Esther Kilchmann (Hg.), Artefrakte. Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst,

Esther Kilchmann (Hg.), Artefrakte. Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016, 304 S., 50,00 EUR, ISBN: 978-3-412-50345-1


Seit Theodor W. Adornos, meist ohne Kontext vielzitierter Feststellung „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch,“ geht mit der Erinnerung an die deutschen NS-Verbrechen immer die Frage nach der angemessenen Form einher. Adorno selbst plädiert in seinem Aufsatz „Engagement“ für die indirekte Darstellung von Leid. Denn das Leid der Opfer solle weder Dritten ästhetischen Genuss bereiten, noch zu einem sinnhaften Schicksal stilisiert werden. Mit Artefrakte. Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst gibt Esther Kilchmann eine Sammlung von Aufsätzen heraus über unterschiedlichste Facetten experimentellen Kulturschaffens. Ihre Einleitung beginnt sie mit einem Verweis auf Adorno. Sie stellt fest, „dass die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, dem Massenmord an den europäischen Juden, der Entrechtung, der Verfolgung und Ermordung politischer Gegner, sozialer und ethnischer Minderheiten, mit der Thematisierung konventionalisierter Sprach- und Darstellungsnormen einhergeht.“ Das ist wohl wahr und die Beiträger_innen beleuchten eben diesen Aspekt in ihren Aufsätzen. Die Möglichkeiten der Kunst treiben jedoch bereits die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts auf eine aporetische Spitze. Seitdem bleibt nur noch die Radikalisierung aller Kunst-Experimente. Kein Wunder also, dass auch die Shoah, der Zweite Weltkrieg und die NS-Verbrechen in experimenteller Form dem kunstinteressierten Publikum präsentiert werden. Kilchmann erläutert den Neologismus des Titels – Artefrakte – folgendermaßen: „Artefrakte stellen nicht das durch die Kunst Gemachte, sondern das von ihr gebrochen Wiedergegebene ins Zentrum.“ Denn: „Die experimentellen Verfahren sind eine Absage an die Vorstellung einer umfassenden, authentischen, letztgültigen Repräsentation der Geschehnisse.“ Außerdem betont sie die enge Verwandtschaft des Experiment-Begriffs mit dem der Erfahrung, was die Beiträger_innen häufig aufgreifen. Dagegen setzen sie die Qualität der Artefrakte als bruchstückhafte Werke implizit voraus.

Mit der Frage nach der Darstellungsnorm geht die nach der Darstellbarkeit einher. Anna Langenbruch zeigt am Beispiel von Luigis Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz, dass vor allem Kritiker_innen einen Topos der Undarstellbarkeit pflegen. Das Werk ist eine Soundcollage. Es beruht auf Nonos Musik für Peter Weiss’ Drama Die Ermittlung über den ersten Frankfurter Auschwitzprozess. Die einzelnen Abschnitte sind im Programmheft mit „Gesang vom Lager“, „Gesang vom Ende der Lili Tofler“ und „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ betitelt. Dadurch seien klare sprachliche Referenzen vorhanden, so Langenbruch, obwohl sie keine „konkret identifizierbaren Klangsituationen, die [sie] mit Auschwitz in Verbindung bringen würde, keine Schüsse, Schreie, Sirenen, Befehle, Krematoriums- oder Gasgeräusche“ heraushört. Die Kritiker_innen deuten die heterogenen Klänge der Soundcollage jedoch überwiegend „dokumentarisch-illustrativ“. Dagegen stellt sie heraus, dass all die Kritiken sehr viel mehr Aufschluss darüber gäben, welche „Klangvorstellung“ von Konzentrationslagern vorherrsche. Das lege „einen dokumentarischen Bedarf offen“, die Geräusche der NS-Zeit zu erforschen. Nonos Komposition wird im Konzertsaal von niemandem aufgeführt sondern vom Tonband abgespielt. Damit ist sie gespenstisch und körperlos. Übersetzt lautet der Titel „Gedenke dessen, was sie dir in Auschwitz angetan haben.“ Das Publikum jedoch ist gemischt und besteht keineswegs nur aus Überlebenden des Nazi-Terrors. Es ist gezwungen, Empathie zu entwickeln. Die Klänge bieten vielfältige Assoziationsmöglichkeiten. Langenbruch hat recht, wenn sie meint, dass das Publikum darüber nachdenken müsse, wie sich Auschwitz angehört haben könnte. Das Darstellungsproblem liegt also nicht so sehr bei den Künstler_innen, als vielmehr bei den Rezipient_innen, die mit einer bestimmten Erwartung an ein solches Stück herangehen und dann die entsprechenden Referenzen heraushören, also nur ihrer Vorstellung gemäß wahrnehmen.

Magdalena Marsza?eks Beitrag behandelt zeitgenössische künstlerische Zugänge zur Shoah in Polen. Dort herrscht seit längerem ein Hype um ‚Reenactments’. Jährlich führen zahllose Freiwillige zum Beispiel historische Schlachten mit authentischen Kostümen auf – organisiert von den eigens dafür geschaffenen Vereinen. Bisher gibt es erst einen Versuch, die Verfolgung der polnischen Juden derartig zu inszenieren. Im Jahr 2008 wird die Nachstellung des Aufstands im Warschauer Ghetto zu dessen 65. Jahrestag doch abgesagt. Im Jahr 2010 allerdings setzen Lehrer_innen eine Nachstellung „der Ghetto-Liquidierung in der oberschlesischen Stadt B?dzin“ durch. Rückblickend betrachtet, so Marsza?ek, sei die Aktion zu einem geschmacklosen Spektakel geraten, bei dem das polnische Publikum, genau wie damals im Jahr 1943, tatenlos zusieht. Nun stünden zahlreiche Handy-Videos davon, teilweise im Retro-Stil nachbearbeitet, im Netz.

Marsza?ek unterscheidet zwischen ludischen Reenactments, die sie wohl eher der Populärkultur zurechnet, und künstlerischen Reenactments, die dann wohl zur Hochkultur gehören. Was diese Unterscheidung aussagen soll, wird nicht klar. Denn die Grenze ist fließend, wie sie selbst feststellt. In beiden Sparten kann es zu krassen Geschmacklosigkeiten kommen, wie zum Beispiel bei der Videoarbeit 80064 von Artur ?mijewski. Er hatte einen freiwilligen Holocaust-Überlebenden gesucht, der sich die tätowierte Nummer auf seinem Arm nachstechen lassen würde. Józef Tarnawa erzählt auf dem Video „von seinem Überleben in Auschwitz und versucht, offensichtlich über die eigene Zusage verunsichert, ?mijewski von dem Vorhaben abzubringen. Der Künstler erinnert ihn aber an die Vereinbarung und der alte Mann lenkt ein.“ Scharfsinnig stellt Marsza?ek fest, dass neben der „moralisch äußerst fragwürdigen Handlung“ vor allem das Problem bestehe, dass das authentische Zeugnis durch eine künstliche Wiederholung seinen Schrecken verliere.

Das Nachspielen überschreibe die tatsächlichen Verbrechen und komme so dem Bedürfnis nach Entlastung von der historischen Schuld entgegen. Besonders deutlich werde das in einer Aktion von Rafa? Betlejewski, der mit dem Verbrennen einer Scheune an das Massaker von Jedwabne, an dem nicht-jüdische Polen aktiv beteiligt waren, erinnern will. Damals wurden Juden in einer Scheune bei lebendigem Leibe verbrannt. Betlejewski zündet eine Scheune an, in die er zuvor Kärtchen mit Schuldgeständnissen der Anwohner_innen gelegt hatte. Er berühre damit ein lange tabuisiertes Thema. Symbolisch wolle er damit den polnischen Antisemitismus verbrennen. Auch das ist eine Strategie, die ein schreckliches Ereignis kontrolliert und geordnet nachstellen und im gleichen Zug die Schuld vernichten soll. Es bleibt die ethische Frage danach, ob es rechtens ist, sich selbst von der Schuld loszusprechen.

Den größten Teil des Sammelbandes machen Artikel über literarische Auseinandersetzungen mit Holocaust und Zweitem Weltkrieg aus. Sebastian Schirrmeister stellt Anna Maria Jokls Erzählband Essenzen vor. Jokl kommt 1911 in Wien zur Welt. Die Familie zieht 1927 nach Berlin. Als Jüdin flieht sie 1933 nach Prag, 1939 weiter nach London und kehrt 1948 zurück nach Berlin. 1965 emigriert sie nach Jerusalem, wo sie im Alter von 90 Jahren 2001 verstirbt. Zu Beginn seines Beitrags zitiert Schirrmeister aus Jokls Exil-Essay Die Wegweiser unserer Zeit aus dem Jahr 1942: „Es muß diese Zeit geschildert werden, da die Hoffnungen über alle Grenzen hinausgehen, da sich, schon deutlich sichtbar, die Umrisse des Kommenden abzeichnen, machtvoll durchschimmern durch das Chaos voll Blut und Tränen, – da sich aus dem Un-Sinn der Sinn ergibt.“ Jokl fordert zur Sinnsuche auf. Die Bemerkung, dass ‚die Hoffnungen über alle Grenzen hinausgehen’, ist so erschütternd, weil sie auch ausdrücken kann, dass Menschen in Konzentrationslagern immer noch hoffen, obwohl dort der Beweis der begründeten Hoffnungslosigkeit schon erbracht wurde, weil es eine Welt ist, wo ‚Sinnlosigkeit direkt erzeugt’ und ‚Leichen produziert’ werden, wie es Hannah Arendt ausdrückt. Schirrmeister legt dar, dass Jokl eigentlich in dem Essay den Plan fasse, einen Roman „dieser Zeit“ zu schreiben. Erst 50 Jahre später jedoch im Jahr 1993 publiziert sie den Erzählband Essenzen, den sie im Vorwort als „Hieroglyphe unserer Epoche“ bezeichnet und damit den Bezug zu dem früheren Vorhaben herstelle. Essenzen enthält autobiographisch gefärbte Episoden, die nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind. Das ist vor allem das Experimentelle daran. Dabei erzählt sie die Geschichte einer österreichisch-deutschen Jüdin im 20. Jahrhundert. Die Konfrontation mit der Shoah ist immer indirekt und oft vermittelt durch mehrere Instanzen, wenn die Erzählerin zum Beispiel durch Gespräche mit Hinterbliebenen von der Deportation und dem Mord an Franz Kafkas Schwester Otla erfährt. Unter dem Titel „Würde“ erzählen zwei Überlebende je auf einer halben Seite kurze Episoden aus dem KZ. Das ist die direkteste Annäherung, in der nur ein mündlicher Erzähler als Vermittler vorhanden ist. Unter anderem wird eine Situation geschildert, in der dänische Polizisten, die offenbar Neuankömmlinge sind, vor Leichen ihre Mützen abnehmen. Der Erzähler selbst ist darüber erstaunt, hier seine verstorbenen Mithäftlinge als Menschen behandelt zu sehen. Spannend ist Schirrmeisters Beobachtung, dass unter ‚Zeitenwende’ in diesem Roman nicht unbedingt ‚Umbruch’ zu verstehen sei, sondern ein verändertes Zeitverständnis. Die Shoah als Erinnerung ist zu allen Zeiten präsent. Es geht „nicht mehr um die Shoah selbst, sondern um ihren die Gegenwart [und die Vergangenheit, Anm. d. Verf.] überragenden Schatten“, wie Katrin Hoffmann es am Ende ihres Artikels über ‚elliptische Literatur’ formuliert. Darin könnte sich, so Schirrmeister, „das zyklische, synchrone Zeitmodell der jüdischen Tradition, das die Ko-Präsenz und wechselseitige Durchdringung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft denken kann“, spiegeln. Jokl schreibt in ihrem Vorwort: „Wäre jede Phase eine Glasplatte, auf jeder ihr spezielles Zeichen eingeritzt, alle übereinandergelegt und mit einem Blick von oben durchschaut – somit der Zeitablauf aufgehoben –, mag eine Hieroglyphe unsrer Epoche sichtbar werden.“ Wieder dreht sich alles um das Verstehen des Sinnlosen, eine Darstellung des Ausdruckslosen, einen angemessenen Umgang mit dem Leid der Opfer und dem Aufrechterhalten der Erinnerung trotz allem.

Artefrakte ist ein ‚klassischer’ Sammelband, in dem das Thema ‚Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Kunstwerken’ nicht umfassend und erschöpfend behandelt wird. Der Gegenstand der Shoah überwiegt darin übrigens bei weitem. Es wäre zwar möglich, eine Enzyklopädie der künstlerisch experimentellen Umgangsformen mit ‚Holocaust und Zweitem Weltkrieg’ zu schreiben. Doch das Problem dieser enzyklopädischen Ansätze ist ein anderes. Vielleicht ist es gravierender. Darin halten Expert_innen den Mainstream fest. Die Herausgeber_innen müssen die wichtigen Themen zusammenstellen und die kanonischen Beispiele aufspüren. Für Randständiges ist darin kein Platz. Ganz anders im offen angelegten Sammelband. Er ist ein Schatzkästchen, in dem Interessierte unbekannte Künstler_innen und Denker_innen entdecken können.

Woran es allerdings hakt, ist die Nachahmung einer enzyklopädischen Struktur, die scheitern muss. Denn warum zählen Performances polnischer Künstler zu ‚Film, Popkultur und Neue Medien’ und nicht zu ‚Theater, Tanz, Musik’? Die Kapitelüberschriften benennen hauptsächlich Formen: ‚III. Literatur’, ‚II. Film, Popkultur, Neue Medien’ und ‚I. Theater, Tanz, Musik’. Das Label (?) ‚Popkultur’ ist fehl am Platz. In jeder der Kunstformen gibt es populäre Werke. Es herrscht in dem Sammelband teilweise der leichte Unterton, dass nur anspruchsvolle ‚E-Kunst’ überhaupt zu angemessenen Darstellungsformen der Shoah finden kann. Art Spiegelmans Comic Maus wäre ein Gegenbeispiel als experimentelle Form, die aus der Subkultur kommt.


Zur Rezensentin:
Julia Ingold ist Doktorandin und Lehrbeauftragte am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.


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