Rudolf Morsey, Fritz Gerlich. Ein früher Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus, Paderborn 2016, Schöningh Verlag, 346 S., 29.90 €, ISBN 978-3-506-78398-1
Rudolf Morseys Biographie Fritz Gerlichs dürfte die erste umfassende und an historisch-wissenschaftlichen Standards orientierte Biographie eines in Bayern in führender Stellung tätigen Journalisten überhaupt sein. Dass so wenige existieren, ist vor allem dem Mangel an Quellenmaterial geschuldet. Morsey hatte das Glück, dass ihm ein in Privathand befindlicher Nachlass seines Protagonisten zur Verfügung stand.
Gerlich, der in seinem Geburtsort Stettin aufwuchs, absolvierte dort das humanistische Gymnasium und studierte dann in München und Leipzig. 1907 promovierte er in München über ein historisches Thema. Noch im selben Jahr wurde er dort Vorsitzender der an Friedrich Naumann orientierten Freien Studentenschaft. Gerlich war offenbar fasziniert von der von Naumann vertretenen ideologischen Mischung von sozialem Liberalismus und nationalem Imperialismus. Bereits damals kam er in Verbindung mit dem extrem nationalistischen Alldeutschen Verband, dem er im Krieg beitrat. 1911 wurde er in den bayerischen staatlichen Archivdienst übernommen.
Gerlich war untauglich für den Kriegsdienst. Er kompensierte dies während des Krieges durch hemmungslosen Nationalismus. U. a. schrieb er in den von Paul Nikolaus Cossmann geleiteten Süddeutschen Monatsheften. Die Zeitschrift diente als Instrument der Kreise, die den ihnen als zu gemäßigt erscheinenden Reichskanzler Bethmann-Hollweg stürzen wollten. Gerlich war auch Mitglied des in diesem Sinn agitierenden Volksausschusses für die rasche Niederkämpfung Englands. Er kam zudem in Kontakt mit Karl Graf Bothmer, einem ehemals demokratischen Liberalen. Dieser gab seit März 1917 zusammen mit ihm die für einen unbedingten Siegfrieden eintretende Zeitschrift „Die Wirklichkeit“ heraus.
Nach dem Zusammenbruch schloss Gerlich sich der neu entstandenen Deutschen Demokratischen Partei an und betätigte sich auch als Beamtenfunktionär. Zudem agitierte er als Münchner Vorsitzender von Eduard Stadtlers „Antibolschewistischer Liga“, einer Propagandaorganisation, die mit Naumann in Verbindung stand, aber auch Kontakte zum Alldeutschen Verband hatte. In den „Süddeutschen Monatsheften“ schrieb er jetzt gegen den Marxismus, d. h. die Sozialdemokratie, und gegen den Bolschewismus, den er mit den Arbeiter- und Soldatenräten gleichsetzte. Außerdem war er die treibende Kraft des „Heimatdienst Bayern“, eines rechten Propagandaunternehmens, das dem bayerischen Ableger der für die Reichsregierung arbeitenden Reichszentrale für Heimatdienst Konkurrenz machen sollte.
All diese Aktivitäten waren die Voraussetzung dafür, dass Gerlich 1920 dank der Vermittlung Cossmanns den neuen Eigentümern der „Münchner Neuesten Nachrichten“ als Chefredakteur empfohlen wurde. Mehrheitlich war die Zeitung in die Hände des aus schwerindustriellen Geldern finanzierten Hugenberg-Konzerns, eines rechtsstehenden Medienimperiums, und des Berg- und Maschinenbauunternehmens Gutehoffnungshütte geraten. Dass Gerlich keinerlei journalistische Qualitäten aufzuweisen hatte, störte die industriellen Besitzer nicht weiter. Für sie war seine politische Gesinnung entscheidend. Gerlich wollte 1922 die demokratische Partei in eine Rechtsfront drängen und sorgte dafür, dass die damals politisch starken Wehrverbände in der Zeitung mit Sympathie behandelt wurden. Obwohl er kein Antisemit war, weswegen ihn Hitlers Förderer Dietrich Eckart attackierte, ging er nicht auf grundsätzliche Distanz zu den Nationalsozialisten. Sein Favorit war allerdings Gustav von Kahr, der als Ministerpräsident die auf Betreiben der Alliierten verlangte Entwaffnung der Einwohnerwehren nicht hatte vollziehen wollen und deswegen zurückgetreten war. Seine Ernennung zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten, mit denen er die radikalen Verbände in den Griff bekommen sollte, war ganz in Gerlichs Sinn. Am Text der Rede, die Kahr am Abend des 9. November 1923 im Bürgerbräukeller hielt, als ihn Hitler mit seinem Putschversuch überraschte, hatte Gerlich mitgearbeitet.
Nach dem Scheitern des Putsches kritisierten die Münchner Neuesten Nachrichten diesen zwar scharf, äußerten aber dennoch moralische Sympathien für die Akteure, insbesondere Hitler. Mit Heinrich Held wurde 1924 erstmals einer der führenden Politiker der Bayerischen Volkspartei Ministerpräsident. Gerlich unterstützte seine Regierung. Zur Außenpolitik Gustav Stresemanns blieb er zuerst in Distanz und lehnte den die Reparationsfrage neu regelnden Dawesplan ab. Dieser war aber im Interesse der Industrie, da er eine Voraussetzung für ausländische Kredite war. Deshalb übte Karl Haniel, einer der Miteigentümer der Gutehoffnungshütte und Mitglied des Verlagsbeirats, Druck aus, worauf Gerlich seinen Kurs änderte. Doch führten die Münchner Neuesten Nachrichten nun keineswegs auch einen konsequenten Kampf gegen Hitler und die Nationalsozialisten; es gab nur einen einzigen Konflikt: Gerlich hielt Hitler vor, er sei bereit, für ein gutes Verhältnis mit dem faschistischen Italien Südtirol zu opfern, was diesen durchaus in eine gewisse Verlegenheit brachte.
Weltanschaulich machte Gerlich dann einen gewaltigen Wandel durch. Ursache war seine 1927 erfolgte Begegnung mit der stigmatisierten Therese Neumann im oberpfälzischen Konnersreuth, die damals öffentliches Aufsehen erregte. Gerlich wurde zu ihrem bedingungslosen Anhänger und ließ sich von ihr inspirieren. Er trat schließlich auch zum Katholizismus über.
Am 15. Februar 1928 attackierte der leicht erregbare Gerlich in angetrunkenem Zustand den Verlagsdirektor. Danach war seine Stellung nicht mehr haltbar. Nach einem letzten Intermezzo als Archivar im Staatdienst wurde er 1930 Leiter des „Illustrierten Sonntag“, eines vom Fürsten Waldburg-Zeil finanzierten Wochenblatts, dem er Anfang 1932 den neuen Titel „Der gerade Weg“ gab. Darin führte er einen rückhaltlosen Kampf gegen Hitler und seine Partei, wobei er auch Geschmacklosigkeiten nicht scheute. Am Abend des 9. März 1933, des Tags der Machtergreifung in Bayern, wurde Gerlich sofort verhaftet und schwer misshandelt. Am 30. Juni 1934 nahm die Gestapo dann den sogenannten „Röhm-Putsch“ zum Anlass, Gerlich ins Konzentrationslager Dachau zu verschleppen und dort ermorden zu lassen.
Gerlichs erster Biograph, Erwein von Aretin versuchte, ihn zu einer Art Supermann zu stilisieren. Danach erhielt Gerlichs Dissertation das Prädikat „summa cum laude“ und im Archivarsexamen sei er mit weitem Abstand der Jahrgangsbeste gewesen. Morsey widerlegt beides. Er hat aus seiner Bewunderung für Gerlich nie ein Hehl gemacht, ist aber viel zu sehr der exakten historischen Wissenschaft verpflichtet, um seine Biographie zu schönen.
Er lässt diesem auch seine spätere Darstellung, wonach seine Propaganda für einen Siegfrieden nur der Aufklärung gedient habe, nicht durchgehen.
Zu Gerlichs 1919 erschienenem Buch über den Kommunismus erwähnt Morsey nur positive Stimmen. Darum sei hier ergänzt, dass nach den Erinnerungen des Rechtsanwalts Philipp Loewenfeld kein Geringerer als der Soziologe Max Weber sich vernichtend über das Buch geäußert haben soll.
Der ehemalige bayerische Minister von Frauendorfer erschoss sich am 23. Juli 1921. Kurz zuvor war ein vernichtender Artikel Gerlichs über ihn erschienen. Morsey stellt Gerlichs spätere Darstellung in den Vordergrund, wonach ihn die Presse völlig zu Unrecht dafür verantwortlich gemacht habe. Die sozialdemokratische „Münchener Post“ zitierte aber immerhin einen Augenzeugen, zu dem Frauendorfer noch kurz vor seinem Selbstmord gesagt hatte, dass er nach dem Artikel keinen anderen Ausweg mehr sehe.
Günther Ohlbrecht hat in einer unveröffentlichten kritischen Schrift zu den Münchner Neuesten Nachrichten die Vermutung geäußert, Gerlich habe in der Nacht des Hitlerputsches einen positiven Kommentar geschrieben. Morsey weist nach, dass dies nicht zutrifft, sondern dass dieser tatsächlich in der „Münchener Zeitung“ stand.
Zu dem Verhältnis von Herausgeber und Chefredakteur der „Münchner Neuesten Nachrichten“ zu den Mehrheitseigentümern der Gutehoffnungshütte hätte wohl der von Morsey nicht herangezogene Briefwechsel Cossmanns mit deren Generaldirektor Paul Reusch im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv weitere Einzelheiten bieten können.
Ein besonderer Aspekt zu der Frage, warum Gerlich sich so heftig gegen den Nationalsozialismus wandte, soll hier erstmals zur Sprache kommen. Gerlich war sehr intolerant. So bekämpfte er im „geraden Weg“ nicht nur rasant den Nationalsozialismus, sondern machte jeden, auch jeden Theologen, nieder, der nur die geringsten Zweifel an Therese Neumann vorbrachte. Schon bevor er am 14. September 1927 in Konnersreuth sein Damaskus erlebte, hatte am 13. August 1927 der „Völkische Beobachter“ das Phänomen Neumann als Schwindel bezeichnet. Das Blatt ließ dazu eine ganze Artikelserie folgen. Dies dürfte Gerlichs plötzlichen Hass auf die Nationalsozialisten erklären.
Morseys Buch ist alles in allem eine bewundernswerte Leistung. Seinem Urteil, Gerlich habe mit seinen prophetischen Warnungen vor der Barbarei des „Hitlerbolschewismus“ Recht behalten, kann man sich ganz und gar anschließen.
Zum Rezensenten:
Dr. Paul Hoser, geb. 1947, ist Historiker und Übersetzer mit einem
Schwerpunkt in Bayerischer Landesgeschichte.
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