Jessica Klein, Wanderer zwischen den Weltanschauungen: Johannes Maria Verweyen (1883-1945). Ein Philosoph in der „Ära der Apostel“, (Unbekannte Philosophen 4), Münster 2009, LIT Verlag, 313 S., € 29,90, ISBN 978-3-643-10299-7


Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist Johannes Maria Verweyen - geboren am 11.5.1883 auf dem Gut der Familie im niederrheinischen Till (dem heutigen Till-Moyland in der Gemeinde Bedburg-Hau im Kreis Kleve), gestorben als Häftling im Konzentrationslager Bergen-Belsen wahrscheinlich am 21.3.1945 – durch die Aufnahme in das Verzeichnis der katholischen Blutzeugen im deutschen Martyrologium des 20. Jahrhunderts (Paderborn 1999, hg. v. Helmut Moll).  Die bisherige Rezeption Verweyens fand hauptsächlich in römisch-katholischen Kreisen statt. Als Ausgangspunkt hierfür muss die 1941 erschienene Autobiographie Verweyens Heimkehr angesehen werden, die – angelehnt an die Bekenntnisse des Augustinus - Verweyens Wiedereintritt in die katholische Kirche im Jahr 1936 erklärt, indem der ehemalige Bonner Dozent für Philosophie seine geistige Entwicklung seit seinem Kirchenaustritt im Jahr 1921 als einen Irrweg rekapituliert und den schließlich wiedergewonnenen und bestätigten katholischen Glauben als Ergebnis einer ehrlichen religiösen Sinnsuche verteidigt. Die Entwicklung Verweyens in ihren unterschiedlichen Phasen verwirrt: der Spezialist für mittelalterliche Philosophie war vor seiner Rekonversion Mitglied im Deutschen Monistenbund, hat für die Neugeist-Bewegung geschrieben, hing der Freimaurerei an, war ein einflussreicher Esoteriker und Parapsychologe, und war nicht nur Mitglied, sondern von 1928-35 sogar Generalsekretär der deutschen Adyar-Theosophie. So besteht die Arbeit in ihrem Hauptteil aus den Kapiteln „Verweyen als Philosoph“, „als Monist“, „als Parapsychologe“, „als Theosoph“ und „als erneu(er)ter Katholik“. Verweyen hat sich zwischen äußerst unterschiedlichen und anscheinend widersprüchlichen weltanschaulichen Positionen bewegt, und die Entwicklung seines Denkens ist ohne Ausblendungen nur sehr schwierig nachzuvollziehen, möchte man ihm nicht einfach blanken Opportunismus oder gar gezielte Unterwanderung unterstellen.

In den letzten Jahren ist erstmals eine umfassende wissenschaftliche Beschäftigung mit Verweyen in Gang gekommen (an der unter anderen Heinz Robert Schlette und Helmut Zander beteiligt sind). Als deren erstes großes Ergebnis ist die nun vorliegende Dissertation von Jessica Klein anzusehen, die 2008 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommen wurde (betreut von Falk Wiesemann). Die Autorin hat nicht nur Verweyens Werdegang erstmals umfassend aus den unterschiedlichsten, bisher überwiegend unberücksichtigt gebliebenen archivalischen Quellen so zusammenhängend wie möglich dargestellt, sondern es darüber hinaus auch gewagt, die inneren und äußeren Zusammenhänge der nur sehr schwer vermittelbaren persönlichen Entwicklung Verweyens gerade auch in ihren Hintergründen vorurteilsfrei herauszuarbeiten und plausibel zu machen. Die Einordnung der schwierigen Biographie Verweyens in das heterogene geistig-kulturelle Umfeld der Jahre 1890-1933 stellt meiner Meinung nach eine bemerkenswerte geschichtswissenschaftliche Leistung da, zumal die Autorin sich dabei zu einem nicht unerheblichen Teil mit den der allgemeinen Geschichtswissenschaft und der Philosophiegeschichte doch nur recht schwer zugänglichen relevanten Bereichen der „religiösen Subkultur“ jener Zeiten auseinandergesetzt hat. Eine entscheidende Voraussetzung für eine bereits so umfassende wissenschaftliche Monographie über Verweyen war sicherlich, dass Bernhard Kipping aus Till-Moyland schon seit 1995 unermüdlich annähernd alle Materialien von und über Verweyen gesammelt und aufbereitet hat und geschlossen zur Verfügung stellen konnte. Die Sammlung, die zu einem gewissem Teil auch Kopien von Schriftstücken aus den verschiedenen Archiven enthält, kann mittlerweile im Archiv der Gemeinde Bedburg-Hau eingesehen werden.

Für Kindheit und Jugend Verweyens ist seine apologetische Heimkehr nahezu die einzige Quelle. Verweyen wird am 11.5.1883 in eine seit mehreren Generationen am Niederrhein lebenden Familie geboren. Bereits fünf Monate nach seiner Geburt stirbt der Vater Hubert. Nachdem das Gut verpachtet worden ist, ziehen Mutter und Sohn nach Kleve, wo Verweyen von 1891 bis 1896 das Königliche Gymnasium (heutiges Freiherr vom Stein Gymnasium) besucht. 1896-99 ist er Internatsschüler in der bischöflichen Erziehungsanstalt Collegium Augustinianum Gaesdonck bei Goch, dann zieht die Familie nach Düsseldorf, wo Verweyen im Jahr 1902 in dem altsprachlich orientierten Königlichen Hohenzollern-Gymnasium (heutiges Görres-Gymnasium) das Abitur ablegt. Der Schüler stellt sich stets als außerordentlich begabt heraus, ist meist Klassenbester und hat auch musikalisches Talent. Von 1902 bis 1908 studiert Verweyen Philosophie in Freiburg i.Br, Leipzig, Berlin, Straßburg und Bonn. In Freiburg hört er bei dem Neuscholastiker Adolf Dyroff, der für ihn gewissermaßen zu einem Ersatzvater wird, und der später Verweyens Dissertation in Bonn betreuen wird. In Leipzig lernt er die Naturphilosophie Wilhelm Ostwalds und die experimentelle Psychologie Wilhelm Wundts kennen. 1905 legt Verweyen seine Doktorprüfung in Bonn ab. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit dem schlesischen Frühaufklärer Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (1651-1708). Verweyen geht danach an die Reichsuniversität in Straßburg und beginnt unter der Betreuung von Clemens Baeumker eine Habilitation über „Das Problem der Willensfreiheit in der Scholastik“, die er schließlich im Jahr 1908 bei Dyroff in Bonn abschließt. Zu dieser Zeit überfallen ihn in der Auseinandersetzung mit dem Determinismusproblem starke persönliche Glaubens- und Weltanschauungszweifel, die er durch die von Dyroff und Baeumker vertretene katholische Neuscholastik (beide waren Inhaber von Konkordatslehrstühlen) nicht zu überwinden vermag. Nach seiner Habilitation wird Verweyen Privatdozent an der Universität Bonn und unterrichtet mittelalterliche Philosophie. Im Wintersemester 1913 hält er zum ersten Mal eine Veranstaltung über „Monismus und Dualismus“ in einer Phase der Annäherung an die monistische Bewegung, die alleine die Materie als Grundprinzip anerkennt und eine weltliche Ethik verbreitet. 1918 gelingt es Verweyen aufgrund guter Kontakte – die er immer hatte - zu der sozialdemokratischen Revolutionsregierung zum Titularprofessor ernannt zu werden, was ihm zusammen mit einer Reihe von universitätsreformatorischen Publikationen den Unmut seiner Kollegen einträgt (S. 44).

Verweyen wird wahrscheinlich in der Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges Mitglied im Deutschen Monistenbund, wo er sogar ab 1923 im Vorstand tätig ist. Seine Hinwendung zum freigeistigen Monismus ist ohne weiteres nachvollziehbar, bot der laizistisch und antiklerikal eingestellte Verein doch als Glauben und wissenschaftliche Auffassung umschließende Weltanschauung eine tatsächliche Alternative zur Religion der damaligen Amtskirche. Folgerichtig tritt Verweyen am 21.3.1921 aus der katholischen Kirche aus. Mit starkem Sendungsbewusstsein und Charisma ausgestattet – viele sind durch die Begegnung mit Verweyen tief bewegt worden - entwickelt Verweyen eine zweifelsohne durch das Vorbild des Lebensreformers Ernst Döring (S. 30) und durch den freireligiösen Dozenten Ernst Horneffer (S. 32) inspirierte ethische Anthropologie unter anderem in einer „Edelmensch“-Ideologie, als deren Vorbild er sich selbst angesehen hat. Seine ständige Absicht ist die Unterstützung und Förderung seiner Mitmenschen. Ein spannender Zusammenhang hierbei ist, das gerade Verweyens Edelmenschenlehre, die wahrscheinlich von der Lektüre Nietzsches geprägt worden ist, die einflussreiche Elitesoziologie des Spaniers José Ortega y Gasset in dem 1929 erschienenen „La rebelión des las masas“ (Aufstand der Massen) maßgeblich geprägt hat (S. 83). Vor dem Hintergrund des engagierten Interesses an einem besseren Menschen ist auch Verweyens ständige Beschäftigung mit irrationalen Angelegenheiten wie Radiästhesie (Pendeln), Astrologie und vor allem Parapsychologie zu verstehen. Durch seine Erfahrungen auf diesem Gebiet entsteht für ihn der Eindruck einer faktischen Existenz einer metaphysischen Über- oder Hinterwelt, und anstatt diese Dinge als Monist abzutun hält er konstant daran fest. Tatsächlich waren die parapsychologischen Erfahrungen auch der Hauptgrund, sich langsam vom Monismus weg und zur Theosophie hin zu bewegen, nachdem man den von ihm geforderten auch übersinnliche bzw. paranormale Phänomene akzeptierenden „kritischen Monismus“ nicht mittragen wollte.

Im Jahr 1925 tritt Verweyen aus dem Deutschen Monistenbund aus und wird Mitglied in der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (Adyar), wo er sich nun eine angemessene Beschäftigung mit der Parapsychologie erhoffte. Verweyen, der zunächst auch noch für die Neugeist-Bewegung publiziert, beteiligt sich nach Teilnahme im theosophischen Sommerlager im niederländischen Ommen im Jahr 1926 und nach der Bekanntschaft mit der von Theosophen geleiteten Liberalkatholischen Kirche - die natürlich sofort Verweyens höchstes Interesse erweckte - immer mehr, und findet in der Theosophie ein geistiges Zuhause. Die Klasse der „esoterischen Schule“, einer speziell okkult geschulten Elite innerhalb des Vereines hat Verweyen vor dem Hintergrund seiner Edelmenschenlehre natürlich besonders angesprochen; hier macht er erstmals auch Bekanntschaft mit meditativen Techniken. Im Jahr 1928 wird Verweyen Generalsekretär (S. 130), und unter seiner engagierten Ägide bis 1935 erfährt die Gemeinschaft eine Phase der Prosperität auch vor allem über die existentielle Krise durch die Loslösung von Jiddu Krishnamurti hinweg, der 1929 seine Rolle als von der Präsidentin Annie Besant verkündeter messiasartiger Weltenlehrer – die schon Steiner nicht anerkennen wollte - schlichtweg aufkündigt, und sich zu einem unabhängigen spirituellen Lehrer entwickelt - Verweyen verteidigt seine Entscheidung. Am 29.9.1928 wird Verweyen durch Bischof James Ingall Wedgwood zum Priester der Liberalkatholischen Kirche geweiht und zelebriert danach in dieser Zeit zahlreiche Messen vor allem in Düsseldorf (S. 135). Die magisch-okkulte Ausdeutung der Sakramente, wie sie von Charles Webster Leadbeater in The science of the sacraments vertreten wird und in dieser Gruppierung angenommen wurde, ermöglicht Verweyen so erstmals einen ihm angemessenen, „spirituellen“ Zugang zum Katholizismus. In der Zeit um 1932 beschäftigt sich Verweyen mit Lourdes und vor allem mit den Visionen und den immer wiederkehrenden Stigmatisierungen der Therese Neumann im bayerischen Konnersreuth, und sein katholischer Glauben erneuert sich immer stärker (S. 153). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verteidigt Verweyen die Theosophie erfolglos gegen Bestrebungen innerhalb der Gruppierung, eine Neuaufstellung in der Nähe zur Deutschen Glaubensgemeinschaft vorzunehmen und völkische Positionen zu vertreten. Im Jahr 1935 wird er entmachtet bevor im selben Jahr der neue Vorstand der Zentrale in Adyar (heutiges Chennai) seine Auflösung bekannt gibt und 1937 schließlich doch alle theosophischen Gesellschaften verboten werden (S. 139). Eine Reihe von pro-nationalsozialistischen Artikeln Verweyens aus dieser Zeit wie Deutsche Pfingsten, Hitlers Lebensglaube und Der Lebenserfolg Adolf Hitlers könnte den Eindruck bestärken, dass Verweyen ein sich im Grunde zu nichts verpflichtet fühlender Opportunist war, allerdings handelt es sich bei diesen Publikationen wohl eher um ein Manöver zur Verteidigung der Theosophie (loc.cit). Heinz Robert Schlette hat darauf hingewiesen, dass Verweyen  versucht hat, die nationalsozialistische Ideologie im Sinne der eigenen umzudeuten.

Ein weiterer schwerer Rückschlag ereilte Verweyen bereits im Jahr 1934: am 9.4. wird ihm vom Preußischen Kultusminister Stuckart die Lehrbefugnis für die Universität Bonn mit Bezug auf §6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 entzogen – einem vielerorts beliebten Werkzeug zur Vertreibung auch unerwünschter nicht-jüdischer Akademiker im Zuge der erstaunlich zügigen Selbstgleichschaltung der deutschen Universitäten. Die Hintergründe für die Entfernung Verweyens von der Universität Bonn ließen sich bisher noch nicht klären, und er selbst hatte auch kein Wissen, was oder wer genau dahinter gesteckt hat, wie aus dem von Frau Klein erstmals in Hinblick auf Verweyen ausgewerteten Briefwechsel mit Gerda Walther in dem bisher noch nicht systematisierten Nachlass der Phänomenologin und Parapsychologin, der in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt wird, hervorgeht (S. 118). Hierbei müsste meiner Meinung nach vor allem versucht werden zu klären, welche Rolle der zum Wintersemester 1933 neu ernannte Dekan der Philosophischen Fakultät, der Kulturanthropologe Erich Rothacker, gespielt hat, muss dieser doch zumindest als „geistiger Vorarbeiter für Verweyens Rauswurf“ (S. 226, Fn. 24) angesehen werden. Mit Hilfe seines unerschütterlichen Idealismus gelingt es Verweyen die gesellschaftliche Isolation und den Verlust all seines Einflusses zu bewältigen, indem er nach Berlin-Dahlem umzieht und sich entschließt, – inspiriert von dem Vorbild Krishnamurtis - von nun an umherreisend erbauliche Vorträge über allgemeine lebenskundliche und weltanschauliche Fragen zu halten.

Am 8.4.1936 wird Verweyen unter der Fürsprache Pfarrer Gebhardts in der gerade erst neu gegründeten Pfarrei St. Bernhardt in Berlin-Dahlem in die katholische Kirche wiederaufgenommen. Eine der Schlüsselfragen für die Bewertung Verweyens ist sicherlich, in wieweit er im Zuge seiner Rekonversion theosophisches Gedankengut aufgegeben hat. Frau Klein stellt dar, dass das keineswegs der Fall gewesen ist (S. 156). Hatte Verweyen - wie Helmut Zander bereits herausgearbeitet hat - schon als Theosoph eine ganz eigene Auffassung gepflegt und war in Bezug auf verschiedene theosophische Grundannahmen durchaus unterschiedlich eingestellt, so hat sich der Rekonvertit Verweyen, wie Heinz Robert Schlette richtig hervorgehoben hat, als Laie in dogmatischen Fragen eine ganz eigene katholische Theologie zusammengestellt. Verweyen war nun offensichtlich bemüht, ein Priesteramt innerhalb der katholischen Kirche zu erlangen (S. 160), und weil Wedgwood vom altkatholischen Bischof Arnold Harris Matthew in apostolischer Sukzession geweiht wurde war Verweyens Weihe zum Priester in der Liberalkatholischen Kirche nach katholischem Recht in der Tat zumindest gültig, wenn auch nicht rechtmäßig.

Verweyen, der es als „Medienprofi“ verstanden hat, eine bemerkenswerte Breitenwirkung zu erlangen, wurde im Dritten Reich verfolgt, und aus den Archivalien wird ersichtlich, dass die Möglichkeiten des mehrfach Denunzierten und allenthalben Aktenkundigen immer weiter eingeengt wurden: 1936 wird ihm seine Reiseerlaubnis entzogen und 1938 wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen (S. 168). Am Ende versteht er es noch, seine Vorträge als Liederabende zu tarnen, aber vorsorglich schreibt er seine Biographie und macht 1940 sein Testament. Schließlich wird Verweyen Ende Juni 1941 im Zuge der von Heydrich angeordneten „Aktion gegen Geheimlehren und so genannte Geheimwissenschaften“ vom 9.6.1941 zur Fahndung  ausgeschrieben. Diese auch als „Aktion Heß“ bekannte Maßnahme führte nach dem mysteriösen Flug des Hitler-Stellvertreters nach England am 10.5.1941 zur Ergreifung einer ganzen Reihe von Okkultisten. Jessica Klein weist richtig darauf hin, dass Verweyen wegen seiner Nähe zum Okkultismus und nicht als Katholik verhaftet worden ist, was im Zuge der Vereinnahmung Verweyens als katholischen Blutzeugen angenommen worden war (S. 245). Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo in Frankfurt am Main wird Verweyen am 8.9.1941 in das Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz überführt. Die Autorin vermutet, dass der Grund für Verweyens ungewöhnliche lange Haftzeit von neun Monaten im „Alex“ sein könnte, dass man auf höherer Ebene überlegte, ob man ihn nicht eventuell auch in der Gruppe „Siderisches Pendel“ für das Auspendeln der Position feindlicher Kriegsschiffe einsetzen könnte (S. 181). Auch die genauen Hintergründe für Verweyens anschließende Verlegung in das Konzentrationslager Sachsenhausen am 23.5.1942 ohne gerichtliche Verurteilung haben sich bisher leider noch nicht klären lassen. Trotz der unmenschlichen Qual in dieser Einrichtung gelingt es Verweyen nach der Aussage von Mithäftlingen, eine ungewöhnlich positive Einstellung zu behalten. Er nutzt die Möglichkeit, sich in der Funktion als Lagersprachlehrer relativ frei im Lager bewegen zu können, und betätigt sich in der Art eines Priesters seinen Mitinsassen gegenüber allgemein seelsorgerisch und kraftspendend. Im Februar 1944 verzichtet Verweyen darauf, sich beim Anrücken der Roten Armee im Zuge der Evakuierung des Lagers als Funktionshäftling von der Liste für die Hungermärsche zur Aussonderung der Alten und Schwachen in das KZ Bergen-Belsen streichen zu lassen und geht damit sozusagen aus freien Stücken nach Bergen-Belsen (S. 185), wo er am 7.2.1944 eintrifft. Er stirbt dort wahrscheinlich am 21.3.1945 nur wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers durch englische Truppen am 15. April in einer mit Erregern infizierten Todesbaracke an Flecktyphus. Für die Einschätzung Verweyens kommt seinem Verhalten im KZ als Lichtgestalt, als „inkarnierte Serenitas“ (Brief des Mitgefangenen Hilckmann an Wehner vom 1.2.1953, S. 186) und der Frage nach dem Motiv für seine Entscheidung, auf den Todesmarsch zu gehen, natürlich eine besondere Bedeutung zu. Der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Johannes-Maria-Verweyen-Kreis (S. 187) bemühte sich, das Andenken an Kreuzweg und Opfertod eines durch Abwege bestätigten christlich Vollendeten, der seine Kameraden nicht in Stich lassen konnte, zu etablieren (zum Disput darüber S. 196), Sicherlich ist es diese Würdigung Verweyens gewesen, die letztlich zu seiner  Aufnahme in das Martyrologium geführt hat (S. 199).

Über die reife wissenschaftliche Leistung hinaus, erstmals eine zusammenhängende und detaillierte wissenschaftliche Biographie einer solchen, bisher hauptsächlich nur archivalisch erfassbaren Person wie Johannes Maria Verweyen vorgelegt zu haben, entwickelt die Arbeit von Jessica Klein meiner Meinung nach ihre besondere Stärke in der historischen Erklärung dieses faszinierenden Menschen. Indem sie die Verwirklichung der Edelmenschenlehre als Grundmotiv seines Strebens identifiziert, deutet die Autorin Verweyen als einen Vertreter der von dem Übergang in die Hochmoderne geprägten „Ära der Apostel“: „Die nun auf der reichsweiten, regionalen oder lokalen Bühne auftretenden ,Apostel` der avantgardistischen Elite nutzten die tiefgreifenden Veränderungen zu experimentellen Erneuerungen der persönlichen Lebensweise und gesellschaftlichen Normen“ (S. 12). Dabei rückt Klein Verweyen in seinem unerschütterlichen Glauben an einen Heilsauftrag und mit seinem experimentierenden und überpersönlichen Streben nach ideeller alternativer Verwirklichung in die Nähe von Gestalten wie den Spiritisten und Begründer der „Evangelisch-Johannischen Kirche nach der Offenbarung St. Johannis“ Joseph Weißenberg (S. 210), den Lebensreformer und Naturheiler Gustaf Nagel (S. 213), den Ökologen und Lebensphilosophen Ludwig Klages, und auch von Arthur Moeller van den Bruck und der „Konservativen Revolution“ (S. 215).

Allerdings muss gesagt werden, dass Publikation ein weiteres Durcharbeiten und „Aufräumen“ gut täte: auf S. 178 heißt es zum Beispiel „am 8.September 1941 wurde er […] in die Hauptstadt gebracht“, während darauf auf S. 180 steht: „gegen Ende August 1941 nach Berlin gebracht“. Informationen werden manchmal redundant gegeben. Bemerkungen zu bestimmten Einzelthemen werden teilweise zu sehr über die Arbeit verstreut, so finden sich Hinweise auf Rothackers Rolle in Zusammenhang mit Verweyens Entlassung erst auf S. 226 im Kapitel „Verweyens Selbstverständnis als ,Lehrender`“. In Bezug auf Verweyens Entlassung aus dem Universitätsdienst heißt es auf S. 137 zum Beispiel viel zu ungenau: „die Berufsenthebung durch Denunziation durch die Nazis“, und dann auf S. 221 rein spekulativ: „Erst mit der inneruniversitären Abstrafung – ausgelöst durch seine undurchsichtige Ernennung zum Professor [...]“. Außerdem fehlen der Arbeit leider eine Zeittafel und ein Personenregister - das alles erschwert die Arbeit mit dieser Monographie, die ich ihr wirklich wünsche und die ich mit dieser Besprechung durchaus anregen möchte, leider unnötig. Gerade in Hinsicht auf die reichen Literaturangaben kann das Buch auch als Einführung in die vielen Verweyen betreffenden religionshistorischen Themengebiete gelesen werden, und ist meiner Meinung nach sehr zu empfehlen.

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