Helmut Zander, „Europäische“ Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich, Walter de Gruyter GmbH: Berlin / Boston 2016, ISBN 978-3-11-041783-8, VII + 635 Seiten, 99,95 €
Seit Burkhard Gladigows Vortrag über „Europäische Religionsgeschichte“, gehalten 1993 auf der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte,[1] hat sich unter dieser Bezeichnung eine Forschungsrichtung etabliert, die in positioneller, methodischer und thematischer Hinsicht Engführungen der Kirchengeschichtsforschung überwinden will.[2] Mit Recht wird kritisiert, dass die Kirchen- und Christentumsgeschichte sowie die europäische Religionsgeschichte nach der Christianisierung aus dem Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft ausgegliedert und nahezu ausschließlich der historischen Theologie zugewiesen wurden. Die wichtigste Publikation dieser Forschungsrichtung war bisher das von Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad herausgegebene zweibändige Handbuch „Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus“ (Göttingen 2009). Spezifika der europäischen Religionsgeschichte sehen Vertreter der Forschungsrichtung z.B. im Pluralismus, in der Professionalisierung von Religion und damit verbunden in der Rolle, welche die Wissenschaft in der europäischen Religionsgeschichte spielte.
Helmut Zander ist der Erste, der innerhalb dieser Forschungsrichtung als Einzelperson eine umfassende Darstellung der europäischen Religionsgeschichte vorgelegt hat. Das bedeutet nicht, dass er „einen historischen Überblick“ gegeben hätte. Ihm ist bewusst, dass das „ein hypertrophes Unternehmen“ (S. 57) gewesen wäre. So beschränkt er sich darauf, eine These zur Eigenart der europäischen Religionsgeschichte zu formulieren und diese an ausgewählten Themen durchzuführen und zu plausibilisieren. Dennoch bleibt es ein anspruchsvolles Projekt, das dem Autor konzeptionell und quantitativ viel abverlangt. Indem er im Titel seines Werkes ‚europäische‘ in Anführungszeichen setzt, markiert er, dass er mit der räumlichen Abgrenzung seines Gegenstandes angesichts der Unschärfe des Europabegriffs eine normative Position bezieht: „Der Ausgangspunkt meiner historischen Selektion ist grosso modo das EU-Europa mit einem offenen Kranz von Nachbarstaaten, mithin steuert eine aktuelle politische und kulturelle Größe die Wahrnehmung historischer Prozesse. Es geht mit anderen Worten um die Geschichte von Traditionen, die in das heutige, größtenteils von der Europäischen Union abgedeckte Europa eingeflossen sind.“ (S. 15)
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil „Festlegungen“ entfaltet die konzeptionellen Vorentscheidungen (1. Kapitel), die das Verständnis zentraler Begriffe (‚Europa‘, ‚Religion‘, ‚Entscheidung‘) und der (europäischen) Religionsgeschichte betreffen, und vermittelt unter dem Titel „Religionsgeschichtliche Stationen“ (2. Kapitel) „strukturell wichtige Rahmeninformationen“ (S. 57), z.B. über die Bedeutung, die der Bildung und den Beziehungen zwischen den Religionen im okzidentalen Christentum zukommt. Der zweite Teil „Systemwechsel“, der mit dem 3. Kapitel „Entscheidung“ zusammenfällt, entwickelt die zentrale These des Buches, dass die Zugehörigkeit aufgrund von Entscheidung das spezifische Merkmal der europäischen Religionsgeschichte sei. Im dritten Teil „Konsequenzen“ versucht Zander zu zeigen, wie sich dieses Zugehörigkeitskonzept in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern ausgewirkt hat.
Von dem augenblicklich vorherrschenden Konzept der Europäischen Religionsgeschichte grenzt sich Zander in dreifacher Weise ab:
1. Da die Vertreter der Europäischen Religionsgeschichte die Pluralität als wesentliches Merkmal ansähen, habe sich ihr Forschungsinteresse „auf die Erforschung von Minderheiten oder als ‚heterodox‘ ausgegrenzter Gruppen“ konzentriert. Das ist nach Zander „faktisch eine neue Verengung“ (S. 30). Dagegen versucht er, ohne das Bild eines christlichen Europas wiederbeleben zu wollen, der Rolle des Christentums als der hegemonialen Religion der europäischen Religionsgeschichte gerecht zu werden. – Ob jedoch im Blick auf die vorherrschende Konzeption der Europäischen Religionsgeschichte von einer Verengung der Forschung gesprochen werden kann, ist fraglich. So hält z.B. Christoph Auffarth, der auf die Bedeutung der „mitlaufenden Alternativen“ hinweist, fest: „Die institutionell verfassten, die großen Religionen (Christentum, Judentum, Islam) müssen zentral vorkommen in einer“ Europäischen Religionsgeschichte.[3] Faktisch ist eine Verlagerung des Interesses hin zu den ‚mitlaufenden Alternativen‘ festzustellen, aber eine prinzipielle Verengung liegt nicht vor.
2. Die Vertreter der Europäischen Religionsgeschichte vernachlässigen die Komparation. Aber „nur komparativ“ könne man „das Europäische an einer europäischen Religionsgeschichte bestimmen“ (S. 30). Zanders Buch versucht, dieser Forderung nach Komparation gerecht zu werden. Neben dem in der europäischen Religionsgeschichte dominanten Christentum werden besonders Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus in den Vergleich einbezogen. – In seiner Forderung nach Komparation ist Zander uneingeschränkt zuzustimmen. Er geht allerdings ein hohes Risiko ein, indem er als einzelner Autor den Vergleich in dieser Breite durchführt und dabei starke Thesen nicht scheut. Seine Ergebnisse mögen nicht immer überzeugend sein, aber mit seinen Ausführungen bietet er eine inspirierende Grundlage für weitere Forschungen.
3. Mit Recht kritisiert Zander, dass „Pluralität oder ‚Pluralismus‘“ als „Spezifikum“ (S. 30) der europäischen Religionsgeschichte identifiziert wird. Er schreibt das der fehlenden komparativen Perspektive zu. – Tatsächlich ist kaum nachzuvollziehen, wie man angesichts z.B. der indischen Religionsgeschichte Pluralität oder Pluralismus als Spezifikum der europäischen ansehen kann. Man hat den Eindruck, dass Vertreter der Europäischen Religionsgeschichte sich in ihrer berechtigten Opposition gegen eine einseitige Fixierung auf das Christentum zu einer überzogenen These haben verleiten lassen, die weder der europäischen Religionsgeschichte als solcher noch ihrer Stellung im Rahmen der globalen Religionsgeschichte gerecht wird.
Zander sieht als Besonderheit der europäischen Religionsgeschichte an, dass die „Zugehörigkeit zu einer religiösen Tradition (später: Religion) [...] nicht mehr durch Geburt begründet, sondern durch eine freie Entscheidung festgelegt“ und dass diese Zugehörigkeit „exklusiv sein“ (S. 3) sollte. „Die entscheidende Gruppe für die nachhaltige Etablierung einer auf Entscheidung beruhenden, exklusiven Mitgliedschaft war“ nach Zander „das antike Christentum“ (S. 121). In seiner These spiegelt sich wider, dass Zander der hegemonialen Stellung des Christentums gerecht zu werden versucht. Es liegt nahe, diese Bestimmung der Eigenart der europäischen Religionsgeschichte mit dem Argument zurückzuweisen, dass aufgrund der Kindertaufe für die überwiegende Mehrheit und die meisten Zeiten die Zugehörigkeit aufgrund von Entscheidung praktisch keine Rolle gespielt habe (vgl. S. 162 f.). Zander verweist jedoch darauf, dass die Idee der Zugehörigkeit aufgrund von Entscheidung in das kollektive Gedächtnis eingegangen sei und seine „Einforderung“ immer „aktualisierbar“ (S. 121; vgl. S. 137 f., 348) bleibe. „Das Konzept der entschiedenen, exklusiven Zugehörigkeit blieb eine Referenz, die nur in kontextuellen Aktualisierungen wirksam wurde. Aber aufgegeben wurde sie nie.“ (S. 50) Aktualisiert wurde sie z.B. in der Täuferbewegung der Reformationszeit (vgl. S. 166, 348 f.). Trotz dieser Differenzierungen ist Zanders These nicht überzeugend. Denn auch wenn die entschiedene Zugehörigkeit aktualisiert wurde, geschah das nur in religiös stark engagierten Minoritäten.
Die „Konsequenzen“, die Zander im dritten Hauptteil thematisiert, erstrecken sich auf vier gesellschaftliche Felder. Im 4. Kapitel untersucht er die Auswirkung auf die Bedeutung der Schriften für Religionen, genauer: „die Wahrnehmung von Religionen über einen ‚Kanon‘ von Schriften“ (S. 355). In der Verwendung von Schriften erkennt Zander keine „absolute“, sondern nur „eine modale Differenz“ (S. 458) zwischen Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus. Als provozierende Einzelthesen, die hier nicht diskutiert werden können, formuliert Zander, dass es im Christentum „eine ‚absolute‘ Kanonisierung [...] erst in der Frühen Neuzeit und nur in der lateinischen Kirche“ (S. 393), also noch nicht in der Alten Kirche gegeben habe und dass der Pali-Kanon des Theravada-Buddhismus „als absoluter Kanon ein Produkt des Okzidentalismus“ sei, der die „Konstruktionsmechanismen“ (S. 459) der westlichen Religionen Judentum und Christentum auf den Buddhismus übertragen habe. Dass der Kanon und der Schriftgebrauch im Okzident eine Auswirkung des Konzepts entschiedener Zugehörigkeit sei, zeigt Zander nicht überzeugend.
Während sich Zander mit dem Thema „Schrift“ noch im ‚Kernbereich‘ der Religionen bewegt, begibt er sich mit den drei anderen Themen „Stadt“ (5. Kapitel), „Universität“ (6. Kapitel) und „Neuzeitliche Naturforschung" (7. Kapitel) auf entlegenere Felder. Mit Recht bezieht er die Frage, wie sich das Christentum auf diesen Feldern ausgewirkt habe, in seine ‚europäische‘ Religionsgeschichte ein, ohne die okzidentale Entwicklung auf diesen Feldern ‚eindimensional‘ ‚ausschließlich religionshistorisch‘ (vgl. S. 514) erklären zu wollen. Zanders These ist, dass sich die Vergemeinschaftungsformen, die sich im Okzident auf diesen Feldern entwickelten, ohne das Konzept entscheidungsbasierter Zugehörigkeit nicht ausgebildet hätten: nämlich die ‚gruppenorientierte Partizipation‘ und schließlich die Demokratie (vgl. S. 484) in der Stadt, „die regulative Idee einer selbstorganisierten Gemeinschaft für die freie Wissenssuche“ (S. 499) in der Universität und die „Existenz frei gebildeter Assoziationen“ (S. 538) im Bereich der Naturforschung.
Mit Zanders Buch ist die Frage nach der Eigenart der europäischen Religionsgeschichte nicht abschließend beantwortet. Die Zugehörigkeit aufgrund von Entscheidung ist sicherlich ein wichtiges Element der europäischen Religionsgeschichte, aber wenn sie zu dem Spezifikum gemacht wird, wird die Bedeutung dieses Elementes überbewertet. Da dieses Konzept häufiger in die Latenz abgedrängt war, als dass es sich prägend auswirkte, überzeugt die Annahme nicht, dass es „alle anderen Optionen für eine Vergemeinschaftung in der okzidentalen und später europäischen Religionsgeschichte marginalisiert“ (S. 354) habe.
Möglicherweise geht der Versuch, ein inhaltliches Merkmal als Spezifikum zu identifizieren, ins Leere. Zanders Überlegungen zur Stellung des Christentums in der europäischen Religionsgeschichte aufnehmend, legt sich meines Erachtens nahe, als wichtiges Merkmal der europäischen Religionsgeschichte seit dem 4. Jahrhundert eine Konstellation anzusehen: der Hegemonie des Christentums als Anspruch und als Wirklichkeit. Der Anspruch geht über die Wirklichkeit hinaus, in verschiedenen Zeiten, Räumen und Kreisen in unterschiedlichem Maß. Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit schafft Raum für Pluralität, selbst im Mittelalter.[4] Eine wichtige Aufgabe der Europäischen Religionsgeschichte wäre daher zu beschreiben, wie und in welchem Maß sich die wirkliche und die beanspruchte Hegemonie des Christentums im religiösen Feld ausgewirkt hat. Aber selbst diese Hegemonie oder Dominanz kann nicht als Spezifikum identifiziert werden, weil auch im Blick auf Amerika seit der Eroberung durch die Europäer von einer wirklichen und beanspruchten Hegemonie des Christentums gesprochen werden kann. Möglicherweise ist die Suche nach einem Spezifikum also ein Irrweg. Vorläufig legt sich nahe, die Forschungsrichtung „Europäische Religionsgeschichte“ nicht über ein Spezifikum der europäischen Religionsgeschichte, sondern bescheiden über die Aufgabe zu definieren, die religiösen Traditionen Europas in ihrer Vielfalt und ihren Beziehungen zu untersuchen.
Zander hat mit seinem Werk einen gewichtigen Beitrag zur Europäischen Religionsgeschichte vorgelegt. Auch wenn die Grundthese überspitzt sein dürfte, ist es ein Verdienst, dass er in komparativer Perspektive die Frage aufgeworfen hat, welche Bedeutung dem Konzept entschiedener Zugehörigkeit zukommt. Viele der Einzelausführungen sind anregend. Die Geschlossenheit des Buches wird jedoch dadurch gestört, dass der Zusammenhang mit der grundlegenden These in manchen Passagen (z.B. im 4. Kapitel) aus dem Blick gerät.
Zum Rezensenten:
Prof. Dr. Michael Hüttenhoff, geb. 1958, ist Professor für Historische und Systematische Theologie am Institut Evangelische Theologie der Universität des Saarlandes.
[1] Burkhard Gladigow,
Europäische Religionsgeschichte, in: ders.,
Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, hrsg. von Christoph
Auffarth und Jörg Rüpke (Religionswissenschaft heute 1),
Stuttgart 2005, S. 287-301
[2] Wenn die Forschungsrichtung gemeint ist, schreibe ich „Europäische Religionsgeschichte“, wenn ihr Gegenstand gemeint ist, dagegen „europäische Religionsgeschichte“.
[3] Christoph Auffarth, Europäische Religionsgeschichte – ein kulturwissenschaftliches Projekt, in: Richard Faber / Susanne Lanwerd (Hrsg.), Aspekte der Religionswissenschaft, Würzburg 2009, S. 29-48, hier: S. 37.
[4] Vgl. z.B. Christoph Auffarth (Hrsg.), Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der europäischen Religionsgeschichte (Religionen in der pluralen Welt. Religionswissenschaftliche Studien 1), Berlin 2007.
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