Volker Stolle, ”Den christlichen Nichtariern
nimmt man alles.” Der evangelische Pädagoge Karl Mützelfeldt
angesichts der NS-Rassenpolitik. (Münsteraner Judaistische
Studien Band 22). Berlin 2007, LIT-Verlag, 112 S., 19,90 €, ISBN 978-3-8258-0901-0.
Der Autor, Jahrgang 1940 und emeritierter Professor für Neues Testament
und Mission an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, einer
von der „Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche“ (SELK) getragenen
Institution,[1] hat mit der
vorliegenden Biographie Karl Mützelfeldts ein heikles Thema aufgegriffen:
der Umgang der evangelischen Kirchen im Dritten Reich mit ihren Kirchgliedern
„nichtarischer“—hier konkret: jüdischer—Abstammung.[2] „Jüdisch“ ist hier im Sinne der NS-Rassengesetzgebung
und der dazu erlassenen Verordnungen und Verfügungen zu verstehen. Sie
waren damals geltendes Recht und bestimmten staatliches Handeln. Vom theologischen
Standpunkt aus—und auch vom Selbstverständnis der „nichtarischen“ Kirchglieder—war
„jüdisch zu sein“ jedoch nicht materialistisch-biologistisch, sondern
spirituell-religiös definiert: Mit der Taufe hatte der Jude sein Jude-Sein
aufgegeben, und auch seine Kinder und Kindeskinder, soweit selbst getauft,
hatten nichts mehr mit dem Judentum ihrer Vorfahren gemein.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren Juden in allen deutschen Staaten
formal den nichtjüdischen Staatsangehörigen gleichgestellt. In
der Praxis galten jedoch weiterhin Beschränkungen, zum Beispiel für
den Eintritt in eine Beamten- oder Offizierslaufbahn. Hier wurde die Taufe
zum „Entréebillet“ (Heinrich Heine). Die große Mehrzahl aufstiegswilliger
und konversionsbereiter Juden ließ sich evangelisch taufen, denn Katholiken
gegenüber bestanden im vom protestantischen Preußen dominierten
Reich mannigfache Vorbehalte. So nimmt es nicht wunder, dass etwa vier Fünftel
der christlichen „Nichtarier“ einer evangelischen Kirche angehörten.[3]
Die Zahl der „nichtarischen“ Christen im Deutschen Reich zu Beginn der
NS-Herrschaft ist nicht bekannt und wurde auch nie statistisch erhoben. Schätzungen
gehen weit auseinander, von 80.000 bis 9.000.000. Realistisch scheinen dem
Rezensenten die bei Schönlebe genannten „Mutmaßungen von jüdischer
Seite“ für Sommer 1933: „zwischen 160.710 und 217.000“.[4] Das würde zwischen 129.000 und 174.000
evangelische „nichtarische“ Christen bedeuten, eine durchaus beachtliche
Anzahl, gegenüber zwischen 32.000 und 43.000 katholischen „Nichtariern“.
Den Kirchen aller Konfessionen war von vornherein klar, dass der nationalsozialistische
„Juden“-Begriff im Widerspruch zu ihren Glaubensgrundsätzen stand.
Unmittelbarer Handlungsbedarf ergab sich in dem Moment, als ihre eigenen
Kirchglieder direkt von den diskriminierenden Maßnahmen des neuen
Staates betroffen wurden und von ihrer Kirche Hilfe, nicht nur im seelsorgerlichen
Sinne, erwarteten. Hier war die katholische Kirche mit ihrer zentralistischen
Struktur besser in der Lage einzugreifen als die evangelische Seite, die
in eine Vielzahl von Landes- und Freikirchen zersplittert war, wodurch einheitliches
Handeln letztlich unmöglich wurde. Erschwerend kam auf evangelischer
Seite noch hinzu, dass die völkisch-antisemitischen „Deutschen Christen“
in weiten Kreisen des Protestantismus Fuß zu fassen vermochten. Sie
schickten sich an, nicht nur Christus und das Evangelium, sondern auch
die Kirche zu „entjuden“, und das konkret im nationalsozialistischen Sinne
verstanden. Von Seiten derjenigen Landeskirchen, die von den „Deutschen
Christen“ dominiert waren, war daher nicht nur keine Hilfe für die
„nichtarischen“ Protestanten zu erwarten, sondern im Gegenteil Obstruktion
gegen beabsichtigte Hilfsmaßnahmen.
In diesem Spannungsfeld wirkte Karl Mützelfeldt, Pfarrer und Pädagoge,
geboren am 30. April 1881 in Hermannsburg, dessen Biografie der Autor
anhand umfangreichen Aktenmaterials aus staatlichen und kirchlichen Archiven,
ergänzt durch Briefwechsel und Interviews mit Personen, die Karl Mützelfeldt
persönlich gekannt hatten oder mit ihm verwandt waren, vor allem mit
seinen Kindern, erarbeitet und hier vorgelegt hat.
Bei Karls Geburt ist sein Vater, ebenfalls Pfarrer, an der Missionsschule
in Hermannsburg tätig. Karl wächst im evangelisch-freikirchlichen
Milieu auf, studiert Theologie und Philosophie in Göttingen, Rostock,
Bethel und Breslau, legt 1907 sein erstes theologisches Examen ab und nach
weiteren Studien in Bonn und Rostock 1909 das Staatsexamen für das
Höhere Lehramt in den Fächern Religion, Philosophie und Hebräisch.
Er unterrichtet in Bad Godesberg, Bonn und Düsseldorf, wo er auch sein
Referendariat ableistet und im Herbst 1913 in den städtischen Schuldienst
eintritt.
Der Erste Weltkrieg unterbricht Mützelfeldts Tätigkeit als
Lehrer. Er kehrt mit Auszeichnungen (EK I und EK II) heim und wird
nach Kriegsende im Offiziersrang entlassen. Am 1. Oktober 1923 erfolgt seine
Berufung zum Direktor des Oberlyzeums[5]
der Diakonissenanstalt Kaiserswerth. In der Folge übernimmt er die
Leitung des gesamten Kaiserswerther Schulwesens, das vierzehn Einrichtungen
umfasst und sich weit über Kaiserswerth hinaus erstreckt. Er macht
sich außerdem einen Namen im evangelischen Raum als Herausgeber und
Verfasser pädagogischer Schriften. Im Juni 1934 wandert er mit seiner
Familie nach Australien aus, wo er am 30. November 1955 gestorben ist.
Der Wechsel vom staatlichen in den (frei-)kirchlichen Schuldienst war
eine bewusste, aus Mützelfeldts lutherischem Glaubensverständnis
heraus erfolgte Entscheidung. Für ihn hat die Kirche einen wichtigen
Anteil am gesellschaftlichen Bildungsauftrag gegenüber der Jugend,
den sie jedoch nur in einem konfessionell geprägten Schulwesen erfüllen
kann. Politisch ist Mützelfeldt (wie auch seine Frau) streng national-konservativ
und in der Deutsch-Nationalen Volkspartei aktiv. Er will mit seiner Pädagogik
„gemeinschaftsbejahend und volksaufbauend“ wirken, wobei sein „Volks“-Begriff—im
Gegensatz zu dem der Nationalsozialisten—jedoch nicht vom biologistischen
Rassegedanken geprägt, sondern im kulturell-religiösen Sinne
verstanden ist, wobei wiederum für ihn als Deutsch-Nationalen und
überzeugten Lutheraner „deutsch“ und „evangelisch“ untrennbar miteinander
verbunden, ja beinahe synonym sind. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als
der biologistische „Volks“-Begriff politisches Leitbild und in Gesetze
gegossen wird, wird ihm am eigenen Leibe deutlich, dass jener jedoch nicht
mit dem christlichen Selbstverständnis von der Kirche als „Volk Gottes“
vereinbar ist.
Während seiner Rostocker Studienzeit macht Karl Mützelfeldt
die Bekanntschaft der fünf Jahre jüngeren Gertrud Herzfeld, Tochter
eines zum evangelischen Glauben konvertierten jüdischen Musiklehrers
und dessen evangelischer („arischer“) Ehefrau. Karl und Gertrud heiraten
im Sommer 1909. Ihnen werden fünf Kinder geschenkt (1912, 1914, 1918,
1927 und 1930), von denen das vierte jedoch kurz nach der Geburt verstirbt.
Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten mit den sie begleitenden
antijüdischen Ausschreitungen sowie die in schneller Folge erlassenen
Gesetze und Verordnungen, mit denen die einheimischen Juden diskriminiert
wurden, machen Karl Mützelfeldt schmerzlich bewusst, dass er und die
Seinen von nun an an den Rand der Gesellschaft gedrängt sein würden:
er selbst als „jüdisch versippt“, seine Kinder, gerade 21, 18, 14
und 3 Jahre alt, als „jüdische Mischlinge 2. Grades“ („Vierteljuden“),
sowie seine Frau als „Mischling 1. Grades“ („Halbjüdin“). Wie so viele
Nationalkonservative damals, trägt Karl Mützelfeldt jedoch anfangs
Hoffnungen auf eine Mäßigung des Regimes, sobald dieses zur politischen
Tagesarbeit übergehen würde.
Er muss jedoch bald erkennen, dass der Wind in die entgegen gesetzte
Richtung weht. Zwar ist seine berufliche Stellung—noch—nicht unmittelbar
gefährdet, aber für seine Kinder sieht er nach Verabschiedung des
„Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (GWB; 7. April
1933) und dessen rasch danach erlassenen Durchführungsverordnungen keine
berufliche Zukunft mehr in Deutschland, kann doch keines seiner Kinder den
„Kleinen Ariernachweis“ erbringen,[6]
der für die Ausübung eines Berufes im Öffentlichen Dienst—und
für alle Berufe, für die eine staatliche Approbation vorgesehen
war, wie etwa Lehrer, Arzt oder Rechtsanwalt—zwingend vorgeschrieben war.
Erschwerend kommt seit Herbst 1933 hinzu, dass die Vorschriften des GWB
auch auf die Privatschulen ausgedehnt werden. Insbesondere dessen Paragraph 4,
der vom Beamten das „jederzeitige rückhaltlose Eintreten für den
nationalen Staat“ mit seinem Totalitätsanspruch verlangte, hätte
für Mützelfeldt bedeutet, Verrat an seinen christlichen Glaubensgrundsätzen
üben zu müssen.
Schon im Sommer 1933 macht Mützelfeldt sich daher Gedanken, mit
seiner Familie aus Deutschland auszuwandern. Er streckt Fühler nach
Südafrika, Brasilien und den USA aus, jedoch ohne Ergebnis. Durch Vermittlung
seitens des Präsidenten des Martin-Luther-Bundes, des Erlanger Theologieprofessors
Friedrich Ulmer, gelingt es ihm, in Australien bei der United Evangelical
Church in Australia eine Stelle an deren Institut zur Pfarrerausbildung
zugesagt zu bekommen. In Vorbereitung darauf legt er Anfang 1934 die Zweite
Theologische Staatsprüfung ab und wird vier Monate später ordiniert.
Nach Überwindung etlicher bürokratischer Hürden können
die Mützelfeldts schließlich am 11. Juni 1934 Deutschland
zu Schiff verlassen. Sie kommen am 5. August in Adelaide an. Karl Mützelfeldt
stürzt sich dort sofort in seine Arbeit, wirkt nicht nur im pädagogischen
Bereich, sondern auch in vielen Ehrenämtern. Unter anderem bemüht
er sich, im Rahmen der Lutherischen Einwanderungshilfe „nichtarischen“ evangelischen
Christen zur Einwanderung nach Australien zu verhelfen, leider nur mit
geringem Erfolg. Nach Kriegsende organisiert er Lebensmittelpaketsendungen
in die Heimat. Erst mit 72 Jahren geht er in den Ruhestand.
Noch vor seiner Abreise aus Deutschland hatte Karl Mützelfeldt
versucht, den Aufbau einer Hilfsorganisation für die „nichtarischen“
evangelischen Christen im Reich in die Wege zu leiten. Wie für seine
eigene Familie, sah er auch für sie grundsätzlich keine Zukunft
mehr in ihrem Heimatland. Die einzige Perspektive, die er für sie sah,
war Auswanderung. Mützelfeldt schwebte vor, im Reich „Siedlerschulen“
in kirchlicher Trägerschaft aufzubauen—ähnlich wie die zionistische
Hachscharah für „Volljuden“—in denen die Auswanderungswilligen auf eine
landwirtschaftliche oder handwerkliche Tätigkeit in der neuen Heimat
vorbereitet werden sollten, um den restriktiven Einwanderungsbestimmungen
der Zielländer entgegen zu kommen. Trotz intensiver Bemühungen,
in die Mützelfeldt auch staatliche Stellen einbezog, scheiterte das
Projekt, nicht zuletzt an Kommunikationsproblemen und Kompetenzstreitigkeiten
zwischen den evangelischen Kirchen. Zwar hat es vereinzelt regionale Hilfsbemühungen
von evangelischer Seite gegeben, etwa in Berlin das „Büro Pfarrer Grüber“,
in der Summe haben jedoch die evangelischen Kirchen Deutschlands ihren „nichtarischen“
Kirchgliedern gegenüber ebenso kläglich versagt wie gegenüber
denjenigen deutschen „Nichtarieren“, die keiner christlichen Kirche angehörten,
insbesondere den damals so genannten „Volljuden“.
Dies sieht Volker Stolle ganz deutlich und ohne Beschönigung. Seine
Biografie Karl Mützelfeldts ist daher auch keine Hagiographie geworden.
Der Autor sieht klar Mützelfeldts durch dessen national-konservativen
Hintergrund bedingte Einschränkung der Perspektive und weist darauf
hin, dass "Mützelfeldt . . . Judentum und Deutschtum als
deutlich voneinander unterschiedene kulturell-religiöse Größen
an[sieht] . . . Mit seinem Einsatz für ‚christliche Nichtarier‘
will Mützelfeldt folgerichtig einer bestimmten Gruppe von Deutschen
helfen. Es stellt kein Engagement für Juden dar; diese Menschen sieht
er auf Grund seines Volksverständnisses als Fremdvolk an."[7]
Als Theologe sieht Stolle den Grund für das Versagen von Kirche—und
man überinterpretiert ihn sicher nicht, wenn man hier nicht nur an
die evangelischen Kirchen denkt—darin, "dass hinter der naiv geübten
Eingliederung von Juden in die Kirche keine angemessene theologische Bewältigung
dieses Vorganges stand . . . . Dass das Bekenntnis zur ‚katholischen‘
Kirche (Apostolicum und Nicaenum . . .) ursprünglich die Gemeinschaft
von Juden- und Heidenchristen in ihrer jeweiligen heilsgeschichtlichen Besonderheit
und ihrer verbindenden Ganzheit ausdrückt (Eph 2, 14-18), war weitestgehend
außer Blick geraten. Das Urproblem der Kirche, das weitgehende Außenstehen
Israels, holte die Christenheit in Deutschland wieder ein".[8]
Eine Aussage, die Christen aller Konfessionen in unserem Lande zum Nachdenken zwingen sollte.
[1] Die SELK ist eine aus
den „Altlutheranern“ hervorgegangene Freikirche, zählt etwa 36.000 Mitglieder
in Deutschland und befindet sich nach ihrer Selbsteinschätzung „im
Widerstand gegen Rationalismus und liberale Theologie“. Stolle ist „Koordinator
für Kirche und Judentum“ der SELK sowie Zweiter Vorsitzender des „Evangelisch-Lutherischen
Zentralvereins für Begegnung von Christen und Juden“. www.stolles.de
und www.selk.de, letzter Zugriff 4.9.2010.
[2] Außer Juden galten
auch „Zigeuner“ als „nichtarisch.“ Andere „Nichtarier“, etwa Farbige oder
Asiaten, spielten damals zahlenmäßig keine Rolle in Deutschland.
Da etwa neunzig Prozent der deutschen „Zigeuner“ der römisch-katholischen
Kirche angehörten, waren „Zigeuner“ für die evangelischen Kirchen
kaum von Interesse.
[3] Laut Volkszählung
vom 17. Mai 1939 gab es im Deutschen Reich 84.370 „nichtarische“ Christen:
„Volljuden“ und „Mischlinge“ ersten sowie zweiten Grades. Davon waren 78
Prozent Protestanten und 22 Prozent Katholiken. Das Zahlenverhältnis
dürfte sich gegenüber 1933 kaum verändert haben.
[4] Dirk Schönlebe,
München im Netzwerk der Hilfe für „nichtarische“ Christen. Magisterarbeit,
o.O., o.J. [vermutlich 2006], S. 15. www.landesbischof-meiser.de/downloads/Hilfe.pdf.
Letzter Zugriff 3.9.2010.
[5] Höhere Mädchenschule,
an der die Schülerinnen unter anderem auf den Beruf als Volksschullehrerin
vorbereitet wurden.
[6] Amtliche Beglaubigung,
dass keines der vier Großelternteile der jüdischen Religion angehört
hatte. Der „Große Ariernachweis“ zurück bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts,
in Einzelfällen (SS-Führer) bis 1750, wurde nur für die
Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Organisationen verlangt.
[7] Seite 96, Hervorhebungen
im Original.
[8] Seite 97, Hervorhebung
hinzugefügt. Rezensent hätte hier übrigens die ganze Perikope
zitiert, von Vers 11 bis 22.