Dominik Bertrand-Pfaff

 

Der Status der Erfahrung in einer theologischen Ethik der Institutionengenese [*]

Im Lehrbuch Christliche Sozialethik bestimmt Drösser Institutionen als „zweite Natur“ [1] des Menschen. Sie seien Objektivationen menschlichen Planens, wobei sich Erfahrungen in institutionalisierten Plänen bündeln, die Lösungen verallgemeinern. [2] Die Verbindung, die Drösser hier zwischen Institution und Erfahrung zieht, scheint zunächst erstaunlich zu sein, wird von Erfahrung doch meist im individuellen Bereich gesprochen. Wie ist diese Verbindung in sozialethischer Perspektive zu verstehen? Die Grundlage, auf der zu dieser Frage zu arbeiten ist, ist die Bestimmung der Sozialethik als Institutionenethik, die von vielen Sozialethikern katholischer Provenienz geteilt wird:

„Das Charakteristische sozialethischer Zugangsweisen ist also die Frage nach einer Institutionenethik. Eine Institutionenethik sieht das Handeln unter ethischem Aspekt, soweit es Institutionen erhält, gestaltet und verändert. Institutionen sind zwar keine Verantwortungssubjekte, wohl aber zurechenbare Verantwortungsträger und Verantwortungsobjekte.“ [3]

Nach dieser Bestimmung müsste sich demnach die Erfahrung auf eine ethische Art und Weise auf Institutionen beziehen. Wie kann nun aber die Erfahrung auf die Sozialethik als Institutionenethik bezogen werden? Um auf diese Frage eine mögliche Antwort zu finden, bietet sich folgendes Vorgehen an: es muss zunächst einmal darum gehen, den Erfahrungsbegriff in einem theologisch-ethischen Kontext genauer unter die Lupe zu nehmen. In einem zweiten Schritt soll dann ein Verständnis von Institution mit Bezug auf die Erfahrung entwickelt werden, das in einem dritten Schritt mit dem zuerst entworfenen Erfahrungsmodell kombiniert werden soll. Daraus ergibt sich idealiter eine Art theologisch-ethische Grammatik sozialer Instituierung. Die Ausführungen sind auf dem Hintergrund der Basisinstitutionen von Sprechen und Handeln zu sehen. [4] Diese sind nicht nur als Orte von Syntax, Grammatik oder Handlungsabläufen zu verstehen, sondern als Träger von Sinnhorizonten, in denen sich Erfahrungen bündeln.

Erfahrung im theologisch-ethischen Kontext

Als Vertreter einer experientiellen Ethik hat Mieth sich intensiv mit dem Erfahrungsbegriff auseinandergesetzt. Er stellt zunächst dar, wie sich eine Entwicklung in der Ethik von der Reflexionstheorie der Ethik hin zur ethisch relevanten Erfahrung vollzogen hat. Grundlage ist hierbei, dass sich Grundüberzeugungen durch Erfahrungen bilden, die in den Elementen „Wahrnehmung“, „Erlebnis“ und „Begegnung“ gründen. [5] Er schreibt,

„dass wir von ‚Erfahrung’ etwas doppeldeutig reden: Einmal meinen wir mehr das ereignishafte Material oder das aktuelle Geschehen, bzw. die Einzelheit einer ‚Erfahrung’; ein andermal meinen wir eher die Summe, die wir daraus ziehen, d.h. die ‚Erfahrenheit’. ‚Erfahrung’ schwankt zwischen Punktualität und Ganzheitlichkeit.

Offensichtlich reden wir aber noch nicht von Erfahrung, solange nicht eine verarbeitende Aneignung erfolgt ist. Wer eine Erfahrung macht, hat z.B. vorher auf einer Reise (Erfahrung kommt von ‚fahren’) etwas erlebt. Dieses Erlebnis wird aber erst zu einer Erfahrung, wenn es durch die Bedeutung, die ihm die Betroffenheit und die Erinnerung gibt, durch die Versprachlichung im Bewusstsein und durch die Annäherung an Begriffsbildungen aufgeschlossen wird.“ [6]

Erfahrungen bedürfen der Verarbeitung: Die Verarbeitung der Erfahrung geschieht durch Integration, gesellschaftliche Vorleistungen (begünstigt durch Autonomie, Konfliktfähigkeit und Kooperationsfähigkeit) und „durch die Vernunft. Weckung des Intellekts und sein eigenständiger Gebrauch ist ein richtiges Programm der ‚Moderne’“. [7] Erfahrung ist somit bereits vom Vernunftgebrauch geprägt, der diese strukturiert. Dies ist auch bei den Erfahrungsbereichen von Bedeutung, die man nach Mieth wie folgt unterscheiden kann: zunächst die ästhetische, dann die moralische und schließlich die religiöse Erfahrung, wobei sich erstere auf die Kunst, die moralische Erfahrung auf unsere Praxis in Freiheit und letztere auf die Religion bzw. den Glauben bezieht. Die Rationalität der einzelnen Erfahrungen ist demnach entweder ästhetisch, religiös oder moralisch geprägt. Übereinstimmung zwischen den einzelnen Erfahrungsbereichen gibt es dahingehend, dass Erfahrungen immer neuer Erfahrungsimpulse bedürfen: Sinnerfahrung („etwas geht mir auf“), Kontrasterfahrung („etwas geht so nicht“) und Motivationserfahrung („etwas geht mich an“) sind von den destruktiven Erfahrungen zu unterscheiden, welche wären: nivellierende, distanzierende, absurde, in der Negation noch vom Negativen her bestimmte Erfahrungen. [8] Nach Mieth entsteht „Kontrasterfahrung als Moment der sittlichen Lebenserfahrung […] aus den Differenzen sozial vorgegebener Wertmuster, sei es den Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sei es den Differenzen in der Werteinsicht selbst. Bewährt sich in dieser Differenz ein Wert als ‚sinnvoll’ für das Gelingen des sittlichen Lebensvollzugs, dann wandelt sich die Kontrasterfahrung in eine sittliche Sinnerfahrung. […] Beruht die Kontrasterfahrung auf Divergenz, so beruht die Sinnerfahrung auf Konvergenz“. [9]

Sinnerfahrung könne man als Möglichkeitserfahrung verstehen, die nicht auf abstrakter Erkenntnis, sondern auf praktischer Bezeugung beruhe. Dabei konkretisiere sich die sittliche Sinnerfahrung in ethischen Modellen, „d.h. in praktisch gelebten Förderungsgestalten des Sittlichen unter gegebenen Handlungsdispositionen und Handlungsbedingungen“. [10] Die Motivationserfahrung ist stark mit der Intensität der Betroffenheit und der Aneignung von Sinnerfahrungen verbunden. So entscheide die Aneignung der Überzeugung im Handeln erst retrospektiv über die Bewährung von Kontrast- und Sinnerfahrung als sittliche Erfahrungen und sie mache „diese Erfahrungen erst zu dem, was sie sind. Denn das Wesen des Sittlichen ist Änderung des Seins, nicht bloß Änderung des Sinnes“. [11] So bilde sich die sittliche Verantwortung in der Schnittstelle der o.g. Erfahrungen. „Kompetente Lebenserfahrung hat also die Bedeutung, die sittliche Person als Träger ihrer Handlungen zu konstituieren. Lebenserfahrung und Personwerdung sind prozesshaft ineinander verschränkt.“ [12] Grundlage ist hierbei, dass sich Grundüberzeugungen durch Erfahrungen bilden, die in den Komponenten „Wahrnehmung“, „Erlebnis“ und „Begegnung“ gründen. Dabei ist die Ebene der Erfahrung eine, die zwischen denjenigen der Wirklichkeit und der Praxis anzusiedeln ist. Diese sind nach Mieth jeweils geprägt von der auf sie bezogenen Wahrnehmung, von dem auf sie bezogenen Erlebnis und von der auf sie bezogenen Begegnung. Mieth widmet sich insbesondere der Klärung der Ebene der Erfahrung. [13] Erfahrungen bedürfen weiterhin der Beratung, Begleitung und Begegnung sowie eines Raumes, in dem sie reifen können. Diesen Erfahrungsraum stellen in der Regel soziale Institutionen bereit, die damit zugleich ein Raum für „Wahrnehmung“, „Erlebnis“ und „Begegnung“ sind. [14] Erfahrung hat, Mieth zufolge, sowohl subjektive als auch objektive Seiten: vom subjektiven Urteil bis hin zu objektiven Bestandteilen, die intersubjektiv Nachprüfbares enthalten, wie „die nachgewiesene Umsicht, die Konsistenz des Vorgehens [sic!], die Kommunikabilität der Entstehung von Erfahrungen“. [15] Mieth versucht auf diese Weise, ethische Abwägungen einerseits subjektiver Bewertung zu unterstellen, andererseits aber auch zu zeigen, wie legitim das „Urteil der Kommunikabilität in seiner politisch geschichtlichen Dimension“ [16] an dieser Stelle sein kann.

Erfahrung und Institutionalisierung

Die Ansätze in der Sozialphilosophie oder Soziologie, die den Aspekt der Erfahrung auf Institutionen beziehen, sind überschaubar und insbesondere auf Vertreter der Wissenssoziologie, der Sozialphänomenologie, des Pragmatismus und der kritischen Theorie beschränkt. [17] Kennzeichnend für diese ist die Tatsache, dass sie der Institutionengenese große Bedeutung zumessen, insofern sie die Verschränkung von Subjekt und Objekt dieses Prozesses integriert. [18] Dabei können in aller Kürze folgende zentralen Begriffe der einzelnen Denker herausgeschält werden, nimmt man die Ansätze unter die Lupe der Erfahrung:

Castoriadis, ein exponierter Vertreter bezüglich unserer Fragestellung, stellt die Zeit als einen zentralen Begriff für die Institutionengenese in den Mittelpunkt: So ist der zentrale Aspekt der Genese sozialer Institutionen nach Cornelius Castoriadis das „instituierende Imaginäre“. [19] „Hervorgebracht werden diese imaginären Sinnhorizonte, die wie ‚unsichtbarer Zement’ die sozialen Deutungsmuster einer Epoche zusammenhalten in immer neuen Akten der Sinnschöpfung.“ [20] Nach Castoriadis gebe es eine solche Zeit des radikal Neuen nur, „wenn das, was auftaucht, nicht schon [...] im Seienden bereits vorhanden war. Eine solche Zeit gibt es nur, wenn das Neue nicht bloß Aktualisierung eines vorherbestimmten Potentiellen ist.“ [21] Dabei geht Castoriadis auch über das klassische Praxisverständnis hinaus, wenn er Praxis nicht nur durch den Vollzugscharakter, sondern zugleich „durch eine besondere Form des handlungsorientierenden Wissens als auch durch einen immanenten Bezug auf die Autonomie des Individuums gekennzeichnet“ [22] sieht. So nehme im tätigen Vollzug der Praxis das Wissen die Gestalt eines Entwurfs an, der nach Maßgabe der praktischen Erfahrungen ständig korrigiert und erweitert werden kann“. [23] Es geht Castoriadis um die „kontinuierliche Erweiterung einer vorgriffshaften Erkenntnis im experimentierenden Vollzug des Handelns“ [24] , als Bezugsmuster von Wissen und Tun.

Berger und Luckmann als repräsentative Vertreter der Wissenssoziologie fokussieren den Erinnerungsbegriff in Bezug auf die Institutionengenese: für sie stellt die Sedimentbildung einen wichtigen Aspekt der Institutionalisierung dar. „Das Bewußtsein behält nur einen geringen Teil der Totalität menschlicher Erfahrung. Was es behält, wird als Sediment abgelagert, das heißt: die Erfahrung erstarrt zur Erinnerung und wird zu einer erkennbaren und erinnerbaren Entität.“ [25] So finde intersubjektive Ablagerung dann statt, „wenn mehrere Menschen einen gemeinsamen Lebenslauf haben und ihre Erfahrungen einem gemeinsamen Wissensbestand einverleiben. Intersubjektive Erfahrungsablagerungen können nur dann als gesellschaftlich bezeichnet werden, wenn ihre Objektivation mit Hilfe eines Zeichensystems vollzogen worden ist, das heißt, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, die Objektivation gemeinsamer Erfahrung zu wiederholen.“ [26]

Der Pragmatismus, wie er im Ansatz von Joas vertreten wird, übernimmt noch einmal den Aspekt des Imaginären: Wie Castoriadis setzt Joas bei der Kreativität und dem Imaginären in der Genese sozialer Institutionen [27] an, um sich im gleichen Atemzug von Konstitutionstheorien und Differenzierungstheorien [28] sozialer Institutionen abzugrenzen: „Die Entstehung typischer Institutionen [...] wird nicht als unumgängliche Notwendigkeit gedeutet, sondern als kontingente Innovation mit unintendierten Folgewirkungen aufgefaßt. Solche institutionellen Innovationen aber greifen auch auf kulturelle Gehalte zurück. Wir haben deshalb Schlüsselbegriffe der gesellschaftlichen Entwicklung immer auch als imaginäre Schemata aufzufassen: [...] Deutung und Selbstdeutung des Handelns und seiner Verflechtung durch die Handelnden und ihre Beobachter.“ [29] Seinen Ansatz versteht er indes als „einen Anstoß zu einer tiefgehenden Revision unserer Vorstellungen von Moralität und Normativität“[30] , welcher darin besteht,

„Differenzierungsprozesse als das Resultat von Institutionalisierungsprozessen zu betrachten, die weder ausschließlich eine Emanation semantischer Wandlungsprozesse noch eine Folge sozialstruktureller Veränderungen sind. Wir müssen sie vielmehr auf individuelle und kollektive Erfahrungen und auf die Artikulation und Interpretation dieser Erfahrungen zurückführen“. [31]

Honneth und vor ihm Siep führen den Begriff der Anerkennung in die Institutionengenese ein: Institutionengenese ist eng mit Erfahrungen der Missachtung und der Anerkennung verbunden. „Anerkennungsverhältnisse sind [...] der historischen Genese derjenigen Institutionen, in denen sie sich manifestieren, immanent und erfahren zugleich im Prozess ihrer Realisierung Bedeutungsverschiebungen und -anreicherungen. [...] Damit eignet sich das Prinzip Anerkennung als Kern einer zugleich normativen und genetischen Theorie sozialer Institutionensysteme. Es fungiert als kritischer Maßstab des Bestehenden, der gleichwohl nicht deduziert, sondern aus einer Erfahrungsgeschichte gelingender und scheiternder Anerkennung, wie Hegel sie unter dem Gesichtspunkt der Anerkennung erörtert [...], in geschichtlichen Prozessen gewonnen wurde.“ [32] Der Erfahrungsbegriff wird von Siep als zentraler Begriff der Jenaer Zeit betrachtet, dem aber auch weiterhin Bedeutung zukommt. So stellt das Prinzip der Anerkennung ein Element für eine Grundlegung eines nicht-teleologischen Erfahrungsbegriffs dar als die „genetische Darstellung des Prinzips, das festlegt, welche Erfahrungen, die sich in Institutionenänderungen niederschlagen, als ‚Fortschritt’ anzusehen sind: des Prinzips der Anerkennung“. [33]

In der Perspektive von Institution und Erfahrung tragen die o.g. Disziplinen damit folgende Elemente bei: so fokussiert die Wissenssoziologie Erinnerung und Sedimentierung, die Phänomenologie ebenfalls den Zeitaspekt und darüber hinaus die Kraft der Imagination, welche der Pragmatismus ebenfalls hervorhebt, während die kritische Theorie den Aspekt der Anerkennung stark macht. Reichert man den experientiellen Ansatz eines Dietmar Mieth mit den zentralen Begriffen der Wissenssoziologie, der Phänomenologie, des Pragmatismus und der kritischen Theorie an [34] , die diese mit der Institutionengenese verbinden, ergibt sich folgendes Schaubild [35] :

Anerkennung

Subjekt                                                         Erinnerung                  Institution

Zeit

Nach dieser Skizze werden drei konstitutive Elemente der Institutionengenese deutlich: erstens die Basiskategorie der Zeit, dann darauf aufbauend die zentrale Kategorie der Erinnerung und schließlich diejenige der Anerkennung. Die Erinnerung erweist sich hier, wie bereits eingangs erwähnt, als die zentrale Intentionalität nicht nur deshalb, weil sie eine zentrale Stellung sowohl zwischen Subjekt und Institution, sondern weil sie diese auch zwischen Zeit und Anerkennung einnimmt und an beiden partizipiert.

Theologisch-ethische Grammatik

Die Begriffe, die für die Genese sozialer Institutionen eine Rolle spielen (Subjekt, Zeit, Erinnerung, Anerkennung, Institution) sind Begriffe, die auch im normalen ethischen Tagesgeschäft auftauchen. Wichtig scheint hier eher die Konstellation zu sein, in der sie stehen. Wenn letztlich alle menschlichen Haltungen und Äußerungen ethisch relevant sind (Beispiel: „Denken ist Mit-leiden“ [36] ), dann können auch die vorgestellten intentionalen Ebenen der Instituierung mit einem ethischen Anspruch ausgestattet werden. V.a. ist die Konstellation, in der sie stehen, von Bedeutung, da diese eine Reflexion über gesellschaftliche Strukturen beinhaltet. Diese Reflexion gestaltet sich meist in Form einer Transzendierung bereits vorhandener Strukturen, indem letztere jedoch in diesen Transzendierungsvorgang mit einbezogen und auf eine neue Ebene gehoben werden. Der intentionale Akt der Instituierung als ein ethischer Akt geht noch von den hier heuristisch zwar getrennten, im Akt der Instituierung jedoch ungetrennten Ebenen aus, die dann im Hinblick auf die Ethik der Institution zu der je eigenen Schwerpunktsetzung führen. So könnte die o.g. Skizze wie folgt erweitert werden:

Anerkennung                     Sedimentierung (Institution)

Kampf um

Imagination                                                             Erinnerung

(Subjekt)

 

aufblitzende

 

Zeit/Erinnerungsfundus

Die Verknüpfung von Institutionengenese und Erinnerung erhält hier eine andere Bedeutung, insofern Institutionengenese in die Dialektik von selektivem, institutionalisiertem Gedächtnis und durch Diskontinuität gekennzeichneter Erinnerung eingespannt ist.

Welche konkrete Konstellation [37] ergibt sich jedoch, wenn man das Ausgeführte auf die Lebenswelt bezieht? Nach Mieth kann dabei folgendes Verständnis der Hermeneutik weiterhelfen: „Die Hermeneutik ersetzt die Begründung nicht, gibt ihr aber die richtige Stelle des Einsatzes an, besorgt ihr einen ‚Sitz im Leben’ bzw. in der Lebenswelt.“ [38] Auf welche Weise kann sich nun dieser Einsatz vollziehen? Es wird vorgeschlagen, die Komponenten der Erfahrungsbasis als „die richtige Stelle des Einsatzes“ zu interpretieren, sodass eine Kombination der Elemente der Institutionengenese mit den Komponenten der Erfahrungsbasis eine Grammatik sozialer Institutionengenese entstehen lässt. Kombiniert man also die Elemente sozialer Institutionengenese mit den hermeneutischen Komponenten der Erfahrungsbasis, so ergeben sich folgende formale Zuordnungen in einer Grammatik sozialer Institutionengenese:

Wahrnehmung                                     Erlebnis                                         Begegnung


Zeit                                             Diskontinuität                                     Intensität                                      Kontinuität

Erinnerung                                 ‚Heimsuchung‘                                   Erfahrung                                     Erzählung

Anerkennung                             W. fremden Leids                                Compassion                                  Solidarität

Vor diesem Hintergrund wird Kombinatorik hier verstanden als ein Verbinden und Zusammenführen von aus dem Vorverständnis kritisch gewonnenen Elementen mit den Komponenten der

Erfahrungsbasis einer hermeneutischen Ethik. [39] Das auf diese Weise

„gewonnene Vorverständnis soll mit den Konstitutiva einer hermeneutischen Ethik so kombiniert werden, dass daraus eine Grammatik der Genese sozialer Institutionen entfaltet werden kann. Diese Entfaltung schreibt sich ein in die Denkrichtung einer ‚kombinatorischen Theologie‘, ‚die als Grammatik von Veränderungen die riskante, selbsthafte Aneignung religiöser Traditionen am Ort ihrer institutionellen Präsentation ‚diszipliniert‘‘.“ [40]

Der Vorteil des hier vorgestellten Ansatzes ist die Transparenz, die erhellt, wie sehr und auf welche Weise das Vorverständnis in die Arbeit der hermeneutischen Vernunft und hermeneutischen Ethik Eingang findet und in sie hineinragt. Kombinatorik wäre demnach ein inneres Merkmal, das den Bereich zwischen Vorverständnis und eigentlicher hermeneutischer Arbeit aufdeckt. [41]

3.1. Die Spalte der Wahrnehmung kennzeichnen v.a. Elemente der Diskontinuität, die auch den Einsatz einer neuen Institution kennzeichnet. Diese findet auf der Ebene der Zeit, des Selbst und im Bezug zum Anderen statt. Diese Spalte kann der Kontrasterfahrung zugerechnet werden. Die Zuordnung der Diskontinuität zu dem Element der Zeit und der Komponente der Wahrnehmung erfolgt aus dem Bewusstsein, dass Neues nur aus einer Durchkreuzung zeitlicher Homogenität entstehen kann. Diese Durchkreuzung liegt in einer Infragestellung des Selbst, des Anderen oder der sozialen Strukturen begründet. So stehen auch zu Beginn eines jeden Institutionalisierungsversuches ein Ereignis oder Entwicklungen, die bisherige Plausibilitätsstrukturen in Frage stellen. Unter letztere fallen insbesondere Zeitstrukturen. Die Diskontinuität steht demnach am Anfang einer jeden (Neu-) Instituierung, insofern sie in bestehende (Plausibilitäts-, Zeit-, Sprach- oder Handlungs-) Strukturen einbricht und Maßstab nimmt an unausgeschöpften Möglichkeiten, die in diesen Strukturen über die real existierenden hinausweisen. Benjamin führt in der XV. These zur Geschichte eine Episode aus der Französischen Revolution an, in der man auf die läutenden Kirchenuhren schoss, um die Zeit stillstehen zu lassen [42] – die Zeit, die die herrschende Klasse, Adel und Geistlichkeit, der unterdrückten Klasse als Maßstab gegeben habe. Stillstellung der Zeit bedeute dann folglich das Brechen der Herrschaft. Der größte Feind der herrschenden Ideologie des Fortschritts wäre demnach, wenn die Zeit aufhörte. Dies tue sie dann, wenn Ereignisse einträten, die den Fortlauf in Frage stellten, das heißt Diskontinuitäten. Nur diese vermögen die Zeit still stehen zu lassen und die Kontinuität des Fortschritts zu durchbrechen. Letzterer sei nicht deshalb anzugreifen, weil er in einer Katastrophe ende, sondern weil er trotz der Katastrophen, die er hervorbringt, weitergehe. [43] Diese Diskontinuität führt zum Beginn einer neuen Sinnzeit, die zugleich einhergeht mit einer geänderten Wahrnehmung, oder einer passiven Offenheit dem Anderen gegenüber. [44] Dies geht so weit, dass die Zeit des göttlichen Anderen für Levinas ‚absolut’ im Sinne von transzendent zu bezeichnen ist. „Da sie nicht in die Horizonte unseres Zeitbewußtseins eintritt, kann sie nicht zu einem Objekt von Protentionen und erwartenden Intentionen werden.“ [45] So sei das Eschaton eine metaphysische Zukunft, da „sie durch ein unendliches Intervall von unserer Zeit […] getrennt“ [46] und deshalb zugleich im Bereich einer metaphysischen Ethik anzusiedeln ist. In ihr nehme „die Konvergenz von Sittlichkeit und Wirklichkeit“ [47] konkrete Gestalt an: „die Gestalt einerseits meiner Nähe zum Anderen, andererseits meiner Möglichkeit“ [48] , und hier zitiert Waldenfels Levinas, „ohne Egoismus zu existieren und mich zu behaupten“. [49] Aufbauend auf dem Element der Diskontinuität lässt sich das Element der ‚Heimsuchung‘ den Elementen der Erinnerung und der Wahrnehmung zuordnen. Sowohl Verantwortung als Fürsorge als auch Verantwortung als Gedächtnis seien so in der Widerfahrnis initiiert, in der passiven Erfahrung, von einer anderen Person oder einem anderen Lebewesen berührt zu werden. Auf der Basis dieser Passivität seien indes Fürsorge und Gedächtnis als reflektierte Antworten auf die Eingangserfahrung zu verstehen. Ethisches Gedächtnis ist folglich weder spontan noch neutral. Es ist zunächst die normative Forderung, nicht zu vergessen. Heimsuchung benennt den erinnernden Aspekt der Diskontinuität in der Wahrnehmung, durch den die Institution oder Struktur aus deren Vergangenheit mit den eigenen, am Humanum orientierten Traditionen konfrontiert wird. In Levinas‘ Denken kann die Ethik folglich auf den absoluten Anderen ausgedehnt werden. Die Ethik der Maßlosigkeit eines Levinas wird allerdings im Weiteren durch eine Ethik des Maßes – jedoch niemals vollständig – ersetzt, die allen auf dieselbe Art und Weise, nämlich auf die der iustitia distributiva, gerecht wird. [50] Das moralische Selbst ist bei Levinas eingespannt in die Dialektik von der Passivität des Angesprochenseins durch den Anderen und dem Wunsch, diesem Anspruch des Anderen aktiv zu antworten. Und solange auf dem Hintergrund der individuellen und spezifischen Natur der Widerfahrnis diese Antwort nicht verallgemeinert oder gar auf jemand anderen übertragen werden kann, ist das Selbst nicht frei, ein moralisches Selbst zu sein oder zu werden. Im anderen Fall ist die Rettung des Anderen als Anderen der Ort einer advokatorischen oder anwaltschaftlichen Ethik, die sich auf instituierender Ebene in der un- bedingten Anerkennung der Autorität fremden Leids artikuliert.

3.2. Die Spalte des Erlebnisses greift die Erfahrung der Diskontinuität auf, indem sie ihr einen Sinnhorizont verschafft. Hier wird insbesondere die Frage nach der Erlebnisintensität virulent.

Diese Spalte kann auch der Sinnerfahrung zugerechnet werden, die von Rosa dem Bereich der Resonanz zugerechnet wird und vertikale wie horizontale Resonanzachsen aufweist. [51] Zur Aneignung von Sinn gehört in der Lebenserfahrung die Intensität der Betroffenheit. Ein Erlebnis muss Wirkung zeigen, betroffen machen, verändern, ansonsten bleibt es an der Oberfläche und erreicht die Sinnebene nicht. Gerade im erlebten Leid, das auch die Sinnfrage stellt, wird die Frage nach der Motivation virulent. So hafte auch dem Gefühl der Betroffenheit nur dann

Ernsthaftigkeit an, wenn es den Kriterien der Dauer und der Intensität gehorcht. [52] Gleiches wird man auch von einem Erlebnis generell sagen können. Hier wird die Frage nach der Dauer einer Intensität gestellt, die sich nicht mehr auf der rein individuellen oder dialogischen Ebene beantworten lässt, sondern die in eine strukturelle/institutionelle Frage überführt werden muss, da das Gefühl der Betroffenheit erschlafft und deshalb trotz der Angemessenheit der Sache schnell verdrängt und sedimentiert werden kann.

In dieser Spalte wird der für das Tableau zentrale Erfahrungsbegriff selbst thematisiert.

„Eine tragende Erfahrung muss die ganze Welt sinnvoll interpretieren und sich doch zugleich gegen die ganze Welt behaupten können. […] Wäre Erfahrung nicht Integrierung und Durchkreuzung – als Widerfahrnis – zugleich, dann wäre sie banal und angepasst und ohne weiteres Deutungsmaterial. […] Tragende Erfahrungen sind keine Allerweltserfahrungen, sondern Entscheidungsträger.“ [53]

Die Zeit gewinnt an Intensität, wenn die geteilte Zeit als eine sinngebende erfahren wird. Die Erfahrung nimmt eine zentrale Position in unserer Tafel ein. Als Vertreter einer experientiellen Ethik hat Mieth sich intensiv mit dem Erfahrungsbegriff auseinandergesetzt. Er stellt zunächst dar, wie sich eine Entwicklung in der Ethik von der Reflexionstheorie der Ethik hin zur ethisch relevanten Erfahrung vollzogen hat. Mieth zufolge kann man religiöse, ästhetische und moralische Erfahrungsbereiche unterscheiden, die jeweils von Kontrast-, Sinn- und Motivationserfahrungen, aber auch von destruktiven Erfahrungen durchzogen sind. Erfahrungen bedürfen weiterhin der Beratung, Begleitung und Begegnung sowie eines Raumes, in dem sie reifen können. Diesen Erfahrungsraum stellen in der Regel soziale Institutionen dar, die damit zugleich ein Raum für ‚Wahrnehmung‘, ‚Erlebnis‘ und ‚Begegnung‘ sind. Oben sahen wir bereits, dass Drösser Institutionen als Objektivationen menschlichen Planens versteht, wobei sich Erfahrungen in institutionalisierten Plänen bündeln, die Lösungen verallgemeinern. Die Sinnerfahrung als Resonanzerfahrung (Rosa) bezieht sich auf einen Sinnhorizont, der also im gesellschaftlichen Kontext meist institutionell vermittelt in Erscheinung (Berger/Luckmann/Castoriadis) tritt. Diese Resonanzerfahrung bündelt sich in unserem Tableau im Begriff der Compassion. [54] Metz zufolge hat die „Compassion [...] eine anamnetische Tiefenstruktur, die nur für eine Politik der Freiheit und der gegenseitigen Anerkennung unverzichtbar erscheint. [...] Die Politik der Freiheit wurzelt in Anerkennung und Eingedenken. [...] Erst asymmetrische Anerkennungsverhältnisse, erst die Zuwendung der Einen zu den ausgegrenzten und zerstörten Anderen bricht die Gewalt der Logik des Marktes. [...] Compassion (in der erläuterten Bedeutung) wäre die biblische Mitgift für ein sittliches Weltprogramm in diesem Zeitalter der Globalisierung. [...] Doch sittlicher Universalismus ist kein Konsensprodukt. Er wurzelt vielmehr in der unbedingten Anerkennung der Autorität der Leidenden [...].“ [55] Hakers Vorschlag weist diesbezüglich in zwei Richtungen: Mitgefühl ist als eine spezifische Dimension der Gerechtigkeit selbst anzusehen, als das Andere der Gerechtigkeit, das in dieser aufscheint. [56] Haker stellt heraus, dass diese Gerechtigkeitsform die Besonderheit des Anderen als Reflexion ihrer normativen Relevanz in das Zentrum ihres Interesses stellt. Sie geht von der Asymmetrie der konkreten Anerkennung aus und postuliert deren Aufhebung in eine gerechte Praxis sowie die Aufhebung ihrer theoretischen Reflexion in eine Gerechtigkeitstheorie. Der zweite Aspekt liegt im Sinn für Solidarität, auf den das Mitgefühl verweist und der im „Wohl-Wollen des Anderen begründet ist“. [57] Verfahrensregeln und Bestimmung von Abwehrrechten genügen jedoch nicht, um Verantwortung für Leidende zu übernehmen, sondern sie kann, wenn sie die „Autorität der Leidenden“ (Metz) als Referenzpunkt hat, nur als eine Gerechtigkeitstheorie verstanden werden, die gegen die strukturelle Ungerechtigkeit individuell und politisch angeht. Haker zufolge lässt sich dieses Konzept der ethischen Verantwortung gut mit „einer theologischen Bestimmung von Gerechtigkeit in ihrer ethischen Dimension“ [58] vermitteln. Die ethische Dimension und darüber hinaus der theologische Gerechtigkeitsbegriff verweisen auf den eschatologischen Stachel, der bleibt, solange „nicht alle Ungerechtigkeit in Gerechtigkeit verwandelt ist“. [59] So ist es nicht Aufgabe der Ethik, sondern der Theologie, darauf zu hoffen, dass dies nicht Gottes letztes Wort zum Leiden ist. Der christliche Gehalt des Mitgefühls besteht nach Haker darin, dass diese Haltung durch die religiöse Erfahrung gestärkt wird, die jedoch der ethischen Erfahrung nichts hinzufüge, „wohl aber ist sie für die Identität der Person, die sich auf diese Erfahrung einlässt, eine Überzeugung, die dann jedoch unablösbar wird von der ethischen Erfahrung“. [60] Wenn Rawls von Gerechtigkeit als der Tugend sozialer Institutionen redet, müsste man an dieser Stelle untersuchen, inwieweit mit Metz und seinem Weltprogramm darüber hinaus nicht die Compassion als die christliche Tugend sozialer Institutionen angesehen werden muss, wenn man den supererogatorischen Charakter christlicher Ethik berücksichtigen möchte.

3.3. Die Spalte der Begegnung nun fokussiert die Kontinuität. Dabei stellt sich auch die Frage nach individueller und kollektiver Identität. Diese Spalte kann der Motivationserfahrung zugerechnet werden. Zieht man die Strukturelemente zu Rate, die Paul Ricoeur für die personale Identität formuliert (leibliche Unmittelbarkeit, Reflexivität, Temporalität und Kontinuität, Dialogizität und Intersubjektivität, Kontextualität, Individualität und Narrativität) [61] , so ergibt sich folgendes Panorama der Identitätsbildung. Der narrative Beitrag zur Konstitution der Identität findet in den Erzählungen statt, die eine Form der Reflexion ihrer Erfahrungen darstellen. Erzählung und Erinnerung sind dialektisch aufeinander bezogen. Die Erzählung verhilft dem Unterdrückten oder verloren Geglaubten erinnernd zum Durchbruch, wie die Erinnerung der Erzählung bedarf, um dieser ‚Heimsuchung‘ eine Sprache zu verleihen. In diesem Durchbruch wird die Unterdrückung zur Befreiung geführt. Gegen Husserl sieht Metz wie Schapp das Subjekt in „Geschichten verstrickt“, die dieses konstituieren. Diese Kritik an einer wie auch immer gearteten egologischen, historizistischen oder argumentativen Perspektive entbehrt nicht der Kognitivität, da das geschichtlich verstrickte Subjekt „sich selbst narrativ expliziert und [...] in der Rückbindung der Geschichtlichkeit des Bewußtseins an ein ‚Bewußtsein in Geschichten‘ (Lübbe) einen kognitiven Primat erzählter Erinnerung andeutet“. [62] Überhaupt kann man für diese Reihe folgende Sequenz eröffnen: die in der Erfahrung der Diskontinuität sich ereignende Intensitätserfahrung wird auf der Ebene der Kontinuität stabilisiert. Dadurch entsteht ein Raum, in dem eine solche Intensitätserfahrung möglich, aber nicht zwingend ist. In einer letzten Stufe stellt dieser Raum die Institution dar. Kontinuität ist daher nicht nur ein Merkmal der Identität, sondern auch der Institution. Erinnerungen und Begegnungen schlagen sich in sprachlicher Form in Erzählungen nieder, sedimentieren sich als Fundus im Text / in der Sprache, welche die institutionelle Basiskategorie für alle anderen Institutionen darstellt. Die Solidarität hat gesellschaftliche Kontinuität im Sinne von Gerechtigkeit im Blick und strebt deshalb zur Institutionalisierung hin. In einer differenzierten Definition kommt Hübenthal zu folgender Bestimmung der Solidarität:

„Solidarität ist eine Haltung von Personen, Gruppen oder Institutionen,

* die (a) von der vernünftigen Begründbarkeit der Rechte jedes einzelnen Menschen überzeugt ist,

* die (b) um die soziale Vermitteltheit personaler Identität weiß (deskriptive Solidarität),

* die daher (c) gerechte gemeinschaftliche, gesellschaftliche oder globale Strukturen fordert,

* die (d) (womöglich in der Erinnerung an vergangenes Leiden) sensibel ist für Ungerechtigkeiten aller Art,

* die (e) den gerechtfertigten Widerstand gegen Ungerechtigkeiten con- oder pro-solidarisch mitträgt

* und die schließlich (f) da, wo immer es möglich ist, ein solidarisches Verhalten motivieren muss, das auf einem Kontinuum zwischen von allen gerechterweise zu fordernden und supererogatorischen Handlungen liegen kann.“ [63]

Für unser Interesse ist die anamnetische Solidarität (d) in Bezug auf die Institutionengenese von zentraler Bedeutung. [64] Institutionen halten als dauerhafte Einrichtungen die anamnetische Solidarität aufrecht. [65] Es geht, sozialethisch gesprochen, auch hier letztendlich um eine (Neu)-Institutionalisierung von Anerkennungsverhältnissen. Nach Zürcher bestehe die Differenz zwischen Gerechtigkeit und Solidarität darin, dass es der Anspruch der Gerechtigkeit sei, „die Chancen für eine gelingende Selbstverwirklichung egalitär zu verteilen. Die Funktion der Solidarität besteht darin, diese aktiv zu unterstützen. [...] In dieser Hinsicht erweisen sich Gerechtigkeit und Solidarität als komplementäre Prinzipien.“ [66] So sei Solidarität Mieth zufolge „auch als Kampf um Gerechtigkeit zu verstehen“, um das zu erreichen, was zwar bereits anerkannt, aber noch nicht eingeführt ist, oder um „praktizierbare Strukturen der Gerechtigkeit aus der Erfahrung dieses Kampfes zu erkennen“. [67] Solidarität und Gerechtigkeit unterscheiden sich wie die aneinander gebundene und nicht zu trennende Beziehung von Kampf und Konzeption.

Schluss

Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit durchzieht wie ein roter Faden das gesamte Tableau der Elemente der Institutionengenese. Im Horizont der sozialen Gerechtigkeit spielt die zeitliche Ebene der Institutionengenese insofern eine Rolle, als es der sozialen Gerechtigkeit in ihren Teilaspekten (legal, kommutativ, kontributiv, distributiv, nachhaltig) um ein dauerhaftes soziales Streben nach dem Gemeinwohl geht. [68] Dieses Streben nach dem Gemeinwohl ist geprägt von Erfahrungen der Ungerechtigkeit und setzt damit einen Erinnerungsfundus voraus, in dem sich die Missachtungserfahrung und deren Überwindungsversuche abgelagert haben. Anerkennungsfragen sind letztlich die Voraussetzungen für das Fragen nach gerechten, sozialen Institutionen. Auch für eine Institutionengenese von Solidarität, auf die die Compassion abzielt, könnten die o.g. Ebenen von Bedeutung sein. [69] Diese Perspektive mündet in eine generationenübergreifende, diachrone Solidarität, die sich über die Ebenen der Zeit, der Erinnerung, der Anerkennung und der Synchronisierung von Zuwendung und Aufrichten konstituiert und in einem Ethos der Anwaltschaft niederschlägt. Derartige Anwaltschaft umfasse folgende Aufgaben: „Beobachten und Wahrnehmen, Aufklären und Beraten, Not und die sie bedingenden Zusammenhänge öffentlich machen, die Interessen der Betroffenen furchtlos zur Geltung zu bringen.“ [70] Diese „spricht davon, dass jemand Anwalt sein soll (oder muss) für solche, die eines Anwalts bedürfen“. [71] Anwaltschaft bedeute „ein Handeln in Stellvertretung für Andere bzw. für Gruppen von Personen, die nicht, nur eingeschränkt, noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, eigene Rechte in Konflikten und in der gesellschaftlichen Interaktion zur Geltung zu bringen“. [72] Sie setze dabei „neben Wohlgesonnenheit und Engagiertheit für die Betroffenen als Person (Parteilichkeit) Sachkompetenz, Unabhängigkeit gegenüber den Machthabern und Bereitschaft zur Partnerschaftlichkeit“ [73] voraus und unterliege der Gefahr von „Paternalismus, mangelnder Nachhaltigkeit“ und „der Kluft zwischen tätigem Einsatz und rhetorischer Emphase“. [74] Abschließend können diese Ausführungen in ein Plädoyer einmünden, das sich auf dem Hintergrund des Gedankens der Anwaltschaft für ein Verständnis von Institutionen einsetzt, das sich zugleich durch Parteilichkeit, d.h. in unserem Falle, durch die Option für die Armen, Schwachen, Kranken, Ausgeschlossenen, etc. auszeichnet. [75]

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass gerade der Vertreter der Politischen Theologie schlechthin, Johann Baptist Metz, diese Erfahrungstypen integriert. Zugleich hat er schon früh die Bedeutung von Institutionen für die Theologie erkannt und aus der theologischen Perspektive den Aspekt der Erinnerung für eine theologische Institutionenlehre mit folgender Fragestellung verstärkt:

„Gibt es auf dem Boden der Aufklärung noch Institutionen, die sich als akkumulierte Erinnerungen begreifen, als Bereitstellung eines Erinnerungsvorrats zur Strukturierung diffuser, diskursiv unbeherrschbarer Lebenswelten? Gibt es auf dem Boden der Aufklärung noch Institutionen, die den reflexiv gewordenen Umgang mit Traditionen auffangen können und die damit auch die Unverzichtbarkeit von Traditionen politisch und kulturell zur Geltung bringen können?“ [76]

Für Metz stellt demnach die Erinnerung eine Basiskategorie für eine Theologie der Institution dar. Die Frage legt eine Ausrichtung seines Ansatzes nahe, der sich überindividuell gestaltet und deshalb auch pars pro toto letztlich in eine normative Institutionenlehre übergeht. Deshalb kann es auch für eine theologische Ethik fruchtbar sein, seinen Ansatz in ethische Dimensionen zu integrieren. Dabei lassen sich zentrale Begriffe im Metzschen Ansatz als Fragmente auf dem Weg zu einer solchen Institutionenlehre verstehen, die zugleich eindeutig normative Bedeutungsträger sind. Auf dem Hintergrund neuerer Veröffentlichungen können folgende Begriffe als charakteristisch für die praktische Fundamentaltheologie Metzscher Provenienz eingeführt werden: Eng verknüpft mit dem Begriff der Erinnerung ist der der Diskontinuität: so sei die kürzeste Definition der Religion „Unterbrechung“, die auf einer gefährlichen Heimsuchung aus der Vergangenheit [77] beruht, zugleich die Wahrnehmung schärft für das fremde Leid und in der unbedingten Anerkennung der Autorität Leidender gründet. [78] Gerade die Erfahrung des Leids in seiner umfassenden Intensität öffnet die Frage nach dem Sinnhorizont, der sich als ein gemeinsamer Horizont im Leiden offenbart: in der Compassion [79] wird das Subjekt ganz dem Anderen und seinem Leid geöffnet und dem Bemühen, das fremde Leid zu verringern. Diesem Bemühen eignet nur dann Ernsthaftigkeit, wenn es auf Kontinuität hin angelegt ist und in der Erzählung identitäts- und solidaritätsstiftend vergemeinschaftet wird. [80] Solidarität wird hier sowohl synchron als auch diachron verstanden. [81] Erzählung, Erinnerung und Erfahrung stellen dabei die sich gegenseitig durchdringenden Elemente einer Spirale dar, die der Institution gesellschaftskritische Relevanz verleihen.

 Anmerkungen:

[*] Vgl. Dominik Bertrand-Pfaff, Une lecture de la genèse des institutions à partir d’une éthique expérientielle, Revue d’éthique et de théologie morale, 2014/2, n° 279, 57-86.

[1] Gerhard Drösser, Institutionen und soziales Handeln, in: Marianne Heimbach-Steins (Hg.), Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch Band 1, Regensburg 2004, S. 224.

[2] So stünden Institutionen im Dienst der Erfüllung gesellschaftlicher, sich stets wandelnder Bedürfnisse. Eine Institution besteht als eine Differenzeinheit, worunter Drösser eine Einheit unterschiedlicher sozialer Kräfte versteht, die jedoch nicht immer deckungsgleich sind. (Ebd. 225) Dieser Zustand führt zu Wandel und Wandelbarkeit sozialer Institutionen. Meist kommt es zur Neugestaltung bestehender Institutionen, wenn eine Berücksichtigung aller Interessen angestrebt wird (von oben und von unten). Auf der Ebene der Objektivität von Sprach- und Handlungsmustern weist Drösser darauf hin, dass die Tätigkeitsweisen von Sprechen und Handeln sich auf ein Drittes beziehen: die gesellschaftliche Ordnung. Diese stelle die nötigen Sinnzusammenhänge und Verständigungsgrundlagen bereit, auf denen sich die Kommunikation vollzieht. Dabei sind Rollenspiele als Handlungsschemata zu verstehen, die unserem Alltagsleben Orientierung geben. (Ebd. 228) Diese rufen distanziert-gebundene Rollenverhältnisse hervor und werden durch Sozialisation vermittelt, indem die Erziehung und Bildung das Kind mit Rollen und Werten vertraut machen. Die Sozialisation ist dabei zurückgebunden an die Trieb- und Erfahrungswelt des Individuums, ansonsten käme es zu destruktiven Auswirkungen.

[3] Dietmar Mieth, Sozialethik als hermeneutische Ethik, in: Karl Gabriel (Hg.), Gesellschaft begreifen- Gesellschaft gestalten, Münster 2002, S. 220ff. Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik, Paderborn 1997, S. 15f. Wilhelm Korff, Der sozialethische Paradigmenwechsel. Voraussetzungen und Konsequenzen, in: ders. u.a. (Hg.), Handbuch der Wirtschaftsethik Band 1, Gütersloh 1999, S. 213. Marianne Heimbach-Steins, Sozialethik, in: Klaus Arntz u.a. (Hg.), Orientierung finden. Ethik der Lebensbereiche, Freiburg 2008, S. 166f. S. auch das Themenheft der Revue d’éthique et de théologie morale zu “Être soi dans l'institution : un défi pour la théologie” (August 2012) oder das letzte Jahrbuch Politische Theologie 6/7 2013. Zu charité vgl. Jean-Yves Baziou, Regard sur l’institutionnalisation chrétienne de la charité envers les pauvres, 2012/2013. (http://fondationjeanrodhain.org/IMG/pdf/Baziou_-_institutionnalisation_de_la_charite.pdf)

[4] Cornelius Castoriadis, L’institution imaginaire de la société, Paris 1975.

[5] Dietmar Mieth, Moral und Erfahrung II. Entfaltungen einer theologisch-ethischen Hermeneutik, Fribourg 1998, S. 19.

[6] Ebd. S. 16.

[7] Ebd. S. 21.

[8] Ebd. S. 17f.

[9] Dietmar Mieth, Moral und Erfahrung I, Fribourg 41999, S. 143.

[10] Ebd.

[11] Ebd., S. 144.

[12] Ebd.

[13] Mieth, Moral und Erfahrung II, S. 19.

[14] Vgl. dazu auch Filipovic 2015, der gleichfalls auf den Institutionenaspekt hinweist (S. 44ff).

[15] Mieth, Moral und Erfahrung II, S. 19.

[16] Ebd.

[17] Bzgl. des ‘historischen Institutionalismus’ vgl. Dominik Bertrand-Pfaff, Eine theologisch-ethische Grammatik sozialer Instituierung. Mit einem Blick auf das Compassionmotiv, Münster 2012, S. 131ff.

[18] Seit Gibson Winters, eines evangelischen Sozialethikers, „Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft“ (Chicago 1966, dt. 1970), die zwar das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Ethik im Blick hat, aber in wesentlichen Kapiteln den Aufbau der sozialen Welt nach G.H. Mead und Alfred Schütz behandelt, ist über die Entstehungsverantwortung bezüglich von Institutionen wenig nachgedacht worden.

[19] WphB, 290. Der griechisch-französische Autor dürfte nach den einschlägigen Kommentaren eines Habermas, Honneth und Joas zu seinem Denken bekannt sein, sodass sich eine Vorstellung desselben hier erübrigt.

[20] Axel Honneth, Die ontologische Rettung der Revolution. Zur Gesellschaftstheorie von Cornelius Castoriadis, in: ders., Die zerissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 21999, S. 155f. Castoriadis versteht Institutionen als „Verkörperungen oder – auch immaterielle, also wirklich-imaginäre – Gestalten eines Instituierungsprozesses, dessen ‚Subjekt’ das je verschieden gegliederte und hierarchisierte ‚anonyme Kollektiv’ ist: Menschen, deren imaginativ-schöpferisches Potential immer neue Formen und Bedeutungen hervorbringt, welche sich zu I[nstitution]en kristallisieren. [...] Nur Gesellschaften, oder vielmehr die sie konstituierenden gesellschaftlichen Individuen, die sich ihrer instituierenden Tätigkeit bewusst sind, können [...] der Heteronomie der Entfremdung entgehen und Autonomie über die explizite und infragestellende Instituierung verwirklichen. Dies setzt aber bereits spezifische freiheitsgenerierende Bedeutungen und Dispositionen voraus, deren Hervorbringung nicht gänzlich von anderen gesellschaftlich-imaginären Bedeutungen ableitbar ist. Diese Hervorbringung wird vielmehr unter der Kategorie der Erfindung bzw. der Schöpfung behandelt, deren Quelle die radikale Einbildungskraft ist“. (WphB, 291). Vgl. auch: Cornelius Castoriadis, Pouvoir politique, in: Revue de métaphysique et de moral 93 (1988).

[21] Honneth, in: ders, Zerissene Welt, S. 160.

[22] Ebd. S. 150.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Thomas Berger/ Peter Luckmann, Die Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/Main 222009, S. 72. Auch wenn der Titel seines Werkes „Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ auf die Arbeit von Berger/Luckmann Bezug zu nehmen scheint, weist Searle auf die Bedeutung der „Schaffung institutioneller Tatsachen“ (John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Berlin 2011, S.40-67) hin, ohne das Autorenpaar zu erwähnen. Vgl. kritisch zu Berger/Luckmann, die auf Weber und Schütz aufbauen: Heinrich Rombach, Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer Phänomenologischen Soziologie, Freiburg/Br. 1994, S. 223-241.

[26] Ebd.

[27] Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/Main 1996. Siehe auch: Hans Joas, Institutionalisierung als kreativer Prozess, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989).

[28] Ebd. S. 343ff.

[29] Ebd S. 345.

[30] Ebd.

[31] Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg/Br. 22004, S. 86. S. auch Jens Beckert, Pragmatismus und wirtschaftliches Handel, in: Bettina Hollstein u.a. (Hg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt/Main 2011, S. 258f.

[32] Halbig, in: Marcus Düwell (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart u.a. 2002, S. 299. Ebd.: „In Anschluss an detaillierte Interpretationen von Hegels Anerkennungstheorie haben in jüngerer Zeit besonders Axel Honneth und Ludwig Siep (1979) die Kategorie der Anerkennung erneut ins Zentrum der praktischen Philosophie zu rücken versucht. Nach Siep (1979) erweist sie sich als doppelt fruchtbar für die Grundlegung der praktischen Philosophie und hier insbesondere für eine Theorie sozialer Institutionen”. Honneth ist sich in einer späteren Veröffentlichung der Bedeutung von Institutionen durchaus bewusst, zwar in einem anderen Kontext als dem der Anerkennung, aber es lassen sich m.E. durchaus Fäden dahin ziehen. (Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt/M 2011). Ansonsten: Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main 1994. Und für die Sozialethik: Axel Bohmeyer, Von der Diskursethik zur Anerkennungstheorie? Ein Beitrag zur Theoriediskussion in der Christlichen Sozialethik, in: ders. u.a. (Hg.), Profile. Christliche Sozialethik zwischen Theologie und Philosophie, Münster 2005, S. 76f.

[33] Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/Br. u.a. 1979, S. 272.

[34] ausführlicher in: Bertrand-Pfaff, Theologisch-ethische Grammatik, 103-162.

[35] Da die Darstellung dieser Positionen für den Umfang eines Artikels Daniel Bogner zufolge zu komplex erscheint, wird diesbezüglich auf die Ausführungen in der vorhergehenden Fußnote verwiesen.

[36] Mieth, Sozialethik, S. 224.

[37] Bertrand-Pfaff, Theologisch-ethische Grammatik, S. 172ff.

[38] Mieth, Sozialethik, S. 226.

[39] So entspricht diese Kombinatorik nur in Teilen den Ansätzen von Ingolf U Dalferth, Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, Freiburg/Br. u.a. 1991) oder Mieth, wenngleich sie deren Anliegen teilt. Ersterer spricht von der Theologie als einer kombinatorischen Wissenschaft, die verschiedenartige Disziplinen verbindet. Zweiterer versteht darunter die „kombinatorische Begründung im Ausgang von Erfahrung“. Ebd. 24.

[40] Bertrand-Pfaff, Theologisch-ethische Grammatik, S. 21. Internes Zitat: TRE 28, 154.

[41] Bertrand-Pfaff, Theologisch-ethische Grammatik, S. 217f.

[42] Walter Benjamin, Ausgewählte Schriften Band I. Illuminationen, Frankfurt/Main 11977, S. 259.

[43] Bertrand-Pfaff, Theologisch-ethische Grammatik, S. 169.

[44] „The shift from mere ‘being’ to ‘existent’ as synonym for the moral self cannot, as we have seen, be logically deduced or even explained; it rests upon an openness of the self to the passive ‘event’ or Widerfahrnis of and in the encounter with the other. Its roots lie in the dialectical experience of passively being addressed and actively wishing to respond to the other's request for the self to care about him or her. And since this response cannot be generalized or even transferred to someone else, given the individual and specific nature of the Widerfahrnis, the self is not free to be or become a moral self.“ (Hille Haker, The Fragility of the Moral Self, in: Harvard Theological Review 97 (2004), S. 371f).

[45] Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankfurt, Frankfurt/Main 1998, S. 238.

[46] Ebd.

[47] Ebd.

[48] Ebd.

[49] Ebd.

[50] Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou Au-delà de l‘ essence, Paris 1990.

[51] Hartmut Rosa, Resonanz, Frankfurt/Main 2016, S. 435ff.

[52] Hille Haker, Compassion als Weltprogramm. Eine ethische Auseinandersetzung mit Johann Baptist Metz, in: Concilium 4 (2001), S. 436-450, hier: S. 444.

[53] Mieth, Moral und Erfahrung I, S. 19.

[54] „Im Leid kulminiert die Intensitätsform der menschlichen Lebenserfahrung: im Leid des Übels, im Leid des Unrechts, im Leid der Liebe. Die Erfahrung von sinnvollen Möglichkeiten wird erst in der zureichenden Intensität der Betroffenheit und damit in der zureichenden Motivation bestimmend. “ (Ebd. S. 144).

[55] Johann Baptist Metz, u.a. (Hg.), Compassion – Weltprogramm des Christentums, Freiburg/Br. u.a. 2000, S. 13ff.

[56] Gewiss setzt Haker die Gerechtigkeit als universale Gleichheit der Moralsubjekte voraus, die den Anderen als „verallgemeinerten Anderen“ betrachtet. „Um aber der faktisch vorauszusetzenden Ungleichheit Rechnung tragen zu können, um hinter den Ungerechtigkeitsstrukturen Personen wahrnehmen zu können, ist der Andere als konkreter Anderer anzusehen. Mitgefühl reagiert auf diese Ungleichheit in der Weise einer spontanen Zuwendung, die aber reflexiv abgesichert ist. Das strukturell gewendete Mitgefühl anerkennt die Asymmetrie zwischen Leidenden und Nicht-Leidenden, aus der eine Ungleichheit im Hinblick auf die Verteilung von Pflichten und Rechten erfolgt. Auch hier trifft also der kognitive Gehalt des Gefühlsurteils sich mit dem normativen Urteil der Gerechtigkeit.“ (Haker, Compassion, S. 446).

[57] Ebd.

[58] Ebd. S. 447.

[59] Ebd.

[60] Ebd.

[61] Hille Haker, Narrative und moralische Identität, in: Dietmar Mieth (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, S. 39f.

[62] Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 5 1992, S. 191.

[63] Christoph Hübenthal, Solidarität. Historische Erkundung und systematische Entfaltung, in: Dietmar Mieth (Hg.), Solidarität und Gerechtigkeit. Die Gesellschaft von morgen gestalten, Stuttgart 2009, S. 89.

[64] Bruno Schmid, Ethisches Lernen im Unterricht, in: Johann Baptist Metz u.a. (Hg.), Compassion. Weltprogramm des Christentums, Freiburg/Br. u.a. 2000, S. 65ff.

[65] Zugleich ist hier in der Perspektive einer anamnetischen Solidarität die Institutionengenese als der Ort schlechthin einer advokatorischen oder anwaltschaftlichen Ethik verstanden. Anamnetische Solidarität im Horizont einer advokatorischen Ethik „ist eine pro-solidarische Haltung gegenüber allen Opfern ungerechter Verhältnisse in der Vergangenheit. Im Gegensatz zu sonstigen Formen der Solidarität kann ‚anamnetische Solidarität‘ keine Gerechtigkeit schaffenden Handlungen mehr motivieren, da die Opfer allesamt tot sind. Das einzige, worin Solidarität sich in diesem Fall noch äußern kann, ist das erinnernde Gedenken der Opfer und die Hoffnung, dass ihnen einstmals doch noch Gerechtigkeit widerfahren möge.“ (Dietmar Mieth (Hg.), Solidarität und Gerechtigkeit. Die Gesellschaft von morgen gestalten, Stuttgart 2009, S. 311. Hübenthal in: Mieth, Solidarität, S. 87f.).

[66] Markus Daniel Zürcher, Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft. Zur Phänomenologie. Theorie und Kritik der Solidarität, Tübingen 1998, S. 176.

[67] Beide Zitate Mieth, Solidarität, S. 49.

[68] Anzenbacher, Sozialethik, S. 222.

[69] Nach Große-Kracht geht es der christlichen Sozialethik auch darum, Solidarität dauerhaft zu institutionalisieren. Vgl. Hermann Josef Große-Kracht (Hg.) Solidarität institutionalisieren. Arenen, Aufgaben und Akteure christlicher Sozialethik, Münster 2003.

[70] Hilpert in: Gerfried Hunold (Hg.), Lexikon der christlichen Ethik, Freiburg/Br. 2003, S. 94.

[71] Schmid, Ethisches Lernen, S. 65.

[72] Hilpert in: Hunold, Lexikon, S. 93.

[73] Ebd.

[74] Beide Zitate ebd. S. 94f.

[75] Johannes Dantine, Optionen für Institutionen. Ein Plädoyer für Anwaltschaft und Parteinahme, in: Isidor Baumgartner (Hg.), Den Himmel offen halten, Innsbruck 2000. Bertrand-Pfaff, Theologisch-ethische Grammatik, S. 100.

[76] Johann Baptist Metz, Zwischen Erinnern und Vergessen, in: Maximilian Liebmann u.a. (Hg.), Metamorphosen des Eingedenkens, Graz 1995, S. 32.

[77] „Sie [die Erinnerungen. der Verf.] beleuchten für Augenblicke grell und hart die Fraglichkeit dessen, womit wir uns längst abgefunden haben, und die Banalität eines vermeintlichen ‚Realismus'. Sie durchstoßen den Kanon der herrschenden Plausibilitätsstrukturen und tragen geradezu subversive Züge. Solche Erinnerungen sind wie gefährliche und unkalkulierbare Heimsuchungen aus der Vergangenheit. Es sind Erinnerungen, mit denen man rechnen muß, Erinnerungen sozusagen mit Zukunftsgehalt.“ (Metz, Glaube, S.112).

[78] „Jesus lehrt nicht eine Mystik der geschlossenen Augen, sondern eine Mystik der offenen Augen und damit der unbedingten Wahrnehmungspflicht für fremdes Leid.“ (Johann Baptist Metz u.a.(Hg.), Compassion. Weltprogramm des Christentums, Freiburg/Br. u.a. 2000, S. 17).

[79] „Diese gerechtigkeitssuchende Compassion ist das Schlüsselwort für das Weltprogramm des Christentums im Zeitalter der Globalisierung. ... Diese Compassion hat [...] eine anamnetische Tiefenstruktur, die nur für eine Politik der Freiheit und der gegenseitigen Anerkennung unverzichtbar erscheint. [...] Die Politik der Freiheit wurzelt in Anerkennung und Eingedenken. [...] Erst asymmetrische Anerkennungsverhältnisse, erst die Zuwendung der Einen zu den ausgegrenzten und zerstörten Anderen bricht die Gewalt der Logik des Marktes. [...] Compassion (in der erläuterten Bedeutung) wäre die biblische Mitgift für ein sittliches Weltprogramm in diesem Zeitalter der Globalisierung. [...] Doch sittlicher Universalismus ist kein Konsensprodukt. Er wurzelt vielmehr in der unbedingten Anerkennung [...] der Autorität der Leidenden [...].“ (Metz, Compassion, S. 13ff).

[80] Nach Metz ist das Christentum und damit auch die Kirche eine „Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft in praktischer Absicht“. Metz, Glaube, S. 209. Erzählung und Erinnerung sind dialektisch aufeinander bezogen. Die Erzählung verhilft dem Unterdrückten/verloren Geglaubten erinnernd zum Durchbruch, wie die Erinnerung der Erzählung bedarf, um dieser ‚Heimsuchung’ eine Sprache zu verleihen. In diesem Durchbruch wird die Unterdrückung zur Befreiung geführt. Die Kritik an einer wie auch immer gearteten egologischen, historizistischen oder argumentativen Perspektive entbehrt nicht der Kognitivität, da das geschichtlich verstrickte Subjekt „sich selbst narrativ expliziert und […] in der Rückbindung der Geschichtlichkeit des Bewußtseins an ein ‚Bewußtsein in Geschichten‘ (Lübbe) einen kognitiven Primat erzählter Erinnerung andeutet.“ (Metz, Glaube, S. 191).

[81] Für Metz ist „Solidarität als Kategorie einer praktischen Fundamentaltheologie […] eine Kategorie des Beistands, der Stützung und Aufrichtung des Subjekts angesichts seiner akuten Bedrohung und Leiden. Sie gehört, wie Erinnerung und Erzählung zu den fundamentalen Bestimmungen einer Theologie und Kirche, die inmitten der Leidensgeschichte der Menschen ihre erlösende und befreiende Kraft nicht über die Köpfe der Menschen hinweg und an ihrer leidvollen Nichtidentität vorbei zur Geltung bringen will.“ (Metz, Glaube, 220). „Vom Gott Jesu reden, heißt unbedingt, fremdes Leid zur Sprache zu bringen und versäumte Verantwortung, verweigerte Solidarität zu beklagen.“ (Metz, Compassion, S. 12).

Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz