Matthias Tischer, Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Böhlau Verlag: Köln/Weimar/Wien 2009 (KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 6), 344 S., 39,90 EUR, ISBN: 978-3-412-20459-4


Wissenschaftliches Umfeld

Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte innerhalb der Musikwissenschaft stellt im Vergleich zu Literatur- und Geschichtswissenschaft ein jüngeres Kapitel dar. Widmete man sich in den 1990er Jahren zunächst den zurückgekehrten Exil-Komponisten in den Nachkriegsjahren, gerieten später auch die nächsten Komponistengenerationen in den Fokus des Interesses. Mit seiner Habilitation zu Paul Dessau, explizit dessen größeren Orchesterwerken in den 1950er bis zum Anfang der 1970er Jahre, bildet Matthias Tischer eine der Grundlagen für diese Form der Bearbeitung eines historisch zeitlich begrenzten Systems. Bereits kurz nach seiner Schrift, die Sekundärliteratur bis Anfang 2007 integrierte, wuchs das Forschungsinteresse am Thema. Neben länger bestehenden Forschungen der Universität Hamburg, der Arbeitsgruppe Exilmusik, die seit 1989 zu Paul Dessau arbeitet, den Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin, die als DFG-Projekt eine Gesamtausgabe der Schriften und Werke Eislers umsetzen, gibt es bis heute erfreulicherweise weitere Arbeiten, die sich mit den Meistern Dessau, Wagner-Régeny, Eisler, ihren Schülern und der politischen Einflussnahme staatlicher Organe sowie den Folgen für die Komponisten beschäftigten, so die beispielsweise von Tischer noch nicht erwähnten, 2007 erschienenen, Arbeiten von Peggy Klemke [1] und Christiane Sporn [2]. Der Bedarf nach weiterer Forschung bleibt dennoch groß.

Aufbau und innere Struktur der Publikation

Matthias Tischer stellt bereits in seiner Einleitung die Frage nach dem allgemeinen musikwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse und daraus zu schlussfolgernden Perspektiven für das „dritte Jahrtausend“ neu. Ein ganzes Buch zu diesem Thema wird 2010 [3] erscheinen. Das hier abgeschlossene Werk kann bereits als Beitrag zu dieser Publikation betrachtet werden. Die vorliegende Schrift zu Leben und Werk Paul Dessaus, eine Analyse seiner Werke für großes Orchester im Kontext politischer Entwicklungen und unter Verwendung theoretischer Analysemethoden, gliedert der Autor in einen theoretisch-historischen Teil (Part II – V) und einen analytischen Teil (Part VI – IX), umrahmt von Einleitung sowie Rück- und Ausblick. Dennoch durchdringen sich beide Hauptteile immer wieder, wird das analytisch dargestellt, was theoretisch im ersten Teil präsentiert wurde. Dabei arbeitet Tischer in einzelnen Kapitel mit insgesamt vier Fragestellungen: I(3) Analysen?, II(2) Musik und Stalinismus?, VII (2) Einheit des Vokalen und Instrumentalen sowie VIII (1) Beethoven ehren und sich nützen?. Es folgen ausschließlich im praktischen, analytischen Teil wiederum genau vier Exkurse: Exkurs 1: Webern in der DDR, Exkurs 2: Bach in der frühen DDR, Exkurs 3: Schoenberg n’est pas mort, Exkurs 4: Beethoven 1970. Sehr viel Hintergrundwissen wird in den einzelnen Kapiteln beider Teile präsent. Oftmals dient es fast assoziativ dazu, dass dem Leser ein Bild entstehe von einem zwiespältigen Komponisten und den kulturpolitischen Akteuren in seinem Umfeld. Dies gelingt aufgrund einer optimalen Quellenlage, wie Tischer bemerkt, und weil er „eine der zahlreichen möglichen Geschichten der Musik in der DDR erzählt“.[4]

Inhaltliche Aspekte

Tischers Arbeit ist außerordentlich breit angelegt. Der Autor berücksichtigt nicht nur politische Tendenzen der frühen 1920er Jahre, sondern gleichermaßen die Auswirkungen von Remigration, Kaltem Krieg und Stalinismus. Dabei prüft er Methoden, die ihm eine besondere Art der musikalischen Analyse ermöglichen. Hierzu gehört die Auseinandersetzung mit Brecht, dessen Bezug zu Musik und das Transponieren des Gestischen bei Brecht auf die Musik Dessaus, ohne allerdings jenen von Brecht in diesem Zusammenhang selbst geprägten Begriff der „Misuk“ zu erwähnen oder auszuführen. Tischer sieht in der Zusammenarbeit Brechts mit Dessau Konsequenzen für das instrumentale Komponieren Dessaus, das sich in gestischer Musik äußerte. Exemplarisch führt er dies an dem Werk „In memoriam Bertolt Brecht“ aus. Einen breiten Raum nimmt als weiterer Ansatz der Analyse die musikalische Intertextualität nach Michail Bachtin und deren Reaktivierung durch Julia Kristeva Ende der 1960er Jahre ein. Das Besondere an diesem Ansatz ist, dass sich Bachtin, der 1929 verhaftete und verbannte Systemkritiker, als russischer Sprachwissenschaftler intensiv mit dem Sozialistischen Realismus auseinandersetzte und damit die Idee probat wird für eine Bearbeitung von Dessaus Zeit während der DDR. Tischer lässt den Leser zunächst allein mit seinen Erkenntnissen, führt aber anschließend über mehrere Schritte zum eigentlichen theoretischen Ansatz hin. So hält er für die Interpretation von Musik die Funktion des Zitats, einer Übertragung aus der Literaturwissenschaft und einem Teilbereich der Intertextualität, als besonders geeignet.  Er fasst nach Pfister sechs Kriterien zur qualitativen Beschreibung von  Intertextualität in Musik zusammen, die er nicht nur an „In memoriam Bertolt Brecht“ exemplarisch abarbeitet, sondern derer er sich gleichermaßen in den nun folgenden Orchestermusiken bedient. Tischer analysiert nicht nur schlicht die Werke, er legt in jedem Kapitel gleichermaßen Wert auf einen ganz bestimmten und verschiedenen, historischen oder werkimmanenten Bezug. In Orchestermusik Nr. 2 – „Meer der Stürme“ ist es der politisch gewollte Ansatz der Programmmusik in der DDR, den Dessau gekonnt mit bestimmten Zitaten unterwanderte. Das komplexe Thema wird von Tischer auf übersichtliche Kapitel reduziert, die sich aufeinander beziehen und das Wesentliche komprimiert schildern. In Orchestermusik Nr. 3 integriert der Autor den Blick in den „Alltag“ der Künstler und versucht eine Beziehungsdeutung Künstler-Funktionär, die naturgemäß im Vagen bleiben muss, denn schließlich existieren für Tischers Rückschlüsse nicht wirklich dokumentierte Nachweise, sie bleiben, wie er selbst bemerkte, Geschichten. Das Thema Intertextualität kulminiert in Orchestermusik Nr. 4, wenn Tischer an dieser Stelle schlussfolgert, dass Dessau „mehr Musik aus der Vergangenheit“ entlehnt, „als neue zu erfinden“. Tritt Dessau wirklich aus dem Schatten eines großen Meisters, in diesem Falle der Bezug zu Schönberg und Bach, kontrastiert er die von Bloom theoretisierte „Einflussangst“ mit einem von Tischer definierten „Einflusstrost“ auf der Suche nach etwas, was konstant bleiben kann in der Gegenwart? Geht Tischer hier nicht zu weit? Scheint Dessau in seinen Notizen, Tagebüchern nicht immer sehr konkret und bewusst in dem was er tut und denkt. Bleibt nicht alles Weiterführende im Bereich der psychologischen Deutung, die erst recht an einer nicht mehr existierenden Person vergenommen werden kann. Die Interpretation ist trotzdem schlüssig und bleibt dem Autoren ungenommen, doch es darf kritisch hinterfragt werden.

Am Ende des Buches folgt die spannendste der Analysen, in welcher sich der Wissenschaftler fast akribisch einem Vergleich mit den in Orchestermusik Nr. 4 zitierten Bach-Werken widmet und dazu ein musikalisches Eigenzitat Dessaus nachweist, das klassische „In’s Nichts mit ihm“ aus der staatspolitisch in die Kritik geratenen Oper „Die Verurteilung des Lukullus“.

Konstanten und Ausblicke

Ein umfangreiches Werk ist entstanden, das sich dem hohen Anspruch stellt, anhand von Paul Dessaus großen Orchesterkompositionen DDR-Musikgeschichte zu erzählen. Und tatsächlich, Tischer überrascht den Leser mit einer ungeheueren Faktenfülle, die er im Kontext immer wieder anbringt, indem er episodenhaft Inhalte miteinander verknüpft. Manchmal wird dem Leser erst in fast angelsächsischer Manier im Nachhinein klar, worum es dem Autor ging. So ist festzuhalten, dass ein in DDR-Geschichte nicht bewanderter Wissenschaftler bei manchen Politikernamen, Musikwissenschaftlern und besonderen kulturpolitischen Verknüpfungen nicht immer wird folgen können. Dies ist wohl dem ungeheueren Komprimierungszustand geschuldet. Die Versuche Tischers, mit alten theoretischen Ansätzen einen neuen Rahmen für Analyse zu bilden, scheint durchaus gelungen und man kann gespannt sein auf die Herausgabe seiner neuen Publikation. Gleichzeitig beweist die vorliegende Arbeit, dass auf Faktengenauigkeit nicht verzichtet werden kann: Die in der aktuellen Wissenschaft [5] vielfach überholte Fehldeutung der Funktion des „Prager Kongresses 1948“ als Zustimmung Eislers zur restriktiven Kulturpolitik eines Shdanow widerlegt sich selbst bei genauem Studieren von Eislers Rede und seinen Zielstellungen, die er klar und gegen die sowjetisch beeinflusste Doktrin der Nachkriegsjahre mit Gründung der Deutschen Akademie umsetzte. Letztendlich gerät Eisler mit seinen eigenen Gedanken, die sich bereits aus den Zwanzigerjahren speisen und grundlegende Auffassungen einer breiteren Komponistenwelt verdeutlichen, wenig später ebenfalls in die Schusslinie seiner kulturpolitischen Kritiker in der DDR.

Die Erschließung von Dokumenten, die Diskussionen an der Berliner Akademie beschreiben und die Bereitstellung von Quellen aus dem Paul-Dessau-Archiv bereichern die Forschung weiterhin. So wird Zeitgeschichte belebt. Bedauerlich ist, dass die gewonnenen Zeitzeugengespräche zunächst nicht veröffentlicht wurden und nur am Rande in die Publikation einbezogen worden sind. Sie hätten einen wertvollen Akzent setzen können.

Was für die Forschung in Sachen Paul Dessau noch offen bleibt, ist vieles, denn sie ist erst am Anfang. So steht, laut Tischer, die Aufarbeitung von Dessaus Vokalmusik noch aus wie auch seiner Filmmusik und weiterer, nicht als Auftragswerke verfasster Instrumentalmusik. Selbst die Person Dessaus muss weiter erforscht werden, um sie langfristig im musikgeschichtlichen Geschehen verankern zu können.

Tischer bewahrt mit seiner Arbeit vor allem ein Stück naher Zeitgeschichte. Er versuchte, die politische Dimension des Komponierens in der DDR festzuhalten, zu dokumentieren und eine Erklärung dafür zu finden. Besonders aufmerksam erscheinen diesbezüglich die zahlreichen literarischen Zitate von Volker Braun, dem kritischen DDR-Schriftsteller, der sogar Paul Dessau in einem Text verewigte. Ein großes Verdienst des Autors ist es, dass er nicht nur Geschichte und Musikgeschichte integrierte, sondern sich anhand des theoretischen Ansatzes und der Braun-Zitate zusätzlich sowohl der Literaturtheorie als auch der Literaturwissenschaft fachübergreifend zuwandte, um komplex die Frage nach Ursache und Ausprägung des politischen und persönlichen Komponieren Dessaus „für und wider den Staat“ in Ansätzen beantworten zu können.


[1] Peggy Klemke, Taktgeber oder Tabuisierte - Komponisten in der DDR : staatliche Kulturpolitik in den fünfziger Jahren, Berlin 2007.
[2] Christiane Sporn, Musik unter politischen Vorzeichen, Saarbrücken 2007.
[3] Nina Noeske/Matthias Tischer (Hg), Musikwissenschaft und Kalter Krieg: Das Beispiel DDR, Köln/Weimar/Wien 2010.
[4] Matthias Tischer, Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 4.
[5] u.a. Christiane Sporn, Musik unter politischern Vorzeichen, Saarbrücken 2007, S. 29, Maren Köster, Musik – Zeit – Geschehen. Zu den Musikverhältnissen in der SBZ/DDR 1945 bis 1952, Saarbrücken 2002, S. 45 – 53.

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