Hamed Abdel-Samad und Mouhanad Khorchide, "Zur Freiheit gehört, den Koran zu kritisieren“. Ein Streitgespräch, Freiburg-Basel-Wien: Herder 2016, 127 S., 14,99 EUR, ISBN 978-3-45127-146-5
In einem sind sich die beiden Kontrahenten dieses Streitgespräches
einig: Islam, Koran und die islamische Überlieferung müssen
kritisiert werden. Deshalb können sich beide in vielen
Einzelpunkten verständigen, auch wenn die Grundlage und das Ziel
ihrer Kritik verschieden sind. H. Abdel-Samad stammt aus Ägypten,
sein Vater war Imam. Er hat in den letzten Jahren scharfe Kritiken am
Islam publiziert (z.B. Muhamed. Eine Abrechnung, München 2015). M.
Khorchide ist heute Professor für Islamische
Religionspädagogik und Theologie an der Universität
Münster. Er fordert eine Reform des Islam mit einem liberalen
Ansatz. In diesem legt er die im Koran immer wieder betonte
Barmherzigkeit Gottes zugrunde (vgl. sein Buch: Islam ist
Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg 2012).
Er macht diese Aussage zu Gott zum Kriterium und „hermeneutischen
Schlüssel und Zugang zu einem humanistischen
Koranverständnis“ (S. 20). Er fordert, alle Stellen, die dieser
Barmherzigkeit widersprechen, abzuweisen. „Jede Auslegung des Islam,
des Korans oder des Wirkens Mohameds, die mit dem Kriterium der
Barmherzigkeit nicht in Einklang ist, muss ohne Wenn und Aber verworfen
werden“ (S. 21). Die zahlreichen Verse des Koran, die als Aufruf zur
Gewalt verstanden werden können und von Gihadisten angeführt
werden, seien aus der geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation,
in der sich Mohamed befand, zu verstehen und heute nicht mehr
gültig. Das Streitgespräch, durch das Stefan Orth mit Fragen
führt, wird von beiden durchaus mit Schärfe, aber zugleich
mit gegenseitigem Respekt geführt. Es werden zahlreiche Themen,
die in den Diskussionen der letzten Jahre immer wieder eine Rolle
spielten, diskutiert: das Verständnis des Islam, die
Gewaltproblematik des Islam, immer wieder die Frage der Auslegung des
Verständnisses des Koran, von Mohamed und der Tradition,
Vereinbarkeit von Islam mit der Moderne: Freiheit und Gleichheit auch
der Geschlechter, Gerechtigkeit, das Gottesbild, Hölle und
Paradies im Islam, die islamischen Verbände in Deutschland und die
liberalen islamischen Vereinigungen sowie das Erfordernis und
Möglichkeiten eines mit der Moderne vereinbaren Islam.
Eine Grundfrage ist, ob der Islam sich an die Moderne anpassen kann oder reformunfähig ist. Hier unterscheiden sich die beiden deutlich. Abdel-Samad meint: „Der Islam konnte sich nicht an die Moderne anpassen, weil der Islam sich an nichts anpassen will, weil er letztlich alles von oben bestimmen und kontrollieren will“ (S. 16). Dagegen ist Khorchide der Auffassung, dass der Islam sehr wohl reformfähig ist, weil Mohamed selber ein Reformer war (S. 103). Nur die Konservativen, Salafisten und andere verträten eine Position der Reformunfähigkeit und eine solche Auslegung des Korans würde auch Abdel-Samad zugrunde legen. Dieses Verständnis sei gegenüber den Konservativen hilflos und führe nicht zu einer Modernisierung des Islam. Es komme deshalb auf eine Kontextualisierung und Historisierung des Korans und der Überlieferung an. Gegen die Konservativen, die eine Auslegung des Korans abweisen, führt er zu Recht an, dass der Koran und die Überlieferung wie auch das Beispiel Mohameds immer ausgelegt und interpretiert worden sind. Dafür führt er an, dass allein schon die vier Rechtsschulen unterschiedliche Auslegungen des Korans z.B. am Verständnis des Gihad vorgelegt haben. Drei der Rechtschulen sehen den Gihad nur als Verteidigungskrieg, nur die schafitische Schule sieht darin auch einen Angriffskrieg gegen Nichtmuslime begründet. „Demgegenüber komme es heute darauf an und sei unsere Aufgabe, „sich für die andere, für die friedensbejahende Lesart des Islam stark zu machen“ (S. 18). Khorchide betont immer wieder, dass wir den Koran lesen und dabei unser Verständnis zum Maßstab machen; auch eine wörtliche Lesart der Fundamentalisten ist eine Interpretation und meistens zugleich selektiv. Diese würde von der großen Mehrheit des Moslems nicht vertreten, wie die Stellungnahmen zum IS zeigen. Der Islam stehe am „Anfang eines Lernprozesses“ (S. 102). Aber auch die Kirche habe lange Jahrhunderte gebraucht, um sich an die Moderne, Demokratie und Menschenrechte anzugleichen. Wenn man den Islam als „spirituelle und ethische Botschaft auffasst, ist der Islam sehr wohl kompatibel mit dem Leben in einem demokratischen, säkularen Staat (S.100). Abdel-Samad wirft dem Islam eine schizophrene Haltung gegenüber der westlichen Welt vor, denn diese würde als ungläubig und unmoralisch betrachtet und zugleich wollte jeder in den Westen, “um ein wenig Menschenrechte und ein menschenwürdiges Leben für sich und seine Familie zu erfahren“ (S. 16). Was es an Säkularisierung in islamischen Ländern gebe, sei nicht mit dem Islam, sondern gegen ihn vollbracht worden (S. 17). Abdel-Samad lehnt das Gottesbild des Islam ab. Dieses sei gewalttätig und egoistisch. Seine Schlussfolgerung ist, dass „der Koran menschlich ist. Er hat mit Gott, mit dieser höheren Instanz nichts zu tun, sondern mit Mohamed und seiner Gemeinschaft. Und deshalb sollte er auch im 21. Jahrhundert keine Rolle mehr spielen.“ (S. 95). Auch Khorchide lehnt einen solchen Gottesbegriff ab und betont demgegenüber, dass es darauf ankomme, Gott als den Barmherzigen zu verstehen.
Beide kritisieren die großen Islamverbände als konservativ und fordern, dass der deutsche Staat reformorientierte Verbände wie z.B. das Muslimische Forum unterstützen solle.
Das Streitgespräch ist ein gutes Beispiel für die weiteren Diskussionen mit Muslimen in Deutschland und dem Islam. Man hofft, dass die darin vertretenen Positionen auch von der Mehrheit der Muslime in Deutschland geteilt werden und sie ermutigt, ihr modernes Verständnis des Islam gegen die konservativen Positionen auch in der Öffentlichkeit zu artikulieren.
Zum Rezensenten:
Prof. Dr. Hartmut Zinser, geb. 1944, ist Religionswissenschaftler,
Religionshistoriker und Ethnologe und war bis 2011 Professor am
Institut für Religionswissenschaft in Berlin.
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