Claudia Bruns, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln u.a. 2008, Böhlau-Verlag, 545 S., 44,90 EUR, ISBN 978-3412148065


Thematisch nicht ganz so weitreichend wie ihr Titel verspricht, analysiert Claudia Bruns’ Hamburger Dissertation die Entwicklung der Männerbundtheorien von Hans Blüher, vor allem seiner kurz vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten Geschichte des Wandervogels, dem er selbst angehörte. Auch wenn Blüher und der weitere ideengeschichtliche Kontext der Jahrhundertwende (Bachofen, Schurtz, Weininger, Freud u.a.) in der einschlägigen Historiographie vielfach bearbeitet worden sind  und insofern wenig Chancen für Neuentdeckungen bieten, gebührt Bruns’ Studie doch das Verdienst, all dies in einer Gründlichkeit zu tun, die ihresgleichen sucht. Insbesondere bietet dieses Buch auch eine genaue Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Rezeption Blühers. Dass die Arbeit bei ohne weiteres möglicher Kürzung um die Hälfte konziser und lesbarer geworden wäre, mag auf das Konto deutscher Dissertationskultur, die schlampige Redaktion (die Seitenangaben des Inhaltsverzeichnisses stimmen nicht mit denen im Buch überein) dagegen auf das Konto der Verlagspolitik gebucht werden.

Ein erstes großes Kapitel stellt die beiden großen Ausgangspunkte von Blühers Theorien dar – Johann Jakob Bachofens Mutterrecht von 1861 und Heinrich Schurtz‘ Altersklassen und Männerbünde von 1902. Während Blüher Schurtz in der Verwerfung von Bachofens Matriarchatstheorien und in der kulturanthropologisch basierten Vorstellung vom „Männerhaus“ oder Männerbund als der Keimzelle politischer Vergesellschaftung und Staatsbildung folgte, ging er über den 1903 früh verstorbenen Volkskundler hinaus, indem er nicht einen diffusen „Gesellschaftstrieb“ des Mannes, sondern dessen Geschlechtstrieb als die treibende Kraft männlicher Vergemeinschaftung und damit auch Vergesellschaftung ansah. Bruns zeigt eindringlich, dass derlei Wissenschaft und die mit ihr einhergehenden Stereotype von weiblicher Gesellungsunfähigkeit im geistigen Horizont der Jahrhundertwende in Deutschland weit verbreitet waren. Das Vereinswesen des 19. Jahrhunderts, das ja infolge des um 1800 definierten bürgerlichen Politikverständnisses tatsächlich männlich dominiert war, diente als Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme.

Ihre eigentliche Schubkraft erhielt Blühers geistige und publizistische Entwicklung allerdings durch die öffentlichen, von Bruns eingehend nachgezeichneten Homosexualitätsdebatten nach der Jahrhundertwende, die bekanntlich in den italienischen Affären des Industriellen Krupp 1902 und dann vor allem in den Skandalen um den Freundes- und Regierungskreis Kaiser Wilhelms II. ihren Ausgangspunkt nahmen, bevor sie auf die Jugendbewegung überschwappten und dort zu einer regelrechten Kultur von Homosexualitätsängsten und Homosexualitätsverdächtigungen führte. Es schien, als ob sowohl das politische Establishment des Kaiserreichs wie auch seine nachwachsende politische Führungsschicht „effeminiert“, also verweichlicht und verweiblicht seien. Blüher, der infolge körperlicher Schwächen nie zum Militärdienst eingezogen wurde – im Männlichkeitsdiskurs des Kaiserreichs ein kaum zu überschätzender Makel --, antwortete auf diese tiefgreifende Verunsicherung maskuliner Normen, indem er die Not zur Tugend machte und Homosexualiät oder genauer Homoerotik zum Inbegriff von Männlichkeit stilisierte. Blüher stand mit dieser  „maskulinistischen“ Antwort auf die vermeintlichen Effeminierungserscheinungen Deutschlands nicht allein, wie Bruns zeigt, aber seine Schriften waren die populärsten. Die maskulinistischen Autoren bemühten sich, Homosexualität vom Stigma der Effeminierung zu befreien und gleichgeschlechtliches Begehren in das diskursive Feld hegemonialer Männlichkeit einzuschreiben. Bruns deutet dies als Normalisierungsstrategie. Indem sie die Bindungsfähigkeit des Einzelnen zum Maßstab von Normalität erhoben, konnten Blüher und seine Gesinnungsgenossen Homosexualität – oder genauer Homoerotik -- als Inbegriff staatspolitisch wirksamer Sozialität ausgeben. In jeder freundschaftlichen oder kameradschaftlichen Regung des Mannes sah Blüher ein Zeichen der sublimierten Anlage zur Homosexualität, die wiederum die Grundlage der staatspolitischen Kompetenz des Mannes war.

Allerdings waren Homosexualität und selbst Homoerotik im sexualfeindlichen Muff des wilhelminischen Deutschland viel zu anrüchig, als dass sich Blühers Zeitgenossen mit solchen Theorien hätten beruhigen lassen. Selbst innerhalb der Jugendbewegung gab es eine starke Strömung, die davon nichts wissen wollte und jedwede Form von Homosexualität oder Homoerotik als Anfang vom Ende aller Männlichkeit und damit Staatlichkeit ansah. Die aus diesen Phobien resultierenden zahllosen Querelen und Spaltungen innerhalb der Wandevogelbewegung zeichnet Bruns detailliert nach, größtenteils auf der Basis gedruckter Quellen, die auch sonst dominieren. Aber nicht nur Blühers Publikum reagierte, auch er selbst versuchte, sein Gedankengebäude gegen Kritik aus den eigenen und benachbarten, antifeministischen und völkischen Reihen abzusichern. Bruns zeigt sehr deutlich, wie Blüher erst unter dem Eindruck dieser Auseinandersetzungen, ansatzweise bereits vor 1914, die antifeministische Stoßrichtung seiner Theorien um eine noch schärfere antisemitische erweiterte und sich damit in den rassistischen Diskurs seiner Zeit einfügte. Inklusion ist nicht ohne Exklusion möglich, und je brüchiger die Grundlage von Gemeinschaftsbildung ist, desto radikaler das Bedürfnis nach Außenabgrenzung.

Während Bruns’ Analyse des deutschen ideengeschichtlichen Kontextes minutiös ausfällt und mit zahlreichen langen, mitunter zu langen Zitaten aus Primärtexten geschmückt ist, fehlt nahezu jedwede sozial- oder politikgeschichtliche Einordung. In welcher Weise sich Blühers und andere Männerbundtheorien zu den praktischen und im Kaiserreich vielfältig praktizierten Vergemeinschaftungen von Männern verhalten, wird mit Bezug auf das Vereinswesen ganz knapp als Problem benannt, aber nicht analysiert, und noch weniger kommen Bezüge zwischen Theorie und Praxis, etwa des Militärs (unter den Bedingungen der Wehrpflicht immerhin ein namhafter Faktor von Männerbündelei), der studentischen Burschenschaften oder lokaler, regionaler und politischer Organisationen ins Blickfeld. Von Ausblicken auf Blühers zweites und für Bruns’ Thema zweifellos relevantes Hauptwerk Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1917) und auf die beiden maßgeblichen Männerbundtheoretiker nach 1918, Hermann Schmalenbach und Alfred Bäumler, abgesehen, bricht die Studie im wesentlichen mit dem Ersten Weltkrieg ab, ohne dass der in dieser Zeit inflationierende Diskurs um Männerfreundschaft und Kameradschaft auch nur eines Seitenblickes gewürdigt würde. Dass es parallele Diskurse und Diskussionen um Männerbündelei und deren politische Funktionen auch in anderen Ländern gab, erwähnt Bruns. Aber entsprechende komparative Analysen bleiben wie vieles andere künftiger Forschung vorbehalten.

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