Rezension Werner

Julia Enxing (Hg.), Schuld. Theologische Erkundungen eines unbequemen Phänomens, 2. Auflage, Ostfildern: Grünewald 2015, 308 S., 27,00 EUR, ISBN: 978-3-7867-3038-5


Der von Julia Enxing, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster für Religion und Politik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, herausgegebene Sammelband geht auf eine gleichnamige Konferenz zurück, die im Rahmen des Exzellenzclusters für Religion und Politik 2014 abgehalten wurde.

Der in zwei Teile gegliederte Sammelband beleuchtet zunächst systematisch-theologisch die Frage nach Schuld und Sünde und sucht dann konkrete Anwendungsfelder im Sinne praktischer Zugänge dieser Themen in Theologie und Kirche. Der Sammelband nimmt sich die Erkundung der Schuldproblematik innerhalb der Kirchen in einer theologischen Reflexion vor, die, so Julia Enxing im Vorwort, in der „deutschsprachigen (vor allem katholischen) systematischen Theologie weitestgehend verstummt“ (9) sei. Dabei stehe die Klärung der Begrifflichkeit ebenso an wie die der Subjekte. Erkenntnisleitend ist dem Sammelband die These vorangestellt, „dass Schuld notwendigerweise artikuliert werden muss.“ (12) Dieser Artikulation ist der Sammelband als theologische Stimme gewidmet, die ein kritisches Gegengewicht zum Schweigen der Kirche sein solle. Der Band versteht sich als explizit ökumenische Veröffentlichung, die zudem sowohl Nachwuchswissenschaftler*innen als auch etablierte Wissenschaftler*innen zu Wort kommen lässt.

Der systematisch-theologische Teil beinhaltet als theoretischen Zugang sowohl die subjektive als auch die institutionelle Reflexion auf Schuld und Sünde und stellt aus den unterschiedlichen theologischen und konfessionellen Traditionen die Schuld- und Sündenzusammenhänge und deren Ursachen her. Die acht Beiträge von vier Frauen und vier Männern nähern sich der Thematik sowohl vom Begriff als auch von der Theologiegeschichte her an und stellen den jeweiligen Traditionszusammenhang entweder zur Begriffsgeschichte des Sünden-/Schuldbegriffs, der Versöhnung/Vergebung oder der Ur-/Erbsünde zur Diskussion, um ein mögliches Subjekt der Schuld und Sünde einer als Institution verfassten Gemeinschaft der Glaubenden herzuleiten. Die Begriffsarbeit steht dabei im Vordergrund, die in immer neuen Anläufen Schuld und Sünde, Vergebung und Versöhnung voneinander differenziert. Wegen ihrer Vielfältigkeit seien hier nur Schlaglichter hervorgehoben. Die Verantwortlichkeit für die je eigene Schuld zieht sich als roter Faden durch die anthropologischen Erörterungen. Sei es, dass Jürgen Werbick (Schuld und Scheitern, 23-39) konstatiert, dass „wer die Schuldfrage suspendiert“, denen, „die am Scheitern beteiligt waren, anderen und sich selbst, die Verantwortlichkeit“ nimmt (25). Magdalene Frettlöh (Vergeben und Vergessen. Eine theologisch und philosophisch bedachte Zwillingswendung zum Umgang mit Schuld eschatologisch perspektiviert, 40-57) sieht sehr deutlich, dass die „Selbstvergessenheit [...] nicht auf Dauer gestellt werden [...] kann“ (46), und konfrontiert das Vergessen (in Rekurs auf Ricoeur) mit dem Erinnern. Den genuin theologischen Sündenbegriff stellen sowohl Eva Harasta (Im Anfang war das Nichts. Zum ontologischen Ursprung der Ursünde, 58-75) als auch Julia Knop (Schuld und Vergebung. Überlegungen zum anthropologischen und hermeneutischen Potenzial des Sündenbegriffs, 76-97) in den Mittelpunkt ihrer theologischen Reflexionen. Harasta formuliert deutlich, dass „nicht die Art der Entstehung des Individuums [...] der theologische Kern des Gedankens ‚Ursünde‘ ist, sondern die Erfahrung des Sünderseins als Verhängnis bei gleichzeitigem Beharren darauf, dass dieses Verhängnis nicht dem geschöpflichen Menschsein entspricht.“ (59) Knop beansprucht vor allem die Freiheit als Grund der Sünde (79f). Die Frage nach der Schuld von Institutionen eröffnet Johanna Rahner (Kirche und Schuld. Skizze einer dogmatischen Verhältnisbestimmung aus katholischer Sicht, 98-121) mit einem dogmenhistorischen Durchgang des Zueinanders von Schuld und Kirche als eines ambivalenten Verhältnisses. Die vormals geklärten Verhältnisse einer societas perfecta zum sündigen Einzelnen seien nachhaltig, aber nicht konsequent im II. Vatikanum durch LG 8,3 verändert. Abschließend sei nur stringent, das Subjekt der „Heiligkeit wie der Sündigkeit und der Schuld“ in der „>realitas complexa<“ (110) zu sehen. Stephan Jütte (Die ureigenste Schuld der Kirche. In welchem Verhältnis steht die Kirche zur Schuld?, 122-136) sowie Klaus Viertbauer (Schuld als Disposition? Zum veränderten Charakter des Kirche-Welt-Verhältnisses, 136-147) untersuchen beide in unterschiedlichen Zugängen durch konkrete Beispiele, wie sich sowohl Kirche als Institution, als auch Einzelpersonen als Amtsträger zur jeweiligen Schuld verhalten (125f). Als These für das ambivalente Verhältnis zwischen Individuum und Institution stellt Viertbauer die Denkformtransformation von einem Ordo-Denken zu einem säkularisierten Diskurskontext zur Debatte (136f). Einen sakramentalen Zugang sucht abschließend Bernhard Knorn (Schuld und der kirchliche Dienst der Versöhnung, 148-160).

Die praktischen Anwendungsfelder sind so vielfältig wie umfassend. Sie stellen sowohl konkrete materialdogmatische Proben dar als auch historische Unrechtszusammenhänge und deren Aufarbeitung. Eva Kaufner-Marx („Das war ich nicht“? Verantwortung als Zumutung von Freiheit, 163-172), Jan Loffeld (Menschliche Schuldverstrickung. Ein plausibler Ansatzpunkt gegenwärtiger Rede von Erlösung?, 173-185) und Ulrike Link-Wieczorek (Im Fadenkreuz von Schuld und Scham. Vor-Überlegungen zur Wiedergewinnung eines christlichen Sündenverständnisses, 186-210) bilden den Auftakt der Fokussierung des Schuld-Themas auf einzelne Themen. So stellt Kaufner-Marx die Verantwortlichkeit des/der einzelnen in den Mittelpunkt binnenkirchlicher Diskurse; Jan Loffeld hingegen denkt die Schuldverstrickung im Dialog mit psychologischen Erklärungsmustern und Link-Wieczorek differenziert Schuld und Scham als Anfangspunkt für die Neugewinnung eines Schuldverständnisses. Sehr konkrete Anlässe zum Thema Schuld bilden den Abschluss des Tagungsbandes. Der Beitrag von Julia Enxing (Schuld zur Sprache bringen. Eine Betrachtung des Schuldbekenntnisses Johannes Paul II., 211-233) sowie die Überlegungen von Jutta Koslowski („... der sei verflucht!“ (Gal 1,8). Der Umgang mit Lehrverurteilung als Aspekt kirchlicher Schuldgeschichte, 234-248) betrachten genuin binnenkatholische Schulddiskurse und ihre Entschuldungs- und Entschuldigungsdiskurse, die sich als Vergebungsdiskurse zu formieren suchen. Katharina Peetz (Das Schuldbekenntnis von Detmold und sein Stellenwert für den ruandischen Versöhnungsprozess, 249-260) beschreibt den Versöhnungsvorgang durch die Fokussierung auf die Täter. Lydia Koelle (Schuld als Aufgabe. Deutsche Theologie der dritten Nach-Shoah-Generation und ihrer Vergebungsdiskurse, 262-277) schlägt in der Theologie nach Auschwitz ein neues Kapitel auf, das die Ähnlichkeit der Diskurse der Großeltern- zur Enkelgeneration aufdeckt. Dominik Gauter (Sünde, Schuld und Rassismus im Christlichen Realismus Reinhold Niebuhrs, 276-289) thematisiert die nicht-kirchlich gebundene Organisationsform der social gospel mit ihren Auswirkungen auf die Aussöhnung nach dem Ende des Separatismus in den USA. Die globale Schuld- und Sündenverstrickung als strukturelle Sünde im Sinne der Befreiungstheologie und ihre feministisch-kritische Revision nimmt schließlich Julia Lis (Schuld und Umkehr angesichts der globalen Krise aus befreiungstheologisch-feministischer Perspektive, 290-302) in den Blick.


Der umfangreiche Sammelband besticht durch die Fülle der Themen und Perspektiven auf das zugrunde gelegte Thema der Schuld. Besonders hervorzuheben ist die Leistung, in einem Sammelband, eine über 50prozentige Beteiligung von (jungen) Frauen zu erreichen. Dies sei den Herausgeber*innen von Sammelbänden mit 70-100prozentiger Beteiligung (älterer) Männer deutlich ins Stammbuch geschrieben: es geht! Die Reflexion von Wissenschaftler*innen in den unterschiedlichen Phasen ihres wissenschaftlichen Werdeganges macht den Reiz dieses Sammelbandes aus, der sich durch einen Werkstattcharakter auszeichnet, in dem keine fertigen Konzepte, sondern Wissenschaftsprojekte vorgestellt und diskutiert werden. Wohltuend ist die unaufgeregte ökumenische Perspektive, die die unterschiedlichen Traditionen miteinander denken lässt. Beide Perspektiven der Erarbeitung des Themas bieten Einsichten und Anregungen, die zum Weiterdenken anregen. Gerade die praktischen Anwendungsfelder, die im Rahmen der Rezension in ihrer Vielfalt und Komplexität nicht einzeln ausgeführt werden konnten, zeigen deutlich, dass das Thema der Schuld weder ein einfaches noch ein unterkomplexes noch ein theoretisches Thema ist.


Angesichts des hohen Anspruchs, der im Vorwort und in der Einleitung formuliert wurde, geht es nicht umhin, die eine oder andere kritische Bemerkung zu formulieren. Ob es in der katholischen deutschsprachigen Theologie tatsächlich ein Verstummen angesichts der Schuldfrage gegeben hat, lässt sich durch den Fußnotenapparat der Beiträge im Band gerade nicht belegen. Vielmehr zeigt sich, dass Schuld jenseits des klassischen Theologumenons der Sünde und der sakramentalen Verortung der Beichte vielfältig und ausführlich reflektiert wird. Die im Vorwort und der Einleitung nicht eindeutige Begrifflichkeit von Schuld und Sünde, Kirche und Theologie zieht sich durch die Beiträge durch, die in ihrer Diversität unterschiedliche Begrifflichkeiten pflegen (müssen), diese aber nicht aufeinander beziehen und nicht immer in ihren Beiträgen kohärent verankert bleiben. Bei einem solchen Thema wäre aber eine gemeinsame Begriffsklärung in einem Tagungsband, der nach der Tagung erscheint, doch als Ergebnis wünschenswert gewesen. Die Betonung der ökumenischen Arbeit schlägt sich leider nicht in allen Beiträgen nieder, namentlich die systematisch-theologischen Beiträge der Autor*innen aus den Kirchen der Reformation verzichten beinahe gänzlich darauf, ihre katholischen Kolleg*innen zu zitieren. Zu vermissen ist die Bezugnahme der Beiträge aufeinander, die sich maximal in einer Verweisfußnote niederschlägt (z.B. ohne Fußnote: Kaufner-Marx, 167, Enxing, 216, mit Fußnote: Knorn, 155), gerade auch wenn eine gemeinsame Begrifflichkeit gewählt wird (so die Kollektivverantwortung bei Enxing, 231 und Koslowski, 237). In manchen Einzelbeiträgen wäre der Verweis auf einschlägige Diskurse wünschenswert (so zur nachholenden Modernisierung, zur Religionsfreiheit (143f), zum Schuldbegriff bei Kant, so z.B. ohne Nennung Harasta, 61, mit ebd., 62, im Kontext Knop, 78f). Dem Freiheitsbegriff wird ein großer Raum eingeräumt, die Begrifflichkeit ist aber nicht immer geklärt (so vor allem bei Knop (79f)). Die Weite der Ausführungen erweckt beim Lesen den Eindruck, dass das Thema nicht immer im Blick ist. Die praktischen Anwendungsfelder sind ein großer Gewinn, die gerade durch ihren Werkstattcharakter überzeugen. Deutlich wird in diesen Beiträgen, dass die andere Seite der Medaille die theologische Klärung der Erlösung zu sein scheint. Die soteriologische Fragestellung jedenfalls zieht sich wie ein roter Faden durch die fragenden Reflexionen der Beiträge.

Die Zusammenstellung der Beiträge, die Vielfalt der Themen und Zugänge, die rasche Publikation und die in den Schuldbegriff hineingenommenen Diskurse zeigen die Aktualität des Themas, dem eine weitere Begriffsarbeit ebenso wie eine Klärung der philosophischen und theologischen Anschlussfragen in aller Gründlichkeit zu wünschen ist.

Zur Rezensentin:
Prof. Dr. Gunda Werner, geb. 1971, ist Juniorprofessorin und Leiterin der Abteilung für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.


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