Judith Neff, Pädagogik aus Religion? Theologische Sprache und Religion bei Montessori und in der religionspädagogischen Montessorirezeption, Berlin 2016 (Ökumenische Religionspädagogik, Vol. 9), 2 Bände, 835 S., 79,90 €, ISBN 978-3-643-13258-1
Die Frage nach der Religion in der Pädagogik Maria Montessoris
gehört ohne Zweifel zu den spannendsten Feldern der
pädagogischen Historiographie im Hinblick auf das 20. Jahrhundert.
Nicht nur aufgrund der Ambiguität von Montessoris religiöser
Semantik, die zwischen vorkonziliarer katholischer Dogmatik, Esoterik
und biologistischer Metaphysik changiert, sondern vor allem auch
aufgrund der bis heute ungebrochenen Begeisterung an Montessori, ihren
Methoden – und vielleicht mehr noch – den von ihr geprägten
pädagogischen Slogans, wovon die Forderung nach einer Erziehung
‚vom Kinde aus‘ sicherlich der erfolgreichste war.
Vor diesem Hintergrund ist das Anliegen der Verfasserin, die Frage nach
der Religion bei Montessori in einer grundsätzlicheren und
umfassenderen Weise zu stellen, als es bisher vielleicht getan wurde,
mehr als wünschenswert. Zumal das zweibändige Werk auch
explizit die ‚religionspädagogischen‘ Texte der italienischen
Ärztin und Erzieherin in den Blick nimmt, was zumindest von der
historischen Bildungsforschung eher vernachlässigt wurde. Da es
sich um eine religionspädagogische Dissertation handelt, kommt
zudem die Aufarbeitung der Rezeption Montessoris in der konfessionellen
Religionspädagogik hinzu. Hierzu werden sowohl katholische als
auch protestantische Anknüpfungen dargestellt und besprochen,
weshalb die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ‚Ökumenische
Religionspädagogik‘ nur folgerichtig ist.
Im ersten Teilband findet sich die äußerst umfangreiche, den
Primärtexten genau folgende Darstellung der religiösen
Aspekte in der Pädagogik Montessoris. Auf eine Reihe zentraler
allgemeiner Erziehungsschriften folgen die in einem engeren Sinn
katechetischen Texte, die sich durch eine Affinität zu
katholischer Semantik auszeichnen. Ergänzt wird dieser
Überblick mit einer Rekonstruktion der Texte zur kosmischen
Erziehung und schließlich einer Zusammenfassung, die auch ihre
religiöse Rhetorik berücksichtigt. Der Vorstellung dieser
Texte geht eine ebenfalls recht umfassende Erörterung zur
Problematik einer theologisch argumentierenden Erziehung voraus, die
mit Fritz Osterwalder, Ralf Koerrenz, Meike Sophia Baader und
Jürgen Oelkers einige der wichtigsten Stimmen zur
Forschungsperspektive pädagogischer Sakralität vereint und
als theoretische Basis für die Auseinandersetzung mit Montessori
angekündigt wird (S. 20). Von hier aus konkretisiert die
Verfasserin ihre Untersuchung mit einer Reihe von Leitfragen. Besonders
vielversprechend ist etwa die Frage nach der Stellung der Religion in
Montessoris Denken: Hat sie vielleicht eine eigene pädagogische
Religion verkündet? Wäre sie in diesem Fall für die
konfessionelle Pädagogik bzw. Religionspädagogik
überhaupt sinnvoll rezipierbar (S. 128f)?
Die frühe wie die neuere Rezeption Montessoris in der
Religionspädagogik bildet den Fokus des zweiten Teilbandes, der
mit zwei Schlusskapiteln endet, wovon das eine nochmals die Problematik
der Religion in der Pädagogik Montessoris aufgreift, während
das andere Impulse für die aktuelle Religionspädagogik
verspricht.
Dass Montessori die Begründerin eines theologisch fundierten
Erziehungskonzepts ist, steht für die Verfasserin außer
Zweifel (S. 228 u. 789f). Darin deckt sich ihre Analyse der Quellen mit
den hierzu maßgeblichen Autorinnen und Autoren. Zugleich
hält sie differenzierend fest, dass Montessori auch
pädagogisch argumentierte, insofern sie an den
zeitgenössischen entwicklungspsychologischen Diskurs
anknüpfte (S. 94, 265 u. 789). In diesem Zusammenhang sind vor
allem das Bild des Kindes und damit die Anthropologie Montessoris von
Bedeutung. Das den Erziehungsinstanzen ausgesetzte Kind, in dem sie den
leidenden Christus wiedererkennt (christliche Semantik) und dazu
ergänzend oder alternativ den im Kind verborgenen natürlichen
Bauplan als Gegenwart des Absoluten im Kind (universale oder
evolutionstheologische Semantik) zeigen eine konsequente Sakralisierung
des Kindes, wie auch von der Verfasserin kritisch vermerkt wird (S. 71
u.133).
Die zentralen methodischen Folgen von Montessoris Anthropologie sind
vor allem die ‚vorbereitete Umgebung‘ und die ‚Selbsttätigkeit des
Kindes‘, die letztlich die Offenbarung des göttlichen Geheimnisses
im Kind ermöglichen sollen. Diese Elemente wurden in der Rezeption
stark aufgegriffen. Dementsprechend tauchen sie in der Darstellung der
Wirkungsgeschichte Montessoris aus dem jeweiligen Blickwinkel der
rezipierenden Autorinnen und Autoren immer wieder auf. Hierin liegt
auch die Stärke der Arbeit, denn die Verfasserin bietet den
Leserinnen und Lesern in ihrem Werk einen umfassenden und – im Sinne
Michel Foucaults – archäologischen Einblick in das theologische
‚Archiv‘ der Montessori-Pädagogik [1].
Texte Montessoris, die
Bezüge zur christlichen Dogmatik, zur Sakralität des
reformpädagogischen Diskurses oder zu Montessoris eigener,
synkretistischer Religionsauffassung [2]
aufweisen, werden inhaltlich
paraphrasiert und interpretiert. Dies gilt in gleicher Weise für
die Genealogie der von Montessori inspirierten Erzieherinnen und
Erzieher und ihrer Adaptionen. Dadurch erschließt sich den
Leserinnen und Lesern zu einem guten Teil zugleich die Geschichte der
Konstitution und Entfaltung der (hier vor allem katholischen)
Religionspädagogik im 20. Jahrhundert in einer europäischen
Perspektive. Deren Etablierung erfolgte in engem Zusammenhang mit der
Reformpädagogik, von der die Religionspädagogik vor allem die
Idee der Hinwendung zum Subjekt sowie subjektorientierte Lernformen
übernahm. Interessant ist dabei, dass die Vorbehalte
gegenüber Montessori im deutschen Kontext vor allem in einem
befürchteten Objektivitätsverlust des Glaubens lagen. In
ähnlicher Weise wurde auch im Zusammenhang mit der Rezeption
Friedrich Wilhelm Foersters durch die Katechetik im frühen 20.
Jahrhundert von Kritikern dieses (angeblichen) Perspektivwechsels
argumentiert [3].
Montessoris frühen katholischen
‚Anhängern‘, zu denen z.B. der spanische Geistliche Casulleras
zählte, dessen Interesse an ihrer Methode geradezu zu einem
Katalysator für ihr katechetisches Nachdenken wurde, fiel dies
hingegen nicht auf – genauso wenig wie etwa dem tschechischen
Religionspädagogen František Tomášek, der in der Erziehung
zur Normalisation einen Vorteil für den Menschen zu erkennen
glaubte, weil dieser dadurch umso besser die göttliche
Gnadenzuwendung aufnehmen könne (S. 386-389). Dies ist
bemerkenswert, denn offenbar war Montessoris Methode für einen
umfassend auf die Person zugreifenden Katholizismus jener
antimodernistischen Epoche äußerst brauchbar.
Innerhalb der religionspädagogischen Zunft war es erst Horst-Klaus
Berg, der zwar an Montessori anknüpfte, zugleich ihre explizit
religiöse Erziehung, d.h. vor allem ihre liturgische
Propädeutik, kritisch analysierte und darin einen Mangel an
Freiheit konstatierte (S. 674). Vielleicht bedurfte es gerade eines der
Freiheit verpflichteten protestantischen Theologen wie Berg, damit dies
auffallen konnte? Allerdings ist Bergs Analyse doch auch
überraschend, sieht er doch in den ausdrücklich
katechetischen Konzeptionen einen Widerspruch zur ansonsten die
Freiheit des Kindes hochschätzenden Anthropologie Montessoris (S.
672). Wäre es nicht spannend gewesen, wenn die Verfasserin an
dieser Stelle nachgebohrt hätte? Vielleicht hätte sich
gezeigt, dass hier weniger ein Widerspruch als eine Konstante bei
Montessori vorliegt, denn Freiheit ist – und hier täuscht ihre
Semantik bisweilen – weder ein Element ihrer Anthropologie noch ihrer
Theologie, worauf sowohl Winfried Böhm als auch Beate Klepper
hingewiesen haben. Böhm kommt in seiner Analyse von Montessoris
Gnadenverständnis zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine
statische Sichtweise handelt. Deutlich wird dies am Motiv des inneren
Bauplans, dem der Mensch Gehorsam schuldet. Eine christliche
Pädagogik, wie sie Böhm im Personalismus zu erkennen glaubt,
ist mit Montessoris Gnadenverständnis schwerlich kompatibel [4].
Klepper hält fest, dass sich der Normalitätsbegriff bei
Montessori an einer idealen, tieferen Natur orientiert, die sich bei
optimalen Erziehungsbedingungen, wie sie die Montessori-Pädagogik
bereitstellt, zeigen kann. Jede andere Entwicklung wäre aus Sicht
Montessoris Devianz, so dass Freiheit von ihr allenfalls biologisch,
nicht aber moralisch oder christlich aufgefasst wird. Freiheit ist
für sie Gehorsam gegenüber einer verborgenen aber doch sich
offenbarenden Wirklichkeit [5].
Frappierend ist in diesem Zusammenhang,
dass die Verfasserin Böhms Interpretation zum
Gnadenverständnis Montessoris kennt, als Religionspädagogin
daraus aber keine Konsequenzen zieht (S. 487-494). Der von Berg
konstatierte Mangel an Freiheit durchzieht Montessoris Denken und
Methode viel stärker, als er zuzugeben vermag und gerade die
Selbsttätigkeit in der ‚vorbereiteten Umgebung‘ ist schon von
ihrer ursprünglichen Fassung bei Jean-Jacques Rousseau alles
andere als freiheitlich – denn das Lernarrangement sichert die
Herrschaft des Erziehers über das Kind [6]. Ob diese
Einschränkung durch die Verpflichtung des Erziehers auf die gute
Entfaltung der Natur (Rousseau) oder den Bauplan (Montessori)
gerechtfertigt ist, kann bezweifelt werden. Auch hier hätte die
Verfasserin aus religionspädagogischer Perspektive stutzig werden
müssen. Wenn Montessori schreibt, dass sie sich nicht an die
konkreten Kinder, die sie erzogen hat, erinnert und auch kein Interesse
daran habe, was aus ihnen geworden sei, sondern sie vielmehr in ihnen
die „unbekannten Soldaten eines Sieges des Geistes“ (S. 344) sah und
darin einem nichtpersonalen Gott oder einem letzten Weltprinzip Tribut
zollte, müsste doch spätestens deutlich werden, dass eine
christliche Pädagogik, die an Kindern als Personen (Plural!)
interessiert ist, schlecht beraten ist, wenn sie sich, wie z.B. im
Marchtaler Plan, ausgerechnet auf Montessori beruft. Hier hätte
eine Chance der Arbeit darin gelegen, das ja auch von der Verfasserin
festgestellte, oftmals naive Interesse der Religionspädagogik an
reformpädagogischen Konzepten nicht nur kritisch zu hinterfragen,
sondern Montessori auch ins ‚Kreuzverhör‘ zu nehmen und eigene,
z.B. biblisch orientierte religionspädagogische Kriterien zu
entwickeln.
Die oben genannten Punkte stellen Einwände gegen die Konzeption
der Arbeit dar, die bei der Lektüre immer schon mitschwingen,
jedoch erst im Resümee ganz deutlich werden. Während der
theoretische Einstieg in die Arbeit einen historisch-kritischen Zugang
zu Montessoris Archiv vermuten lässt (Teil 1), geht das Buch im
weiteren Verlauf jedoch dazu über, Montessoris Pädagogik oder
doch zumindest ihre Grundideen zu ‚retten‘, was in den nicht organisch
aus der Arbeit entwickelten Impulsen für die aktuelle
Religionspädagogik deutlich wird. Der Ertrag der
Auseinandersetzung mit dem Archiv scheint neben der Forderung an die
Montessori-Pädagogik, ihre eigenen theologischen Wurzeln
aufzuarbeiten, lediglich in der bereits vielfach formulierten
Aufforderung zu bestehen, sich Montessoris Texten in kritischer Distanz
zu nähern – was die Autorin jedoch selbst nicht immer
durchhält (vgl. exemplarisch S. 705, wo vielleicht vorschnell das
Motiv der Hilfe zur Selbsthilfe als „genuines Merkmal der
Montessori-Pädagogik“ betrachtet wird und dadurch der Eindruck
einer positiven Würdigung entsteht). Schließlich ist auch
fraglich, ob Montessori als Kronzeugin einer an empirischer Kindheit
orientierten Entwicklungspsychologie gelten und damit Aktualität
beanspruchen kann. Ihre Kompetenz als Kinderpsychologin ist jedenfalls
eher zweifelhaft [7]. Die
vielen interessanten Fragen, die am Anfang
gestellt wurden, spielen am Ende der Arbeit leider kaum mehr eine Rolle.
Als Archiv zur Theologie in Montessoris Werk liegt mit diesem
Doppelband endlich ein fundierter Gesamtüberblick vor, der auch
die Rezeptionsgeschichte für die Religionspädagogik abdeckt.
Es wäre schön, wenn das Buch auch in der
Erziehungswissenschaft und in den Fachdidaktiken seine Leserinnen und
Leser finden würde. Gerade in den Letzteren findet angesichts des
Hypes um selbsttätiges und entdeckendes Lernen vielfach ein
ahnungsloser Rückgriff auf Reformpädagogik statt, der nicht
selten die Kinder als kleine Forscherinnen und Forscher verklärt
und die Ursache mangelnden Interesses allein in einer
unangemessenen Unterrichtsplanung sieht. Weiterführende
Konsequenzen oder neue religionspädagogische Erkenntnisse bietet
das Buch nicht direkt. Es offeriert jedoch eine Fülle an
strukturiertem und gut aufbereitetem Material zum eigenen kreativen
Weiterdenken.
Zum Rezensenten:
Dr. Alexander Maier, geb. 1977, ist Studienrat im Hochschuldienst für Religionspädagogik an der Universität des Saarlandes.
[1] Vgl.: Christian Bauer:
Transgressionen der Moderne. Grenze und
Horizont einer Theologie nach Gottes und des Menschen Tod. In: Ders. u.
Michael Hölzl (Hrsg.): Gottes und des Menschen Tod? Die Theologie
vor der Herausforderung Michel Foucaults, Mainz 2003, 19-47, 25.
[2] Vgl.: Meike Sophia Baader: Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim 2005, 266 sowie: Birgitta Fuchs: Die Grundlagen der religiösen Erziehung bei Maria Montessori. In: Dieselb. u. Winfried Böhm (Hrsg.): Erziehung nach Montessori, Bad Heilbrunn 2004, 101-114, 113.
[3] Vgl.: Hans-Georg Ziebertz: Die Foerstergefahr. F.W. Foerster und die Reform der Katechese zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Religionspädagogische Beiträge 39 (1997), 195-214.
[4] Vgl.: Winfried Böhm: Gnade und Erziehung. Ein Problemaufriß im Anschluß an Augustinus, Rousseau und Maria Montessori. In: Ders. u. Birgitta Fuchs (Hrsg.): Erziehung nach Montessori, Bad Heilbrunn 2004, 85-100, 91 u. 97.
[5] Vgl.: Beate Klepper: Gnade und Erziehung. Historisch-systematische Untersuchungen zu einer pädagogischen Kontingenzbewältigungsstrategie, Würzburg 2003, 77.
[6] Vgl.: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung, Paderborn 131998, 74.
[7] Vgl.: Günther Bittner u. Volker Fröhlich: Maria Montessori und die Psychoanalyse. In: Waltraud Harth-Peter (Hrsg.): ‚Kinder sind anders‘. Maria Montessoris Bild vom Kinde auf dem Prüfstand, 103-127, 124.
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