Rezension Strotmann

Stefan Schreiber / Thomas Schumacher (Hrsg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach „Nostra Aetate“, Freiburg – Basel – Wien: Herder 2015, 316 S., geb. 28,- €, ISBN 978-3-451-31566-4

Wie der Titel andeutet, steht im Zentrum des von zwei Neutestamentlern herausgegebenen Sammelbandes zum 50. Jahrestag der Verabschiedung der Erklärung „Nostra Aetate“ (abgekürzt: NA) nicht das Konzilsdokument als Ganzes, sondern das zentrale vierte Kapitel (NA 4), mit dem die römisch-katholische Kirche ihr bis dahin hoch ambivalentes bis abwertendes Verhältnis zum Judentum radikal neu auszurichten begann. Die Herausgeber nehmen den Jahrestag zum einen als Anlass, um Entstehung, Bedeutung und Wirkungsgeschichte von NA 4 in den Blick zu nehmen, zum anderen, um sich kritisch mit seiner Rezeption in den Bibelwissenschaften auseinanderzusetzen. Ansatzpunkt ist dabei die auch von der Rezensentin gemachte Beobachtung, dass der durch NA eingeleitete Paradigmenwechsel sich in der Bibelexegese noch längst nicht durchgesetzt hat, „ja sogar in den letzten Jahren eher wieder in den Hintergrund der exegetischen Aufmerksamkeit gerückt ist.“ (8)

Entsprechend ist der vorliegende Band zweiteilig angelegt: am Beginn stehen fünf Aufsätze, die sich dezidiert mit Nostra Aetate bzw. mit NA 4 beschäftigen, ihnen folgen fünf exegetische Aufsätze, die angeregt durch zentrale Aussagen in NA 4 exemplarisch aufzeigen, dass z.T. bis heute antijudaistisch ausgelegte biblische Texte und Textkomplexe, keinesfalls so ausgelegt werden müssen.

Der erste Teil des Sammelbandes beginnt mit einem instruktiven Überblick von Hans Hermann Henrix (11-40) über die spannungsreiche Genese von Nostra Aetate. Als deren eigentlichen Initiator macht er Johannes XXIII. aus, der auf dem Hintergrund der Shoa auf eine eigene Erklärung zur Neubestimmung des Verhältnisses der Katholischen Kirche zum Judentum drängte. Dass diese Erklärung als eigenständiges Dokument nicht zustande kam, sondern schließlich Teil einer Erklärung über die nichtchristlichen Religionen wurde, lag an verschiedenen, vor allen politischen und kirchenpolitischen Faktoren (insbes. am arabisch-israelischen Konflikt), die Henrix klar herausarbeitet. Nichtsdestotrotz hat für ihn die Erklärung Nostra Aetate und darin besonders NA 4 einen singulären Platz im Zweiten Vatikanum, das wirkungsgeschichtlich zu einem der bedeutendsten Dokumente des Konzils wurde und seine „weitere Wirkung in die Zukunft hinein noch vor sich hat.“ (39)

Ursula Lievenbrück (41-75) schließt mit ihrer systematischen Kommentierung der fünf Kapitel von Nostra Aetate beinahe nahtlos an den Aufsatz von Henrix an. Im Zentrum steht auch bei ihr NA 4, das Kapitel, das nicht nur Keimzelle des gesamten Dokuments ist (s.o.), sondern auch das längste und inhaltlich bedeutendste. Lievenbrück diskutiert seine fünf Hauptaussagen (55-70): die bleibende einzigartige Verbindung zwischen Judentum und Christentum (1), die Ablehnung der harten Substitutionstheorie (2), die Absage an den Gottesmord-Vorwurf (3), die explizite Zurückweisung jeglicher Spielart des Antisemitismus (4) und das Vermeiden einer affirmativen Äußerung zur Judenmission (5). Dabei betont sie nicht nur die Singularität der mit NA 4 verbundenen grundlegenden Neuorientierung der christlichen (!) Israeltheologie, sondern formuliert auch deutlich seine Grenzen:  eine tendenzielle Substitutionstheologie in Bezug auf das gegenwärtige Israel und eine zu wenig explizite Absage an die Judenmission – beides Ausdruck der „Spannung zwischen dem Anliegen einer Wertschätzung des Judentums als Religion einerseits und der für die Konzilsväter unaufgebbaren Grundaussage einer einzigartigen und alle Menschen einschließenden heilsgeschichtlichen Bedeutung Jesu Christi andererseits.“ (74)

Andreas Renz (76-114) beschäftigt sich mit der lehramtlichen Rezeption von NA 4 während der Pontifikate von Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. und – relativ knapp auf Grund der kurzen Amtszeit – von Franziskus. Er untersucht dabei sowohl vatikanische Dokumente und Dokumente auf der Ebene nationaler Bischofskonferenzen als auch Ansprachen (und Gesten) der jeweiligen Päpste zum Thema. Renz kommt zu einem insgesamt positiven Ergebnis des lehramtlichen Rezeptionsprozesses von NA 4, der für ihn „eine echte Stärkung des ‚geistlichen Bandes‘ zwischen dem Volk Israel und der römisch-katholischen Kirche“ (113) und „Ausdruck einer gewandelten Haltung, Mentalität, Theologie und Praxis“ ist (113f). Ihm ist allerdings klar, dass trotz der erstaunlichen lehramtlichen Rezeptionsleistungen (z.B. der Umsetzung der neuen Israeltheologie in der Liturgiereform oder der Institutionalisierung des katholisch-jüdischen Dialogs auf allen kirchlichen Ebenen) auch weiterhin eine ganze Reihe offener Fragen der Klärung bedürfen (so z.B. wird die Anerkennung des nachbiblischen Judentums als Heilsweg immer noch abgelehnt).

Die systematisch-theologische Bedeutung von NA 4 im Kontext aller Konzilsdokumente untersucht Roman Siebenrock (115-131). Gegen eine immer noch gängige Konzilshermeneutik, die von einer Hierarchie der Texte mit den Konstitutionen am Anfang und den Erklärungen am Ende ausgeht, stellt Siebenrock eine Hermeneutik des inneren Zusammenhangs aller Konzilstexte, die sich als vielfältig verbundene Impulszentren „wechselseitig inspirieren, ausbalancieren und tragen.“ (122) Entsprechend können nicht nur in einer Konstitution, sondern auch in einer Erklärung „unbedingt verbindliche, d.h. konstitutive Aussagen gefunden werden“ (122f), die für Selbstverständnis und Handlungsweise der Kirche zentral sind. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen präzisiert Siebenrock seine These von NA 4 als Angelpunkt jeder Konzilsinterpretation. Nach innen ist sie es, weil die neue Israeltheologie christliche Identität als verdankte Identität versteht, deren eigene Anfänge in der Erwählung Israels liegen, die nie rückgängig gemacht wurde. Wer auf die Treue Gottes zu seiner Kirche hofft, muss zugleich die Treue Gottes zu Israel bekennen. Nur angerissen ist Siebenrocks Schlussthese vom Verhältnis zu Israel als Modell der Beziehung der Kirche nach außen (129-131), das er mit dem in weiteren Konzilsdokumenten zu findenden Bekenntnis zum universalen Heilswillen Gottes verknüpft.

Den Übergang zu den exegetischen Arbeiten des Sammelbandes bildet der Aufsatz von Thomas Söding (132-157). Gegenüber anderen Dokumenten des Zweiten Vatikanums fällt für NA 4 eine besondere Dichte des Schriftbezugs auf, die eine bewusste Wende im Verhältnis zum Judentum auf biblisch-neutestamentlicher Grundlage darstellt. Dahinter stand nach Söding nicht nur die Erschütterung durch die Shoa, sondern wesentlich auch – und bisher eher selten gewürdigt – „die Neuentdeckung der Bibel in der katholischen Kirche“ (140). Angefangen von der Phase der Konzeptionen, über die Erarbeitung der Vorlage durch Johannes Oesterreicher bis zur endgültigen Fassung waren die exegetischen Einflüsse auf NA 4 bedeutend. Söding verweist aber auch auf die Grenzen der Schriftrezeption der Erklärung, so z.B.  auf die Nennung ausschließlich positiver neutestamentlicher Aussagen zum Judentum. Zentral bleibt jedoch, dass „die theologische Diskussion einen Referenzpunkt hat, um mit Nostra Aetate über Nostra Aetate hinauszugehen.“ (147) Etwas überrascht hat die Rezensentin der letzte Teil des Aufsatzes, da in ihm „nur“ zwei Dokumente der Päpstlichen Bibelkommission auf Rezeption und Weiterführung der exegetischen Argumentation von NA 4 untersucht werden (1993 und 2001), und nicht, wie die Überschrift suggeriert, exemplarisch römisch-katholische Exegese in ihrer Entwicklung seit 1965.

Mit dem Aufsatz von Franz Sedlmeier (158-182) beginnt der explizit biblische Teil des Sammelbandes. Sedlmeier geht der Frage nach, wie belastbar die das erste Mal 1980 von Johannes Paul II. formulierte Aussage des von Gott nie gekündigten Bundes auf dem Hintergrund prophetischer Kritik am Bundesbruch Israels eigentlich ist. Für seine Untersuchung wählt er das Bundeskonzept bei Ezechiel, das eine besondere Dichte an Belegen aufweist, einschließlich der sogenannten Bundesformel. Neben Ez 20,37 als Extremfall des Bundes und dem dramatischen Bundesgeschehen in Ez 16 analysiert Sedlmeier das im Horizont ezechielischer Heilsverkündigung stehende Bundeskonzept in Ez 33-48. Das Ergebnis bestätigt eindrücklich die Rede vom nie gekündigten Bund. Trotz härtester Kritik an der Untreue Israels, verkündet Ez nach Sedlmeier nirgends die Auflösung des Bundes von Gottes Seite her, sondern im Gegenteil die radikale Treue Gottes, der einen neuen und ewigen Bund aufrichtet, durch das Gericht hindurch. Der bisherige Bundespartner Israel wird dabei durch Gottes Gnadenhandeln von innen her verwandelt (Ez 36,16-38), so dass er zu einem Leben im Bund mit Gott befähigt wird, unter Beibehaltung der Spuren seines Bundesbruchs (175-182). Bemerkenswert ist die Schlussüberlegung von Sedlmeier: „Die Teilhabe am von Gott nie gekündigten Bund mit seinem Volk durch Jesus, den Christus, kann für Christen nicht bedeuten, lediglich die Verheißungen für sich zu reklamieren“ (182), es gilt auch die eigene Schuldgeschichte anzunehmen.

Die beiden folgenden Beiträge eines Alttestamentlers und eines Neutestamentlers sind über das zentrale Jesajazitat (Jes 6,9f) in Apg 28,16-31 aufeinander bezogen. Dominik Helms (183-202) analysiert das Zitat im Kontext von Jes 6,8-13, der sogenannten Verstockungsprophetie Jesajas an Israel. Seine These lautet, dass der Verstockungsauftrag im masoretischen Text eine Heilsperspektive für das jüdische Volk beinhalte und nicht eine bleibende Verwerfung oder Vernichtung. Mit Hilfe von vier Leitfragen sucht er diese These zu begründen. Sein Fazit lautet (200-202): Jesaja kündigt nicht Juda, Israel oder dem Gottesvolk als Ganzem ein bevorstehendes, unausweichliches Gericht an, sondern Menschen, die in keiner Beziehung mehr zu JHWH stehen. Der Bitte des Propheten nach zeitlicher Befristung wird von JHWH entsprochen, so dass es durch das Gericht hindurch eine Perspektive auf Zukunft hin gibt. Umkehr und Heilung erweisen sich damit als reale Möglichkeiten, die im Baumgleichnis weitergeführt werden. Nicht „die Distanzierung von dem im Gericht vernichteten großen Teil ‚dieses Volkes‘“ (202) ist dabei im Blick, sondern der Aspekt der Kontinuität.

Jes 6,9f wird nicht nur in der alttestamentlichen Exegese, sondern auch als Zitat in Apg 28 z.T. bis heute als endgültige Verwerfung Israels verstanden. Ziel des Aufsatzes von Stefan Schreiber (203-231) ist es, diese gängige Auslegungsperspektive im Sinne von NA 4 kritisch zu hinterfragen. Nach einer sorgfältigen Textanalyse von Apg 28,16-31 kommt er zu dem Ergebnis, dass der Text weder positiv noch negativ eine Antwort auf die Frage nach der heilsgeschichtlichen Ablösung Israels durch die „Kirche“ geben will, sondern stattdessen erklärt, wie die AdressatInnen von der Christus-Botschaft überzeugt sein können, wenn große Teile der Juden sie ablehnen. Diese Erfahrung stellte das Selbstverständnis der Christen, die sich ganz in der Kontinuität des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes an Israel sahen, massiv in Frage. Die Grundfrage bezieht sich nach Schreiber also nicht auf den Heilsstatus Israels, sondern auf den Heilsstatus der aus Juden und Heiden gebildeten Christus-Gemeinden! Die Antwort der Apostelgeschichte lautet daher ganz innerjüdisch, dass die Christus-Botschaft von JHWH selbst initiiert und getragen wurde, aber „Israel hört wieder einmal, wie so oft in seiner Geschichte, nicht auf Gottes Wort. Eine endgültige Entscheidung über Heil bzw. Unheil Israels ist damit überhaupt nicht im Blick, geschweige denn eine Ersetzung Israels als Heilsvolk durch die „Kirche“ (Substitution).“ (230)

Der Aufsatz von Thomas Schumacher (232-277) beschäftigt sich mit den sogenannten Substitutionsmotiven in Röm 9-11, die nach klassischer Auslegung die Würdigung Israels in Röm 9-11 in Frage stellen und damit in gewisser Weise auch die Eignung des Textes zur Begründung der neuen Israeltheologie von NA 4. Ziel des Aufsatzes ist die Relecture dieser „israelkritischen“ Aussagen und der Entwurf einer konsistenten, dem Anliegen von NA 4 verpflichtenden Auslegung von Röm 9-11. Im Zentrum steht die Ölbaumallegorie aus Röm 11,16-24, deren Auslegung Schumacher einer grundlegenden Revision unterzieht. U.a. macht er auf die der agrarischen Pfropftechnik genau entgegengesetzten Bilder von der Einpfropfung der wilden Zweige in den Ölbaum aufmerksam und identifiziert den Stamm des Ölbaums nicht wie üblich mit Israel, sondern mit Christus, der der jüdische Messias aller Juden ist und zugleich „jenes Bindeglied, durch das die Heidenchristen an den Verheißungen Abrahams bzw. der Väter teilhaben.“ (253) Eine Verengung des Israelbegriffes auf Christusgläubige ist damit nicht zu erkennen, sondern die Vorrangstellung des Judentums bleibt bestehen und muss von den Heidenchristen respektiert werden. Die Ergebnisse der Überlegungen Schumachers zu weiteren „israelkritischen“ Motiven in Röm 9-11 (Röm 9,6-13; 11,25 + 10,2.4) fügen sich gut in seine Analyse der Ölbaumallegorie ein, so dass eine Substitution Israels durch die Kirche in Röm 9-11 für ihn nicht zu erkennen ist. Das Judentum behält weiterhin eine religiöse Identität und Valenz.

Der letzte Beitrag von Maria Neubrand und Johannes Seidel (278-314) versteht sich als „Problemanzeige“ (282), die deutlich machen möchte, dass sich zahlreiche Auslegungen neutestamentlicher Texte bis heute antijudaistischer Interpretationsmuster bedienen und dadurch NA 4 weder in der wiss. Exegese realisiert ist, noch in der Praxis der Kirchen umgesetzt wird. Nach einem knappen historischen Durchgang untersuchen die Autoren zunächst christlichen Antijudaismus in gegenwärtiger exegetischer Literatur mit Hilfe von vier „antijudaistischen“ Modellen (Substitutions-, Integrations-, Kontrast- und Relativierungsmodell), für die sie konkrete Beispiele anführen. Ihrer Meinung nach gibt es nur einen angemessenen und NA 4 ernstnehmenden Umgang mit neutestamentlichen Texten, die „antijudaistisch“ instrumentalisiert wurden, und zwar diese Texte „im Rahmen innerjüdischer Polemik und innerjüdischer Diskurse auszulegen“ (298). Im Anschluss (299-312) zeigen die Autoren beispielhaft, auf Grund der Kürze nicht immer ganz überzeugend, an drei, in der Regel antijudaistisch gedeuteten neutestamentlichen Textstellen (Phil 3,2f; Offb 2,9; 3,9; Joh 8,37-47), wie eine nicht-antijudaistische Interpretation aussehen kann.

Fazit: Der spannend und anregend zu lesende Sammelband macht darauf aufmerksam, dass sich der mit Nostra Aetate begonnene Paradigmenwechsel im Verhältnis von Christentum/Katholizismus und Judentum in der biblischen, insbesondere der neutestamentlichen Exegese noch längst nicht durchgesetzt hat. Für eine grundlegende Wende ist nach Meinung der Rezensentin weniger ein ausdifferenziertes Antijudaismusraster nötig, als der dezidierte Wille, alle neutestamentlichen Texte auf dem Hintergrund des vielfältigen Judentums des 1. Jh.s zu interpretieren. Das allerdings kann nur im Dialog mit jüdischen Theologinnen und Theologen gelingen, die dieses Judentum aus ihrer Perspektive und Tradition zu verstehen suchen. Ob dann noch von antijudaistischen Texten im NT gesprochen werden kann, wird sich zeigen.


Zur Rezensentin:

Angelika Strotmann, geb. 1956, ist Professorin für Neues Testament am Institut Katholische Theologie der Universität Paderborn.


Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz