Martin Aust, Krzysztof Ruchniewicz und Stefan Troebst (Hg.). Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert. (Visuelle Geschichtskultur Bd. 3.) Köln/Weimar/Wien 2009, Böhlau-Verlag, 285 S., 39,90 EUR, ISBN 978-3-412-20292-7


Wann begann der Zweite Weltkrieg? Und Wer war schuld daran? Zwei einfache, klare Fragen. Und doch wird man in Polen und seinen Nachbarländern auf sie recht unterschiedliche Antworten bekommen. Fragen wir zuerst ein deutsches Schulkind, 10. Klasse: Am 1. September 1939, und: Schuld daran war Hitler. Sein Altersgenosse in Moskau wird rückfragen: Meinen Sie den Großen Vaterländischen Krieg? Der begann am 22. Juni 1941. Und schuld daran waren die deutsch-faschistischen Aggressoren.[1]Der polnische licealista würde 1989 noch dieselben Antworten gegeben haben wie der deutsche heute. Waren diese doch im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher entwickelt und im Urteil vom 1. Oktober 1946 festgeschrieben worden. Heute, im Jahre 2010, jedoch würde er auf die Frage nach der Schuld anders antworten: Die Deutschen und die Russen, die gemeinsam Polen überfallen und unter sich aufgeteilt hatten.

Sollte der russische Historiker Michail J. Geller recht haben, der seinem mehrbändigen Werk zur Geschichte des Russischen Reiches das Motto voranstellte: „Nichts ändert sich schneller als die Vergangenheit“? Werden doch nach jeder größeren politischen Umwälzung die Schulbücher für Geschichte neu geschrieben, Denkmäler und nationale Feiertage durch neue ersetzt, Straßen und Plätze umbenannt, Museen neu gegründet und alte umgewidmet. Gerade Polen und seine Nachbarländer haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfach diesen Wechsel des historischen master narrative mitgemacht. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass diese Wandlungen nicht unabhängig voneinander, sondern in vielfacher Wechselwirkung geschahen. Derartige Phänomene zu untersuchen hat sich die „Verflechtungsgeschichte“ (histoire croisée) vorgenommen, zu der der vorliegende Band einige gewichtige Beiträge zu liefern vermag.

Bleiben wir jedoch vorerst noch beim Zweiten Weltkrieg. Das Thema erlangte besondere Aktualität im Frühjahr und Sommer 2009, als man in Polen zu einer großen Gedenkveranstaltung mit internationaler Beteiligung zum siebzigsten Jahrestag des Kriegsausbruchs (nach polnischer Auffassung) rüstete. Anders als zu Zeiten des Kommunismus, in denen die Rolle der Sowjetunion als Befreier Polens vom deutsch-faschistischen Joch groß gefeiert wurde, lagen die Akzente jetzt eher auf der dunklen Seite des polnisch-sowjetischen Verhältnisses, symbolisiert durch die Schlagworte „Ribbentrop-Molotow-Pakt“, „Katyń“ und „Zweite Okkupation“[2], seit Jahren schon durch die Öffentlichkeitsarbeit des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN) im Lande propagiert.[3]

Die hierin zum Ausdruck kommende Revision des bisher herrschenden polnischen Geschichtsverständnisses konnte die russische Seite nicht einfach hinnehmen. Am 19. Mai 2009 unterschrieb Präsident Medwedjew einen Erlass, durch den eine Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Abwehr von Versuchen, die Geschichte zum Schaden Russlands zu fälschen eingesetzt wurde. Prominentes Mitglied ist Natalja Narotschnitskaja, Historikerin, Mitglied internationaler Vereinigungen und eine Zeitlang Abgeordnete im Parlament der Russischen Föderation (Duma).

Besonders heftig und mit diplomatischen Schritten reagierte die russische Seite auf eine Entschließung der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vom 3. Juli 2009, die die Rolle Nazideutschlands und der Sowjetunion beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auf eine Stufe gestellt hatte. Unter anderem gab das Innenministerium der Russischen Föderation im August 2009 eine Sammlung von Dokumenten aus dem Archiv des sowjetischen Geheimdienstes heraus, die belegen sollte, dass die polnische Regierung noch bis Anfang 1939 freundschaftliche und gegen die Sowjetunion gerichtete Beziehungen mit Hitlerdeutschland gepflegt, sogar zusammen mit Japan kriegerische Schritte gegen die Sowjetunion geplant habe, und somit selbst einen nicht unerheblichen Anteil Schuld am Kriegsausbruch trage.

Die polnische Seite reagierte unverzüglich mit Gegendarstellungen und mobilisierte nicht nur das IPN, sondern auch Universitätshistoriker, insbesondere als durchsickerte, dass ein Sammelband mit Aufsätzen prominenter Autoren und „belastenden“ Dokumenten unter der Redaktion von N. Narotschnitskaja weitere Enthüllungen bringen würde. Dieses 415 Seiten umfassende Werk mit dem Titel Partitura wtoroj mirowoj – kto i kogda natschal wojnu?  (Das Drehbuch zum Zweiten [Weltkrieg] – Wer begann den Krieg und wann?) kann mit einigem Recht als die Bibel des neuen russischen Geschichtsrevisionismus betrachtet werden. Es sollte ursprünglich noch im August erscheinen, mit Rücksicht auf den Besuch Ministerpräsident Putins zu den Gedenkfeiern am 1. September auf der Westerplatte wurde es jedoch erst am 2. September 2009 auf der Moskauer Buchmesse der Öffentlichkeit vorgestellt.

Narotschnitskaja nennt die Fixierung auf den 1. September 1939 „eurozentrisch“—zu diesem Zeitpunkt hätten die Achsenmächte (Deutschland, Italien und Japan) schon seit Jahren eine militärisch-aggressive Politik in Europa (Spanien, Österreich, Tschechoslowakei, Litauen), Afrika (Abessinien) und Asien (China) betrieben. Sie hält den Polen vor, ihr Land sei in der Zwischenkriegszeit alles andere als friedliebend gewesen und habe 1938/39 beim Druck auf Litauen und bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei gemeinsame Sache mit Hitlerdeutschland gemacht. Zwar entlässt sie dieses keineswegs aus der Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch, lastet aber Frankreich und Großbritannien an, Hitler nicht nur nicht rechtzeitig gebremst, sondern ihm sogar freie Hand bei einer Aggression in Richtung Osten signalisiert zu haben.

Drei Wochen später, am 23. September 2009, verabschiedete das polnische Parlament (Sejm) per Akklamation eine Entschließung, die die Besetzung des östlichen Polens durch die Rote Armee am 17. September 1939 „im Zuge des Ribbentrop-Molotow-Paktes“ als „vierte Teilung Polens“ bezeichnet und die Ermordung der polnischen Offiziere bei Katy? als „Kriegsverbrechen, das die Merkmale eines Genozids trägt“. Die deutsche Seite hat (bisher) offiziell in diesem Konflikt nicht Stellung bezogen. Die Zukunft wird lehren, ob eine neue Generation von Historikern und Publizisten, die die „Achtundsechziger“ eines Tages ablösen wird, andere Akzente in der Kriegsschuldfrage setzen wird. Um eine Auseinandersetzung mit dem russischen „Revisionismus“ wird sie nicht herum kommen.

Brauchen wir ein besseres Beispiel als das eben vorgestellte, um die „Verflochtenheit“ der historischen Erinnerungen Polens und seiner beiden großen Nachbarn, Deutschlands und Russlands, zu demonstrieren? Welche Aktualität der hier zur Besprechung vorliegende Sammelband besitzt, der den—rundum gelungenen—Versuch macht, die Gedächtnisgeschichte Polens im Verhältnis zu der seiner Nachbarn (in die auch Litauen, Weißrussland und die Ukraine sowie die jüdische Minderheit Polens einbezogen wurden) an exemplarischen Beispielen aufzuzeigen?

Die Mehrzahl der Beiträge in Verflochtene Erinnerungen ist aus einer Konferenz hervor gegangen, die im Mai 2006 am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau stattfand. Eingangs definiert M. Aust „Verflechtungsgeschichte“ als den Versuch, nationale, regionale und ethnische Gedächtnisgeschichten auf gegenseitige Wahrnehmungen und Wechselwirkungen hin zu analysieren, genauer: nach Handlungen zu fragen „zwischen den Akteuren der Geschichtspolitik, Historikern und Künstlern . . . die quasi eine Geschichts-Außenpolitik betreiben, sich auf Geschichtsbilder ihrer Nachbarn beziehen und auf deren künstlerische Artefakte reagieren“ (S. 3).

Rudolf Jaworski setzt sich mit den methodischen Problemen auseinander, die die kultur- und politikgeschichtlich orientierte Gedächtnis- und Erinnerungsforschung für die herkömmliche Historiographie mit sich gebracht hat, die sich am Rankeschen Ideal des „Erzählen, wie es eigentlich gewesen ist“, orientiert und nicht ohne Grund eine Aufweichung der Grenzen zwischen handwerklich-sauberer Aufarbeitung der Vergangenheit und deren Instrumentalisierung in der Politik und Inszenierung in den Gedächtniskulturen befürchtet. Nur eine scharfe begriffliche Trennung schaffe hier Abhilfe. Andererseits sieht Jaworski Chancen für die traditionelle Historiographie gegeben, ihren Horizont zu erweitern, indem sie sich den neuen Fragestellungen öffnet, die durch die Ergebnisse der Gedächtnisforschung angesprochen werden.

In den zwölf weiteren Beiträgen des Bandes werden höchst unterschiedliche Themenkreise angesprochen: Erinnerungsorte (Lemberg und Wilna - Anna  V. Wendland, Danzig - Peter O. Loew, Jüdische Erinnerung (Provinz Posen -Thomas Serrier, Jedwabne - K. Ruchniewicz), Vertreibungen (Danzig - P. O. Loew, Zentrum gegen Vertreibungen - St. Troebst), Führerfiguren  (Tadeusz Kościuszko - Halina Florkowska  - Frančić, Napoleon I - Katarzyna Różańska), und vor allem Schlachten und Aufstände  (Racławice - Marek Zybura, Grunwald - Rimvydas Petrauskas und Darius Staliūnas sowie Lars Jockheck und Frithjof B. Schenk, Warschau 1944 - Edmund Dmitrów). Die hier vorgenommene Kategorisierung weist mehrfach Überlappungen auf, etwa im Beitrag von P. O. Loew über Vertriebene in und aus Danzig—ein Hinweis auf die Verflochtenheit der Erinnerung nicht nur in dieser Stadt.

Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, auf alle Beiträge gesondert einzugehen. Ich möchte mich daher auf diejenigen beschränken, die Themen aufgreifen, die nicht nur derzeit aktuell sind, sondern von denen auch erwartet werden kann, dass sie in naher Zukunft für Schlagzeilen in den Medien Polens und seiner Nachbarländer, möglicherweise auch zu politischen Interventionen führen werden.

Da wäre zuerst einmal das Thema „Vertreibungen und Vertriebene“ zu nennen. P. O. Loew zeigt in seinem Beitrag über Danzig, wie allmählich mit dem Aussterben der „Erlebnisgeneration“ auch die Traumata verblassen, die Flucht, Zerstörung und Vertreibung bei den deutschen Danzigern, Zwangsaussiedlung bei den Wilnaer Polen, die sich (als Minderheit) in Danzig nach dem Kriege niedergelassen hatten, und eine zu neunzig Prozent zerstörte Stadtlandschaft, deren letzte „brauchbare“ Teile (Hafen- und Industrieanlagen) von den Sowjets als Kriegsbeute abtransportiert wurden, bei allen Zuwanderern hinterlassen hatten, und dass diese Traumata allmählich einer Versöhnung „über Gräben und Gräber hinweg“ Platz machen, die zu optimistischen Hoffnungen Anlass gibt.

St. Troebst zeigt ein anderes Bild in seinem kenntnisreichen Beitrag zur Geschichte des neuesten deutsch-polnischen Vertreibungsdiskurses, ausgelöst durch den Vorstoß des Bundes der Vertriebenen im Jahre 2000, ein—nationales—Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin einzurichten. Versuche von deutscher Seite—unterstützt von einer Gruppe polnischer Intellektueller—dem Konflikt die Spitze zu nehmen und statt dessen ein dezentrales „Europäisches Netzwerk Zwangsmigration und Vertreibungen“ zu gründen, stießen vor allem in Polen unter der rechtsnationalenKaczyński-Regierung  auf konsequente Ablehnung, wobei man sich vor allem an dem Wort „Vertreibung“ störte, das man zwar auf die eigenen Landsleute anwendet, die unter der deutschen Besatzung aus dem „Warthegau“ und der Region um Zamo?? vertrieben wurden, nicht aber auf die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zwangsweise ausgesiedelten Deutschen angewandt wissen möchte. Auch die tschechische Seite störte sich an dem Wort „Zwangsmigration“, und Ende 2006 wurde das Projekt stillschweigend auf Eis gelegt.

Die daraufhin im Alleingang betriebene „kleine Lösung“ einer deutschen Stiftung Sichtbares Zeichen, im Koalitionsvertrag 2005 festgeschrieben, stieß in Polen ebenfalls auf prinzipielle Ablehnung[4] wie Troebst zeigt, und die polnische Medienkampagne 2009 gegen einen Sitz für Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen und Ideengeberin des Projektes, im Stiftungsbeirat lässt für die Zukunft der Stiftung nichts Gutes erwarten. Es wird wohl noch viel Wasser die Spree und die Weichsel hinab fließen müssen, bis auch auf der staatspolitischen Ebene das gelingt, was auf kommunaler und Vereinsebene seit langem zwischen Deutschen und Polen möglich ist und wofür das Beispiel Danzig stehen mag.

Ein zweites heißes Thema ist das polnisch-jüdische Verhältnis nach Auschwitz. Es ist bis heute geprägt von divergierenden master narratives. Das polnische stellt die Leiden und das opfermutige Heldentum der eigenen Nation unter der deutschen Besatzungsherrschaft in den Vordergrund. Es macht den Juden „die Goldmedaille in der Olympiade der Opfer“ (Peter Novick) streitig und sieht die eigenen Landsleute als ein Volk von edlen Judenrettern. Das jüdische master narrative hingegen stellt die generelle Passivität der Polen gegenüber dem Schicksal ihrer jüdischen Mitbürger in den Vordergrund und sieht die Polen als Profiteure des Holocaust, sei es als szmalcownicy, die ihren jüdischen Nachbarn für einen Liter Wodka und 100 Zigaretten an die Deutschen verrieten, sei es als Personen, die sich Eigentum und Grundbesitz der ermordeten Juden wie selbstverständlich aneigneten. Hinzu kommt, dass Polen das einzige europäische Land ist, in dem antijüdische Pogrome nach Kriegsende stattfanden—wachgehalten in der jüdischen Erinnerung (siehe etwa den Film Defamation, Israel 2009), jedoch weitgehend verdrängt in der polnischen.

Ein besonders schmerzliches Kapitel für Polen und Juden sind die Pogrome, die sich im Juli 1941 im Łomża-Gebiet unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen ereigneten.[5] Das bekannteste ist das von Jedwabne, wo am 10. Juli 1941 die polnischen Bewohner des Kleinstädtchens die gesamte jüdische Bevölkerung des Ortes, etwa 600 Personen, mit Knüppeln und Äxten totschlugen oder in einer Scheune bei lebendigem Leibe verbrannten.[6] Die verbrecherische Tat wurde nach Kriegsende den Deutschen angelastet—ein erst im Jahre 2001 durch einen anderen ersetzter Gedenkstein aus den 1960er Jahren nannte „Gestapo und Nazi-Gendarmerie“ als Täter und eine deutlich überhöhte Zahl von Opfern (1600).

K. Ruchniewicz zeichnet in seinem Beitrag die durch das Buch Sąsiedzi (Nachbarn) des polnisch-amerikanischen Soziologen Jan T. Gross im Jahre 2000 in der polnischen Öffentlichkeit ausgelöste heftige Debatte um „Jedwabne“ nach. Zwischen die extremen Positionen des „affirmativen“ Bußfertigen, vertreten in erster Linie in journalistischen und kirchlichen Kreisen, und des „Jedwabne-Leugners“[7], vertreten hauptsächlich in der politisch einflussreichen katholisch-nationalistischen Rechten, stellt er die „defensiven“ Positionen vor, die meist von Fachhistorikern vertreten werden. Diese werfen Gross zwar gewisse methodische Mängel vor, streiten aber das Ereignis selbst sowie die entscheidende Beteiligung der polnischen Bevölkerung nicht ab. Im Laufe der emotionalen in den Medien geführten Diskussion zeichnete sich, nach Ruchniewicz, ein Trend in der polnischen Gesellschaft ab, sich diesem dunklen Kapitel der eigenen Geschichte zu stellen und es nicht wie bisher zu verdrängen oder—in traditioneller Manier—die Schuldigen anderswo zu suchen. Es wäre in diesem Zusammenhang sicher interessant gewesen, auch zu untersuchen, wie die deutsche Öffentlichkeit auf die polnische Jedwabne-Debatte reagiert hat und ob es Rückwirkungen auf die Diskussion in Polen gab.

Die durch das Erscheinen eines weiteren Buches von Jan T. Gross, Strach – Antysemitism w Polsce tuż po wojnie (Angst – Antisemitismus im Polen der unmittelbaren Nachkriegszeit) im Jahre 2008 in Polen ausgelöste Debatte um das Pogrom von Kielce (4. Juli 1946, über 40 Tote) gibt jedoch wenig Anlass zu Optimismus. Akademische und religiöse Vertreter der nationalen Rechten (Prof. Jerzy R. Nowak, Pater Tadeusz Rydzyk von Radio Marya) ergriffen lautstark das Wort und schürten in der polnischen Öffentlichkeit die Angst vor jüdischen Restitutionsforderungen, die zwar im Moment nicht aktuell, jedoch keineswegs vom Tisch sind, und lösten eine neue Welle antisemitischer Agitation aus. Sollte (wie zu erwarten) die Jewish Claims Conference sich eines Tages erneut zu Wort melden, sind wieder heftige Reaktionen seitens der Medien und einiger Politiker in Polen zu erwarten.

Als letztes sei hier an die Schlacht von Grunwald (polnisch), Žalgiris (litauisch) oder Tannenberg (deutsch) am 15. Juli 1410 erinnert, in der ein multinationales Heer, überwiegend aus polnischen und litauischen Kämpfern, dem Deutschen Orden eine verheerende Niederlage beibrachte, die dessen Abstieg einleitete. Schon die unterschiedlichen Namen deuten auf differierende Geschichtsbilder hin, und kein anderer Beitrag in dem vorliegenden Sammelband arbeitet so gründlich und anschaulich die gegenseitige Verflechtung nationaler Geschichtsmythen und –erinnerungen heraus wie der von Petrauskas und Staliūnas über die Schlacht von Tannenberg/Grunwald/Žalgiris.

Mit gewissem Recht jahrhundertelang weitgehend in Vergessenheit geraten[8], wurde die Schlacht durch die Nationalbewegungen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum Symbol erhoben: in Deutschland für die „Deutsche Zwietracht“, die angeblich Schuld an der Niederlage des Ordensheeres war, in Polen für die „Bruderschaft der slawischen und baltischen Völker“, die unter der Führung Polens den deutschen „Drang nach Osten“ stoppte, und in Litauen mit einer stark antipolnischen Komponente, die dem litauischen Großfürsten Vytautas (polnisch Witold) das entscheidende Verdienst an dem von den Polen angeblich usurpierten Sieg zuschrieb.

„Tannenberg“ erlangte im Ersten Weltkrieg erneut symbolische Bedeutung für die deutsche Geschichtsmythologie durch den Sieg über die russische Invasionsarmee am 30. August 1914, interpretiert als Stopp des russischen „Dranges nach Westen.“ Ab Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts nahmen sowjetische Historiker das Thema „Grunwald“ auf, strichen den Beitrag der Smolensker Regimenter als „siegentscheidend“ heraus, machten die Mehrzahl der Kämpfer gegen das Ordensheer zu „Russen“ und stellten „Grunwald“ in den aktuellen historischen Kontext des Kampfes der Sowjetunion mit Nazi-Deutschland. Nach Kriegsende wurde „Grunwald“ in der Sowjetpropaganda zum Vorbild für die unverbrüchliche Solidarität der Völker der Warschauer Pakt-Staaten mit der Sowjetunion. Es fehlte auch nicht der Hinweis auf Adenauers Politik „als eine Art Fortsetzung der Kriegszüge des Deutschen Ordens“ (S. 135). Getreu der marxistischen Auffassung, dass die Geschichte eine solche der Klassenkämpfe sei, wurde die Schlacht von Grunwald auch als Sieg der—slawischen und baltischen—Bauernmassen über die—deutschen und mit ihnen verbündeten—Feudalherren gedeutet.

Gegen Ende ihres Beitrages konstatieren die Autoren nach dem Fall des Kommunismus in ihrem Lande ein allmähliches Verblassen der Erinnerungskraft des Žalgiris-Bildes in Litauen und prognostizieren ein allmähliches Verschwinden des Mythos. Für Polen, wo schon seit langem Vorbereitungen zur Feier des 600. Jahrestages der Schlacht von Grunwald am 15. Juli 2010 im Gange sind, deuten jedoch alle Anzeichen darauf hin, dass der Mythos reanimiert wird und dass, wie schon in früheren Jahren, interessierte Kreise die Gelegenheit nutzen werden, antideutsche Ressentiments zu schüren und daraus politisches Kapital zu schlagen.

Selbstverständlich sind nicht nur die oben ausführlich besprochenen, sondern auch die übrigen Beiträge des Sammelbandes lesenswert, geben sie doch anschauliche und mit vielen Details versehene Beispiele für die Verflochtenheit geschichtspolitischer Diskurse von Völkern, die seit Jahrhunderten in enger Nachbarschaft leben. Mit Mitteleuropa und seiner wechselvollen und konfliktreichen Geschichte haben die Autoren ein besonders geeignetes Studienfeld gewählt. Eines, für das es mit Sicherheit noch lange kein „Ende der Geschichte“ (F. Fukuyama) geben wird.



[1] Ein amerikanischer Student würde vermutlich den 7. Dezember 1941 (Pearl Harbor), ein chinesischer den 7. Juli 1937 (japanischer Angriff) nennen, und beide das kaiserliche Japan als Schuldigen benennen.
[2] Die Eingliederung Polens in den sowjetischen Machtbereich 1945-1989 wird heute weitgehend als eine „Zweite Okkupation“ nach der deutschen (1939-1945) angesehen.
[3] Das „Institut des Nationalen Gedenkens“ (Instytut Pamięci Narodowej, abgekürzt IPN) ist eine 2000-Mann Behörde, die zusammen mit dem „Rat zum Schutze des Gedenkens an die Kämpfe und das Martyrium“ (Rada Ochrony Pamięci Walk i Męczeństwa), einer Unterabteilung des Kultusministeriums, für die politisch korrekte Interpretation der jüngsten polnischen Geschichte und deren Repräsentation im öffentlichen Raum verantwortlich ist. Die russische politisch-literarische Zeitschrift Ogonjok bezeichnete in ihrer Ausgabe vom 12. Februar 2007 das IPN—in Anlehnung an George Orwells 1984—als „polnisches Wahrheitsministerium“.
[4] Unter massivem innenpolitischem Druck lehnte die polnische Seite das deutsche Angebot ab, Vertreter in das Planungsgremium und den Stiftungsbeirat zu entsenden.
[5] Analoge Pogrome, die insgesamt viele Tausende Tote forderten, fanden auch in den baltischen Staaten und der Ukraine statt. Polen ist also (leider) kein Sonderfall.
[6] Gleichartige Pogrome mit der vollständigen Vernichtung der einheimischen Bevölkerung ereigneten sich in den Nachbarorten Wąsosz (5. Juli, ca. 150 Opfer) und Radziłow (7. Juli, ca. 500 Opfer).
[7] Von mir in Anlehnung an den Begriff „Holocaust-Leugner“ gewählte Formulierung.
[8] Die Sieger waren nicht in der Lage, den militärischen Erfolg adäquat in einen politischen umzumünzen—dies geschah erst nach vielen weiteren Kämpfen im 2. Thorner Frieden 1466, der das Ende des Ordensstaates besiegelte.


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