaus.

Was ist das Relevante der Abstimmung vom 13. Januar 1935 für jüngere Generationen?

Dies führt uns zu der großen und übergreifenden Frage, welche Rolle Geschichte in unserer Gesellschaft überhaupt noch spielt. Es gab zu allen Zeiten Konjunkturen der Geschichte (i.S. auch von Geschichtsschreibung), Phasen mit eher unterentwickeltem Geschichtsbewusstsein wurden abgelöst von Epochen, in denen sich die Geschichte zur „Lehrmeisterin“ der Gegenwart aufschwang. Immerhin gibt es eine ganze Ära, die man als die des Historismus bezeichnet. Freilich scheinen wir uns gegenwärtig – trotz gegenläufiger öffentlicher und privater Bekenntnisse – eher in einer Zeit der Geschichtsvergessenheit zu befinden. Womöglich hat das auch mit den immer schnelllebigeren Medien zu tun, die das Gefühl bestärken, das nur das Hier und Jetzt und Heute – und natürlich die (persönliche) Zukunft – eine entscheidende Rolle spielen. Aber auch im offiziellen gesellschaftlichen Leben gibt es Anzeichen, die für einen Historiker eher alarmierend sin. So gibt es z.B. in den saarländischen Schulen zur Zeit kaum noch Geschichtsleistungskurse und es wird überlegt, im Saarland den Geschichtsunterricht nur als noch Wahlfach anzubieten.

Trotz allem: Ich bin nun nicht von Berufs wegen ein Verfechter der These, dass die Geschichte den einzigen verlässlichen Resonanzboden für die Gegenwart bildet und dass wir aus der Vergangenheit tatsächlich alles für eine bessere Zukunft erlernen können. (Das hat auch mit dem Dilemma zu tun, in dem sich der Mensch nach dem Philosophen Kierkegaard generell befindet: Er lebt „nach vorne“, kann aber nur „nach hinten“ denken, eben: „nachdenken“). Es ist nicht so, dass sich die Zukunft aus der Vergangenheit selbstläufig erklärt. Insofern bildet die Vergangenheit auch nicht „von selbst“ einen Widerstand gegen den nochmaligen Einzug einer Diktatur. Vielmehr muss die Vergangenheit stets neu für die Gegenwart „übersetzt“ werden, um tatsächlich auch von gesellschaftlichem Nutzen sein zu können: eine große Herausforderung für Historiker wie auch für die „Geschichtspolitiker“ in unserer Gesellschaft.


Ist die erste saarländische Volksabstimmung als konkretes oder abstraktes Ereignis bedenkenswert?

Beides. Es steht für hunderte Jahre deutsch-französisches Verhältnis, das ja bis ins Mittelalter hineingeht. Darum rankt sich eine lange historische Tradition, die im 19.Jhd. als große Erbfeindschaft ausgebaut wurde. Im 18. Jhd. nehmen Sie die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich gar nicht wahr. Sie spielte im Alltag keine Rolle. Es gibt vieles, was man nennen könnte, was alles in diesem einen Datum steckt. Dies sind sowohl große Emotionen als auch vorherige und nachfolgende Ereignisse. Es ist aus der Chronik des Saarlandes nicht herauszudenken und steht an einer hervorragenden Stelle, egal wie man das Ereignis bewertet. Ebenso ist es ein Achspunkt der Deutsch-Französischen Nachbarschaft. In späteren Jahrzehnten wird mit diesem Datum Politik gemacht. Der eigentlich Bezugspunkt wurden nicht aktuelle Vereinbarungen, sondern der 13. Januar, der dann als Fluchtpunkt diente.


Zum Autor:
Maurice Chemnitzer, geb.  1988, studiert Psychologie, Philosophie und Katholische Theologie an der Universität des Saarlandes und absolvierte ein Praktikum bei theologie.geschichte

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