Partei und Kirchen im frühen
Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim
Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bol’seviki)
[sic] 1922-1929, in
Übers. hg. v. Ludwig Steindorff in Verb. m. Günther Schult
unt. Mitarb. v. Matthias Heeke, Julia Röttjer u. Andrej
Savin (Geschichte. Forschung und Wissenschaft Bd. 11), Berlin 2006, LIT
Verlag, 458 S., 39,90 EUR, ISBN 978-3-8258-8604-2
Am 17. Oktober 1922 konstituierte sich in Moskau eine Kommission zur Durchführung der
Trennung der Kirche vom Staat, die verschiedene vorher
existierende Kommissionen in sich vereinen und die Aktionen des jungen
Sowjetstaates gegen die Religionsgemeinschaften koordinieren sollte.
Sieben Jahre und einen Monat später, am 17. November 1929, fand
die letzte Sitzung dieser so genannten „Antireligiösen Kommission“
statt, die am 5. Dezember vom Politbüro der KPdSU
überraschend und aus nicht geklärten Gründen
aufgelöst wurde.
Die Kommission war mit Vertretern verschiedener staatlicher
Institutionen besetzt und behandelte Anfragen der
Religionsgemeinschaften, die an eine dieser Institutionen gestellt
worden waren; der oder die Antragsteller bekamen die Antwort nicht von
der Kommission, sondern von der ursprünglich angesprochenen
Institution. Somit wurde nach außen nicht erkennbar, dass es ein
solches Gremium gab. Erst als nach dem Ende der Sowjetunion die Archive
geöffnet wurden, formte sich ein Bild der antireligiösen
Tätigkeit der KPdSU in Form der Kommission, und Zusammensetzung,
Aufgabenbereich und Arbeitsweise wurden deutlich.
In dem vorliegenden Band, der im weiteren Zusammenhang mit dem
großen Forschungsprojekt zum Landeskonzil der Russischen
Orthodoxen Kirche 1917/18 am früheren Ostkircheninstitut der
Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität
Münster entstanden ist, sind die Sitzungsprotokolle der Kommission
in deutscher Übersetzung publiziert. Die Edition ist sehr
sorgfältig; sie umfasst neben der Übersetzung des Textes
ausführliche Anmerkungen hinsichtlich der äußeren
Gestalt der Protokolle (etwa handschriftliche Anmerkungen und
Zusätze) sowie in den Fußnoten Erklärungen zu allen
vorkommenden Sachen und Personen. Damit ist es jetzt sehr einfach
möglich, ein wichtiges Instrument des jungen Sowjetstaates (bzw.
formal ja der Partei) in seinem Kampf gegen Religion zu verfolgen, auch
wenn natürlich zahlreiche andere Institutionen auf der Ebene der
Union und der Republiken an diesen Bemühungen beteiligt waren.
Ein erster Blick in die Protokolle bringt einige interessante
Erkenntnisse. Die Kommission bemühte sich nicht
ausschließlich um die Unterdrückung und Abschaffung der
Religionsgemeinschaften, sondern auch um deren Leben im kommunistischen
Staat, solange es sie eben noch gab – die Ideologie sah ja vor, dass
Religion von selber absterben werde. So wurde zahlreichen Anträgen
von Kirchen (etwa auf Druck von Gesangbüchern oder auf
Auslandsreisen) stattgegeben; zuweilen wird auch
Willkürmaßnahmen lokaler Beamter und Behörden
nachgegangen. Auch Kongresse und Konzilien der unterschiedlichen
christlichen Gemeinschaften werden häufig genehmigt, oft mit einer
konkreten Anweisung zur Durchführung. Bemerkenswert ist auch eine
Zustimmung zur Ausreise von russischen Delegierten zum „christlichen
Weltkongress“ nach Schweden (S. 216); hier ist die Weltkonferenz
für Praktisches Christentum (Life and Work) in Stockholm gemeint,
die im August 1925 stattfand. Doch letzten Endes haben keine Vertreter
aus der UdSSR dort teilgenommen; die Zustimmung der Kommission war also
noch nicht das letzte Wort in dieser Sache. Ökumenegeschichtlich
interessant wäre die Frage, wer aus den russischen Kirchen den
Antrag gestellt hat und woran die Teilnahme letztlich gescheitert ist;
das geht aus den Protokollen nicht hervor.
In den publizierten Dokumenten lassen sich zuweilen auch
Meinungsverschiedenheiten und Konflikte innerhalb der Kommission (deren
Zusammensetzung, abgesehen vom Vorsitzenden und vom Sekretär,
relativ häufig wechselte) erkennen. Ein Vergleich mit anderen
Archivmaterialien (soweit sie zugänglich sind) ermöglicht
weitere Erkenntnisse über das Funktionieren der
Sowjetbürokratie und –verwaltung in den Anfängen des Staates.
Für die Kirchengeschichte interessanter sind jedoch die Themen,
mit denen sich die Kommission befasst hat. Deutlich erkennbar ist der
Versuch, die alternativen, nichtkanonischen Gruppen zu
unterstützen, mit denen die orthodoxe Kirche geschwächt und
gespalten werden sollte. Später verstärken sich atheistische
Aktivitäten; der Bund der
Gottlosen und die Zeitschrift Bezbožnik
(Der Gottlose) sind häufig Gegenstand der Beratungen und
Beschlüsse. Auch ist interessant, welche Religionsgemeinschaften
im Zentrum der Aktivitäten der Kommission stehen; außer den
verschiedenen christlichen Kirchen sind das vor allem der Islam und das
Judentum. Schließlich seien noch die Methoden der
antireligiösen Arbeit erwähnt; neben
Kirchenschließungen, Vorträgen und Publikationen sowie
Behinderungen der kirchlichen Tätigkeit sind direkte Eingriffe in
das kirchliche Leben wie die Forderung nach der Einführung des
gregorianischen Kalenders in der Orthodoxie (die trotz
anfänglicher Bereitschaft der verbliebenen Hierarchie nicht
durchgesetzt werden konnte) oder die Stellungnahmen zur inneren
Organisation der Kirche in der Ukraine zu verzeichnen.
Der Band ist mit einer ausführlichen Einleitung versehen, in der
Entstehung, Zusammensetzung und Arbeit der Kommission dargestellt
werden; außerdem werden Überlieferungsgeschichte und
Textaufbau erläutert. Sehr hilfreich ist ein Anhang mit
Kurzbiographien der genannten Personen; dem Herausgeber ist es sogar
gelungen, einige Bilder des für die Kommissionsarbeit wichtigen
Sekretärs E.A. Tu?kov zu finden, die ebenfalls abgedruckt sind.
Ein Literaturverzeichnis und mehrere gut aufgeschlüsselte Register
(Personen, Orte, Institutionen, Sachverhalte) beschließen den
Band, wobei die Kopfzeile versehentlich immer auf „Register der
Personen“ lautet.
Insgesamt liegt mit diesem Buch eine äußerst
aufschlussreiche Veröffentlichung vor, die es Interessierten auch
ohne russische Sprachkenntnisse und ohne Archivreisen ermöglicht,
einen tiefen Einblick in die Koordinierung der antireligiösen
Aktivitäten der frühen Sowjetunion zu nehmen. Dem Herausgeber
und seinen Mitarbeiter/inne/n ist dafür zu danken, dass sie diese
Dokumente so einfach zugänglich gemacht haben.