Gutachten und Diskussionsbeiträge zu Julia Enxing / Stephan Jütte, Sünde. Zur theologischen Relevanz eines strapazierten Deutungsbegriffs
Gutachten:
1. Prof. Dr. Dorothea Sattler, Münster
Der Beitrag bemüht sich um eine Bestimmung des Begriffs der menschlichen „Sünde“ insbesondere im Unterschied zu der Rede von der „Schuld“ des Menschen. Das Vorhaben steht im Kontext der Bemühungen um ein konstruktives Gespräch mit weiteren Wissenschaften (insbesondere mit der Philosophie, der Psychologie, der Soziologie sowie den Rechtswissenschaften), in denen solche Deutungen der Wirklichkeit vorgenommen werden. Angezielt ist eine Sensibilisierung im Hinblick auf die (im engeren Sinn) theologische Dimension der bei der Verwendung des Begriffs der Sünde bestehenden Beziehung zwischen Gott und dem freiheitlich handelnden Menschen.
Eine reflektierte, bewusste Gliederung der Gedanken wird ersichtlich, die Zwischenüberschriften erleichtern diese Erkenntnis jedoch kaum: Julia Enxing / Stephan Jütte (künftig Verf.) beginnen mit der These, dass im alltäglichen Sprachgebrauch Phänomene, die als Sünde bezeichnet werden, harmlos wirken, während bei der Rede von Schuld die gesellschaftliche Bedeutung der Tatbestände eher assoziiert wird. Es folgen Ausführungen zur Problematik einer präzisen definitorischen Erfassung des Begriffs Sünde bereits in den biblischen Schriften. Die Überlegungen leiten hin zu einer theologischen Bestimmung von Sünde als „Deutungsbegriff innerhalb eines orientierungsstiftenden Konstruktsystems“, bei dem die vom Menschen selbst nicht zu erwirkende, vielmehr von Gottes Gnade geschenkte Annahme der Existenz Gottes – somit der Glaube - vorausgesetzt ist. Nach kritisch differenzierenden Ausführungen zu den bereits seit längerer Zeit schon bestehenden Tendenzen zur Pathologisierung der Bosheit als einer im sozialen Kontext verursachten Krankheit eines Menschen, würdigen Verf. die dabei zugrunde gelegte Annahme der durch seine Taten nicht zu zerstörende Würde des Menschen. Verf. kehren sodann zum Begriff der Sünde zurück und erläutern die Grenzen der Annahme einer „Strukturanalogie zwischen Sündigkeit und pathologisierter Schuld“ (unter Einbezug der Rede von der Erbsünde): Während die krankhaft bedingte Schuld in einem therapeutischen Geschehen durch das als Postulat gesetzte, möglich erscheinende freiheitliche Handeln des Menschen gegebenenfalls geheilt werden kann, ist die Vergebung der Sünde allein auf die Initiative Gottes hin als Zurechnung einer fremden Gerechtigkeit im Geschehen der Rechtfertigung möglich.
Der Beitrag begrenzt sich mit guten Gründen auf eine überschaubare Auswahl an literarischen Referenzen, die in allen thematischen Bereichen ohne Mühe erweitert werden könnten. Auffällig ist, dass auf nicht-theologische Schriften selten verwiesen wird. Insbesondere Beiträge aus dem Bereich der Rechtswissenschaften über die Begründung des Strafwesens, fehlen völlig. Auch die Eigenperspektive der Psychologie in Antwort auf den Verdacht einer gegebenen Pathologisierung menschlicher Bosheit wird nicht eingeholt. Bei der Inanspruchnahme der Überlegungen zur Rechtfertigung des Sünders und der Sünderin hätte der Einbezug der differenzierten ökumenisch-theologischen Auseinandersetzungen mit der Annahme der Zurechnung einer fremden Gerechtigkeit nahe gelegen.
Der Sprachstil der Ausführungen ist im guten Sinn essayistisch und nimmt die Leserin und den Leser beständig mit hinein in den Gedanken. Offene Fragen werden formuliert und Antwortpotentiale aufgezeigt. Die gewählte Sprachebene korrespondiert bei einigen saloppen Bemerkungen (beispielsweise „kecke Variante“; „Kern“ des Menschen; „rhapsodisch“ zusammengetragene Einzelphänomene) nicht mit dem hohen Anspruch begrifflicher Präzision.
Meine Anfragen richten sich zunächst auf das soteriologische Konzept einer „Entculpabilisierung“ der Menschen durch den Tod Jesu am Kreuz. In Übernahme von Hinweisen in der Katechismus-Literatur wird diese theologische Deutung als wahr gesetzt, ohne deren Plausibilität zu erweisen. Eine größere Umsicht und Sorgfalt mit erlösungstheologischen Argumenten erscheint mir dringend angeraten zu sein. Im Diskurs über die Rechtfertigungslehre findet die lutherische Position – ohne sie als solche auszuweisen – Zustimmung. Die im multilateralen Dialog erfolgte Erweiterung der Perspektiven um die Rede von der Heiligung des Menschen (unter Einbezug pneumatologischer Aspekte) sollte aus meiner Sicht größere Beachtung finden. Eine angemessene Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gnade und Freiheit in der Beziehung zwischen Gott und seinen sündigen Geschöpfen ist eine bleibende Herausforderung der Theologie.
Zur Gutachterin:
Prof. Dr. Dorothea Sattler, geb. 1961, ist Professorin für Ökumenische Theologie und Dogmatik an der Universität Münster und Direktorin des Ökumenischen Instituts deren Katholisch-Theologischen Fakultät.
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