Hilbert

Daniel Bogner/Cornelia Mügge (Hg.), Natur des Menschen. Brauchen die Menschenrechte ein Menschenbild?, Fribourg/Freiburg/Wien 2015, Academic Press und Herder-Verlag, (= Studien zur Theologischen Ethik 144), 233 S., 40,00 €, ISBN 978-3-451-34285-1


Die Vorstellung von der „Natur“ des Menschen war lange Zeit ein selbstverständliches und – was die Bestimmung eines moralisch guten Lebens betrifft – unentbehrliches Element der von der katholischen Theologie zu Grunde gelegten philosophischen Denkmatrix. Sie blieb es auch, aber nunmehr nur noch präferiert, als im Zuge der Neuzeit erkenntniskritische Zweifel an dem massiven Realismus, die Entdeckung der historischen Variabilitäten und die Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Empirie den theoretischen Implikationen dieses Theorems beträchtlich zusetzten. Eine wirkliche Problematisierung auch im Bereich der Theologie erfolgte allerdings erst dann, als es um konkrete Fragen des guten Lebens ging und neue technische, medizinische und organisatorische Möglichkeiten Debatten um den bisher plausiblen Rückgriff auf die Natur des Menschen und die Naturgemäßheit bestimmter Handlungsweisen erzwangen (v.a. im Bereich der Sexualethik).

Denn die Vorstellung von einer Natur des Menschen diente bis dahin als Inbegriff dessen, was allen Menschen gemeinsam war. Sie galt (einschließlich der in sie eingetragenen Vorstellungen vom gelungenen Menschsein) als angeboren und unveräußerlich und taugte auch als anerkannte objektive Grundlage, auf die man sich berufen oder sogar sich je nachdem verweigern konnte, wenn man am Faktischen, an dem durch Macht zur Geltung gebrachten Konstruierten oder zu dem aus subjektiver Einsicht oder Willkürlichkeit Fantasierten Kritik übte oder dazu sogar in Widerspruch stand.

Vor diesem Hintergrund „lohnt“ es sich, dem Verschwinden, dem stillen Abhandenkommen, vielleicht auch der Unverzichtbarkeit und Verborgenheit bzw. der eventuellen Vererbung der Vorstellung von der Natur nachzuspüren. Eine solche latente Beerbungsformel könnte etwa im heute vielfach beschworenen Begriff des „Menschenbildes“ liegen. Das ist jedenfalls eine Vermutung, der der vorliegende Band – Dokumentation einer Tagung im Herbst 2014 an der Universität Freiburg i. Ue. und ausgerichtet vom Lehrstuhl für Allgemeine Moraltheologie und Theologische Ethik an eben dieser Universität – in interdisziplinärer Bemühung nachgehen möchte.

Im Unterschied zu früheren Diskussionsbänden zu Natur und Naturrecht, die es in reicher Zahl gibt, fokussiert der vorliegende Band auf jene Problematisierungen, die aus den Debatten, die aktuell in der Philosophie weltweit geführt werden, resultieren. Es geht dabei auch nicht schwerpunktmäßig um die Theologie und die Theologische Ethik. Aber beide sind von diesen Debatten zwangsläufig tangiert. Denn die Theologie muss um ihres Selbstverständnisses willen größtes Interesse daran haben, dass die Redeweise von „dem Menschen“ nicht hohl wird, sondern gehaltvoll und identifizierbar bleibt auch in, trotz und sogar wegen der Unterschiedlichkeit der Gesellschaften, der Kulturen, der lebensaltersspezifischen Entwicklungsformen, der Geschlechter, der Vitalität, der politischen und sozialen Verhältnisse. Umgekehrt geht es aus der Perspektive der heute weltweit als ethischer Standard anerkannten Menschenrechte darum, wie abseits von Buchstaben und von der Formalsprache des Rechts auch Motivationen für aktives Engagement und politisches Handeln (als Postulat ist das auch in der Zielrichtung, die mit „Empowerment“, „Implementierung“ oder „Verwirklichung“ umschrieben ist, impliziert) generiert werden können und gleichzeitig eine wirksame Barriere gegen Fundamentalismus und religiös verbrämten Fanatismus errichtet werden kann. Dazu braucht es – das ist eine der Ausgangsthesen der Tagungsregisseure (vgl. S. 7) – eine Vorstellung vom Menschen, die geschützt werden soll. Menschenbilder transportieren aber immer auch kulturell-mentale Besonderheiten und sind weltanschaulich aufgeladen. Da sie also in diesem Sinn unvermeidlich partikular sind, ist es – so eine andere Ausgangsthese der Veranstalter – notwendig, ihre Vereinbarkeit mit der weltanschaulichen Pluralität aufzuzeigen (vgl. S. 155) bzw. (das entspricht den tatsächlichen Mühen auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes besser) zu rekonstruieren.

Die aktuellen Debatten, die im Zuge dieses Bemühens zusammengetragen, referiert und reflektiert werden, sind denkbar verschieden. Aus der Wahrnehmung des Rezensenten, der sich von der Struktur des Nacheinanders der Beiträge und der Gruppierung nach der Logik einer gedanklichen Systematik freimacht und gleichsam diachron liest, sind es die Debatten um:

- die Spannung zwischen Natur (bzw. auch Menschen„bild“) als Abstraktum und formaler Größe zur Charakterisierung des allen Menschen Gemeinsamen und „Natur“ bzw. Menschen„bild“ als Inbegriff der Bedürftigkeit, Körperlichkeit und Leiblichkeit des Menschen und seiner Verwobenheit in die ihn umgebende und erhaltende, aber ihn auch disponierende und bedrohende außermenschliche Natur (S. 11-13; 209-220);

- die Gleichheit als Maßgabe aller einzelnen Rechte, das Entdecken kulturell bedingter Diskriminierungen und die Suche nach Wegen zu mehr Gleichbehandlung (S. 13f.; 45-66; 197-205);

- die Mehrzahl sexueller Orientierungen und Gender-Identitäten (S. 146-153; 207-220);

- die moralische Legitimität bzw. Illegitimität einer „Verbesserung“ der Menschheit mittels neuer Bio- und Humantechniken (S. 100-105; 145f.; 175-182);

- das Konkurrieren von staatlicher und kirchlicher Rechtspersönlichkeit in der sich säkularisierenden Gesellschaft (S. 221-231; vgl. auch 67-81).

Man tut diesem Band nicht Unrecht, wenn man die Beiträge als inhaltlich wie auch methodisch ziemlich heterogen charakterisiert. Das steht allerdings in keinem Gegensatz dazu, dass die meisten Beiträge ausgesprochen interessant, anregend und auch jenseits des Üblichen sind. Unüblich ist beispielsweise der breite Rückgriff auf die Überlegungen von Samuel Pufendorf im Beitrag von Simone von Zurbuchen, überraschend noch mehr die Heranziehung theologisch-anthropologischer Reflexionen von Jakob Böhme und Franz von Baader im Beitrag von Jean Claude Wolf. Auffallend und in diesem Sinne bereichernd ist auch die starke Berücksichtigung US-Amerikanischer Diskurse und Literatur durch alle Beiträge hindurch. Schließlich gehört zu den konzeptionellen Überraschungsmomenten auch das Spektrum der Autoren, die zu Wort kommen; es umfasst auch Philosophen, die bisher weder in ihren eigenen Beiträgen noch in ihrer Rezeption als der Theologie nahe stehend aufgefallen sind.

Die „Architekten“ der Tagung wie auch des sie dokumentierenden Bandes haben mehrere Versuche unternommen, die Beiträge trotz aller Verschiedenheit unter einen gemeinsamen Fokus zusammenzubringen, der über das Stichwort „Natur“ hinausreicht. Einer dieser Versuche ist der gelungene, theoretisch anspruchsvolle Einführungsbeitrag des Herausgebers Daniel Bogner, anspielungsreich überschrieben mit „Vom Nutzen und Bankrott der Natur im Leben“ und als „Sondierungen zu einem umstrittenen Thema“ charakterisiert. Ein anderer Versuch ist der Untertitel des Bandes, der in Gestalt einer Frage auf den Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenbild abhebt. Das macht insofern Sinn, als das Naturrechts-Theorem in Bezug auf die Form und die Begründung der Menschenrechte noch immer seine stärkste Plausibilität hat. Und schließlich gibt es als dritte und äußerliche Verbindungsstruktur die Gliederung der Beiträge in „Grundlegende philosophische Fragen“, die „Politische Dimension des Naturbegriffs“ und „Ethische, rechtliche und theologische Praxisfelder“.

Es wäre eine unangemessene Erwartung an dieses Projekt, ein gemeinsames inhaltliches Resultat oder abschließende theoretische bzw. methodologische Konvergenzen konstatieren zu wollen; es sei denn die, dass Erzählungen und Bilder und eben auch Menschenbilder für die Anwendungskontexte der Menschenrechte und für die Motivation zum menschenrechtlichen Handeln sinnvoll und sogar notwendig sind. Was vor uns liegt, ist ein Diskussionsband im besten Sinn, der offensichtlich bereits von der Konzeption her auf Offenheit, Vielstimmigkeit und Originalität angelegt ist oder aber sie bewusst in Kauf genommen hat. Dabei kann der Band dem Interessierten viel Einsicht und neue Erkenntnis bieten. Der Rezensent erlaubt sich, dafür drei Beispiele zu nennen, die ihn besonders überzeugt haben, nämlich: Bogners fast nebenbei gemachter Hinweis, dass in den klassischen Formulierungen der Menschenrechte sehr Vieles unter Machbarkeits- und Kontextvorbehalte gestellt sei und dass Selbstbestimmung in diesem Zusammenhang gerade nicht „eine grenzenlose individuelle Selbstverfügung“ bedeute, sondern „ein Anspruch auch an den Menschen [sei], sich und die Anderen stets als Verantwortungssubjekte zu behandeln“ (S. 14). Dann die Verteidigung des Naturrechtsgedankens durch Lohmann als „nicht nur historisch, sondern auch [sc.: weiterhin als] systematisch erforderlich“ im Hinblick auf ein dreifaches „Wächteramt“: nämlich ein Wächteramt gegen die zentrifugalen Kräfte des Kulturalismus, ein Wächteramt gegen den Legalismus und schließlich ein Wächteramt im Sinn einer Grenze gegenüber einem idealistischen, allein auf den Geist bezogenen Verständnis des Menschen, wie es in den transhumanistischen Optimierungsphantasien Gestalt annimmt (S. 95-105). Schließlich ist es die Beschreibung der Grenzverschiebung im Beitrag von Zimmermann, der anhand der Bioethik-Debatten eindrucksvoll zeigen kann, wie kompliziert das Verhältnis von Natur, Mensch, Technik und Ethik heute geworden ist (S. 175-195) und wie wenig sich die Theologie im Allgemeinen und die theologische Ethik im Besonderen resigniert oder aber arrogant mit einfachen Antworten zufrieden geben darf.


Zum Rezensenten:

Prof. Dr. Konrad Hilpert, geb. 1947, ist em. Professor für Moraltheologie an der Ludwig Maximilians-Universität München.



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