Georg Wagensommer, How to teach the
Holocaust. Didaktische Leitlinien und empirische Forschung zur Religionspädagogik
nach Auschwitz, Frankfurt u.a. 2009, Peter Lang-Verlag, 415 S., 68,50
EUR, ISBN 978-3-631-57858-2
Die anzuzeigende über 400 Seiten starke Studie wurde als Dissertation
von der PH Freiburg angenommen. Angesiedelt im Schnittfeld empirischer Sozialforschung
und evangelischer Religionspädagogik resp. –didaktik, versteht sie
sich näher hin als „fachdidaktisch motivierte qualitative Sozialforschung“
(248), die darauf abzielt, „die subjektiven Wissensbestände der jeweils
befragten Schüler sowie die Konstituierung von deren Meinungen, Wissensbeständen
und Orientierungs- und Bedeutungsmustern in Gruppenprozessen“ zu erfassen.
Thematisch bezogen wird das auf „Judentum, Nationalsozialismus und Holocaust“.
(19) Dabei beansprucht der Autor, nicht „bereits Bekanntes oder Hypothesen
zu überprüfen, als vielmehr Neues zu entdecken und empirisch begründete
und am Gegenstand orientierte Theorien zu entwickeln“. (262)
Die Untersuchung gliedert sich in sechs Kapitel. Im ersten vergewissert
sich Wagensommer der Wirkung von Adornos einflussreichem Vortrag Erziehung
nach Auschwitz, der auch von ihm als Basis und ´Gründungsurkunde´
anerkannt wird. Das nahezu gleichumfängliche Kapitel II ( 63 S.) rekapituliert
bisherige Studien zur Rezeption der Thematik im Unterricht seit den 50er
Jahren des vorigen Jahrhunderts, um nicht zuletzt schon für die früheste
Zeit die gerade auch heute feststellbare Diskrepanz von geäußertem
Überdruss u.ä. bei gleichzeitig sehr mangelhaftem Wissen um Judentum,
NS-Zeit und Shoah auszumachen. Im umfangreichsten und m.E. auch instruktivsten
Kapitel III präpariert Wagensommer einen Begriff von „Generation“ in
Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Studien wie unter Aufnahme hilfreicher
Differenzierungen K. Mannheims. Gewonnen ist damit eine Kategorie, die es
erlauben sollte, intergenerationelle Zusammenhänge zwischen den mittlerweile
vier Post-Shoah-Generationen in den Blick zu bekommen und ein Postulat einzulösen,
das in der Religionspädagogik zurecht vor allem von R.Boschki formuliert
wird.
Kapitel IV scheint unter dem Schatten von Ziebertz‘ Kritik an der relativen
Theorielosigkeit von Religionspädagogik (249) zu stehen. Lapidar insistiert
Wagensommer: „Die vorliegende Studie kann hierzu nicht gezählt werden.“
(249) Diesen Anspruch einzulösen verführt allem Anschein dazu,
Methoden und Methodologie überaus breit, auch umständlich darzulegen.
Immer wieder wird von Erkenntnis leitendem
Interesse gesprochen, ohne doch die Habermassche Bestimmung des Begriffs
einzuholen und für die Studie auszuwerten. Dieses Kapitel erweckt zuweilen
den Eindruck eines Tutoriums zu einem methodologischen Einführungsseminar
der Sozialwissenschaften. Erst im Kapitel V – nach fast 300 Seiten – werden
die „zentralen Fallarbeiten“ präsentiert, denen eine „besondere Bedeutung
für den Gesamtrahmen der Studie“ (22) zugesprochen wird. Es handelt
sich um Gruppendiskussionen mit fünf Schülergruppen und sieben
problemorientierte Einzelinterviews; insgesamt waren in der Zeit von Mitte
März bis Mitte Juni 2005 dreißig SchülerInnen beteiligt.
Die verschrifteten Protokolle dienen als Basis der Auswertung. Sie erfolgt
im relativ kurzen Kapitel VI . (35S.)Zentrale Ergebnisse sind, dass Juden
vorherrschend als „Andere“ und vor allem als Opfer wahrgenommen werden,
sich das Wissen um die jüdische Religion äußerst spärlich
ausnimmt, die NS-Diktatur stark personalisiert, also auf Hitler focussiert
wird. Mit Emphase wird konstatiert, dass die Jugendlichen „keine lebendige
Begegnung mit Menschen jüdischen Glaubens“ erlebt haben. (384/5) Generell
lässt sich festhalten, dass „intergenerative Dynamiken bis in
die vierte Generation nichtjüdischer Deutscher wirksam“ sind (363).
Insofern kann und muss von einer „Gegenwart der Vergangenheit“ – so die Kapitelüberschrift
– gesprochen werden.
Das aber ging schon aus früheren Studien hervor. Bezeichnenderweise
rekurriert der Autor, um die eigenen Ergebnisse darzustellen, entscheidend
auf die Studien, die bereits in Kapitel I und II referiert wurden. Zugleich
räumt er ein, „dass eine empirische Forschung zum Religionsunterricht,
welche Schülerbefragungen zum Gegenstand hat und auf die subjektiven
Theorien und Wissensbestände der Jugendlichen rekurriert, nur bedingt
möglich ist“. (385) Schließlich wird das zu überprüfende
Wissen in mehreren Fächern schulisch zu vermitteln versucht. Insofern
ist nach der Anlage der Studie und ihrer Forschungsstrategie zu fragen.
(Gemessen daran nehmen sich nicht wenige typografische wie orthografische
Fehler und Redundanzen inhaltlicher Art vernachlässigbar aus). Die
spannende und für die Unterrichtspraxis drängende Frage, was SchülerInnen wie zu Bewusstsein kommt, verlangte
nicht nur eine schulfächerübergreifende Perspektive. Auch der
Abgleich von curricularen Inhalten und Bildungsstandards mit dem realen
Wissen und Bewusstsein dürfte aufschlussreich sein. Bedeutsam und m.E.
auch realisierbar wäre eine zusätzliche Bestandsaufnahme der außerschulisch
rezipierten und konsumierten – wohl vornehmlich audio-visuellen – Medien,
die für die Frage relevant sind. Nicht mehr innerhalb einer Studie
dürfte die Analyse des christlich-theologischen Bewusstseinsstands
zur Relation von Juden und Christen bzw. der Bedeutung von Auschwitz zu leisten
sein. Zu fragen wäre, ob sich nicht auch die deutlichen Inkonsistenzen
dieses Diskurses, vermittelt über entsprechende Ausbildungsgänge
von LehrerInnen wie Curricula, im beklagten Schülerbewusstsein abbilden.
Wenn es dann noch gelänge, die Interviews um solche mit Vertretern der
Eltern- und ggf. Großelterngeneration zu erweitern, könnte eingelöst
werden, was die Studie anzielte: die Rekonstruktion der intergenerationellen
Genese eines zeitgeschichtlichen einschlägigen Wissens und Bewusstsein
der vierten Generation. Das wäre umso wichtiger und drängender,
als es sich bei dieser um die erste Post-Shoah-Generation im Zeitalter ohne
Zeitzeugen handelt.