Susanna Schrafstetter, Flucht und Versteck. Untergetauchte Juden in München – Verfolgungserfahrung und Nachkriegsalltag,

Susanna Schrafstetter, Flucht und Versteck. Untergetauchte Juden in München – Verfolgungserfahrung und Nachkriegsalltag, Göttingen 2015, Wallstein Verlag, 336 S., 11 Abb., 38 €, ISBN 978-3-8353-1736-9


Die erste Person, die 1963 von der Gedenkstätte Yad Vashem (Jerusalem) als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde, war der Münchner Schreiner Ludwig Wörl. Er war als politischer Gefangener 1934 in Dachau eingeliefert und 1942 nach Auschwitz deportiert worden. Dort wurde er im Krankenbau eingesetzt und nutzte diese Stellung, um jüdischen Mithäftlingen das Leben zu retten. Die Stadt München verlieh Wörl 1966 die Medaille „München leuchtet“. In der Presseberichterstattung ließ man seine Parteizugehörigkeit fort: Er gehörte der Kommunistischen Partei Deutschlands an; das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtete ihn. München ehrte nicht nur Helferinnen und Helfer verfolgter Juden, sondern initiierte in den 1960er-Jahren als erste deutsche Stadt auch ein Besuchsprogramm für ehemalige Münchnerinnen und Münchner, die gezwungenermaßen emigriert waren. Flankiert wurde das Besuchsprogramm von Broschüren und Presseartikeln, die das Bild einer „Stadt der hilfsbereiten Nachbarn“ (283) entwarfen.

Es macht den besonderen Wert der Untersuchung von Susanna Schrafstetter (Vermont, USA) über untergetauchte Juden in München aus, dass sie nicht nur den Bogen von den ersten Deportationen aus München im Herbst 1941 bis zu den letzten Transporten im Februar 1945 spannt (Kapitel III-VII), sondern auch die Nachkriegsjahre mit einbezieht (VIII-XI). Noch bevor sich die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ mit der wissenschaftlichen und moralischen Aufarbeitung ihrer nationalsozialistischen Verbrechen befasste, erfand München das Image einer „Weltstadt mit Herz“ (293). Als die untergetauchten Jüdinnen und Juden nach 1945 eine Würdigung und finanzielle Wiedergutmachung für die erlittenen Beeinträchtigungen erlangen wollten, war ihnen diese Stadt jedoch eiskalt gegenübergetreten und hatte sie als „Verfolgte zweiter Klasse“ (269) behandelt. Erst mühsam mussten sie ihre Ansprüche erstreiten, soweit sie die bundeseinheitlich verbesserten Entschädigungsgesetze und die späte Anerkennung überhaupt noch erleben konnten.

Schrafstetter ist es mit ihrer Studie erstmals für eine deutsche Stadt mit einer zahlenmäßig größeren jüdischen Gemeinde (1.2.1933: 10.737 Mitglieder; 1.4.1945: 398 Mitglieder) [1] gelungen, die höchst komplexen Zusammenhänge für das Untertauchen der Verfolgten darzustellen. Zwar ist mittlerweile die Forschungslage zur Geschichte der Juden in München gut (inklusive des Biographischen Gedenkbuchs der Münchener Juden 1933-1945 und zahlreicher individueller Biographien, Erinnerungen, Tagebücher usw.). Auf diese Ergebnisse konnte sich die Autorin in der Einleitung und den ersten beiden Überblickskapiteln über die Lage der Münchner Juden 1933-1945 also breit stützen. Bislang aber fehlte überhaupt eine Gesamtschau auf jene, die sich vor Verfolgung und Deportation versteckt hatten. Schrafstetter musste diese Informationen akribisch durch die Auswertung zahlreicher Publikationen für die jeweilige verfolgte bzw. helfende Person zusammentragen und durch Aktenmaterial aus Archiven in Deutschland, Großbritannien, Israel und den USA ergänzen (vgl. das umfangreiche Verzeichnis der Quellen und Literatur: 298-323).

In der Darstellung folgt Schrafstetter einerseits der Chronologie der Verfolgungsphasen mit den wechselnden Rahmenbedingungen und Handlungsstrategien während der Deportationswellen in München, die regionale und kommunale Besonderheiten aufwiesen (Kap. III-V). Andererseits beleuchtet sie das Untertauchen auch unter thematischen Gesichtspunkten der Gefahren und des Scheiterns (Kap. VI) und unter geographischen Aspekten über- und transnationaler Fluchtwege, in die München eingespannt war (Kap. VII). Die diesbezüglich umfangreichen Forschungsergebnisse zu den Großstädten Berlin, Frankfurt, Hamburg, Wien und weitere Einzeluntersuchungen zieht Schrafstetter durchgängig heran. Vergleichbare Phänomene im Deutschen Reich, aber auch Besonderheiten Münchens treten so deutlicher hervor. Schrafstetter erzählt immer wieder individuelle Fluchtgeschichten, die den jeweiligen lokalen Kontext, die Verfolgungsinstitutionen, die Verfolgten, ihr Umfeld und die Helfenden wissenschaftlich nüchtern, d.h. ohne Heroisierung und mit allen Ambivalenzen der Motivlagen aller Beteiligten darzustellen sucht. Durch die strikte Einhaltung datenschutzrechtlich geforderter Anonymisierungen von Personen (die anonymisiert auch im Personenregister aufgenommen sind, 326-332) war dies möglich, behandelt sie doch auch Denunziation, Verrat und Ausplünderung durch Helfende.

Schrafstetter zeigt mit dieser Geschichte von Flucht und Versteck untergetauchter Juden in München zugleich größere allgemeine Forschungslücken auf. Sie konnte nicht alle Detailforschungen selbst durchführen. Wiederholt verweist die Autorin auf fehlende Forschungsergebnisse (so zu den ostjüdischen Münchnern, 197) oder bedient sich einer methodisch eher problematischen Argumentationsfigur, um ihre Ergebnisse quantitativ oder qualitativ zu gewichten: „Auch wenn der Befund auf einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Personen basiert, so deutet er doch in die Richtung […]“ (160, vgl. auch 128, 158). Wenn die Münchner recherchierten Beispielgeschichten in einem Abschnitt zu dürftig ausfallen, so ergänzt Schrafstetter, wie im Abschnitt „Bombenkrieg und Flucht: Option und Gefahr“ (103-105), zur Veranschaulichung und Plausibilisierung mit Beispielen aus Berlin, Hamburg, Köln-Düsseldorf, Frankfurt und Dresden. Andererseits verallgemeinert sie bezüglich kirchlicher Hilfsleistungen in München, dieser Themenkomplex sei „bereits ausgiebig erforscht“ (172, anders: 290). Das kann aber nur für die evangelische Kirche gelten, weil es zur katholischen Kirche lediglich eine Magisterarbeit gibt, die die Jahre 1941-1945 nicht tiefergehend behandelt. [2] Manche Korrekturen zu einzelnen Personen könnten noch angefügt werden, doch muss man auch realistisch sagen, dass eine einzelne Autorin angesichts der hoch komplexen biographischen, örtlichen und ereignisgeschichtlichen Datenrecherche im ersten Wurf nicht alles wird erfassen können und daher auf die kollegialen professionellen Hinweise vertrauen darf, die die 2. korrigierte Auflage stützen werden.

Denn insgesamt liefert das nach Aufbau und Inhalt gelungene Werk von Susanna Schrafstetter einen wesentlichen Forschungsbeitrag und zahlreiche Impulse für weitere Studien zu diesem Themenfeld.

Zur Rezensentin:
Dr. Antonia Leugers, geb. 1956, ist Wiss. Mitarbeiterin im Fach Kirchengeschichte an der Universität Erfurt.

Anmerkungen:
[1] Zahlenangaben nach: Maximilian Strnad, Zwischenstation „Judensiedlung“. Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941-1945, München 2011, S. 178-179, 182, hier: S. 178.
[2] Die Magisterarbeit erschien unter Anonymisierung von Personen im Druck: Dirk Schönlebe, München im Netzwerk der Hilfe für „nicht-arische“ Christen 1938-1941, in: Schönlebe, Dirk/Bäumler, Klaus, Von ihren Kirchen verlassen und vergessen? Zum Schicksal Christen jüdischer Herkunft im München der NS-Zeit, München 2006, S. 1-145.

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