Enxing Sünde

Diskussionspapier:

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Julia Enxing und Stephan Jütte



Sünde

Zur theologischen Relevanz eines strapazierten Deutungsbegriffs

 „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war,

bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen.

Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote

 in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte,

ging etwas verloren.“[1]


Die Un–selbst–verständlichkeit der Sünde

Wer spricht denn heute noch von Sünde? Alltagssprachlich begegnet uns der Begriff der Sünde als harmlose und kecke Variante zum Schuldbegriff: So ärgern sich einige weiße Europäer*innen mit Blick auf die bevorstehende Strandsaison über ihre Diätsünden. Und jene*r gilt als überaus prüde, der*die sich nicht ab und zu mal etwas gönnt, das „eine Sünde wert ist“. Bedeutungsschwerer scheint dabei die Rede von der in Flensburg geführten „Verkehrssünder-Datei“. Dennoch, der Eindruck bleibt, dass eine jahrhundertelange moralische Überstrapazierung des Sündenbegriffs durch eben jenes Konterkarieren ein Ende gefunden hat. Sünder*in zu sein, schmeichelt in diesem Verständnis geradezu den Schuldigen. Denn anders als der Begriff der Sünde, weckt Schuld Assoziationen von Verbrechen und Gewalt. Wer waren die Schuldigen im Dritten Reich? Staaten haben Schulden, werden verklagt. Die Kirche leidet an ihrem eigenen Unschuldswahn,[2] die Politiker*innen am gesellschaftlichen Schuldwahn, der dafür sorgt, dass fortlaufend Beschuldigungen angestellt und Rücktrittsforderungen ausgesprochen werden. Die Schuldigen sind es also, die es auszumachen gilt und die Verantwortung tragen, nicht die Sünder*innen. Heißt dies, dass die theologische Sündenfixierung der letzten Jahrhunderte einen Bumerang-Effekt ausgelöst hat, der dazu führt, dass der „garstige Graben“ zwischen säkularem und theologischem Sprachspiel immer breiter wird? Wäre dann nicht mit dem Begriff Schuld alles gesagt und erklärt, einschließlich der Ursachen für unser Schuldigwerden, die wissenschaftlich in einem neuro-physiologischen Kausalzusammenhang erfasst würden?

Aber auch wer nicht so weitgehende Schlüsse ziehen mag, wie das die Schüler Thomas Damasios[3] zu tun pflegen und stattdessen das Handwerk der Freiheit[4] und die Zurechenbarkeit von Handlungen[5] auf dem Hintergrund eines lebensweltlichen Selbst- und Fremdverstehen-Zusammenhang verteidigen möchte, kann scheinbar darauf verzichten, den Sündenbegriff konzeptionell zu veranschlagen oder ihn auch nur in seinem Vokabular mitzuführen. Diese Verschwiegenheit ist aber unzureichend erfasst, wenn sie bloß unter dem Label der mentalen Säkularisierung als Chiffre für den Traditionsabbruch jüdisch-christlicher Narrative in unserer Gesellschaft gedeutet wird. Denn der Sündenbegriff operiert semantisch so großflächig, dass er – zumal und vor allem im Verhältnis zum Schuldbegriff – mehr Erklärungsbedarf generiert, als Sachverhalte bezeichnet. Nicht erst der Wandel des Sprachgebrauchs zeigt auf, dass den Begriffen „Schuld“ und „Sünde“ keine monolithischen Definitionen zugrunde liegen – einmal abgesehen von den bekannten Sündenregistern und Beichtspiegeln. Vielmehr haben wir es hierbei mit pluriformen Begriffen zu tun, Deutungskategorien, die gefüllt werden wollen.[6]  

Was ist Sünde?

Bereits die Heilige Schrift fordert die Lesenden mit einer begrifflichen Deutungsvielfalt heraus. So kommen exegetische Untersuchungen zu dem Schluss, dass weder die hebräische noch die griechische Bibel Termini für Sünde und Schuld kennt, denen je nur eine Deutung entspräche.[7] Es gibt keinen Begriff, der ausschließlich eine Verletzung des Verhältnisses der Menschen zu Gott oder des Nächsten beschreiben würde. So ist nach Michael Theobald dem Alten Testament terminologisch gar nicht an einer Unterscheidung gelegen.[8] Für ihn ist Schuld lediglich eine mögliche Bezeichnung für das vielfältige und vielschichtige Phänomen der Sünde, er spricht von Schuld als einem „Aspekt“ von Sünde.[9] Auch Sievernichs Beschreibung legt einen Verzicht auf eine definitorische Unterscheidung der beiden Termini nahe: „Die für das Christentum als Erlösungsreligion zentrale Kategorie der Sünde […] integriert die Erfahrung personaler Schuld und das Widerfahrnis transpersonaler Schuldverstrickung in die Gottesbeziehung des freiheitlichen Subjekts.“[10] Und die beiden Versionen der fünften Vater-Unser-Bitte, wie sie bei Matthäus und Lukas festgehalten sind, setzen durch die Verwendung der Termini Schuld/Schulden/Schuldner und Sünde/Sündiger zwar unterschiedliche Schwerpunkte, ein klarer Rückschluss dahingehend, dass beide nun etwas grundsätzlich anderes aussagen wollen, liegt allerdings fern.

Die Vielfalt der alt- und neutestamentlichen Begriffe für Schuld und Sünde ermöglichen es dennoch, Nuancen und Wirklichkeitsräume des sündigen und schuldhaften Geschehens differenzierter zu bestimmen als unsere Kategorien der Sünde und Schuld es bislang vermögen.[11] Sünde und Schuld beschreiben eine „Anti-Qualität“[12], die je nach kulturellem, politischem und historischem Kontext unterschiedlich gefüllt werden muss. Dabei stoßen alle Deutungen von Schuld und Sünde letztlich dort an ihre Grenzen, wo sie das Freiheitsmoment des Subjekts vor Gott negieren oder ausschalten und der gerade dem christlichen Sündenverständnis inhärente weite, die gesamte Existenz umfassende Horizont zugunsten eines deterministischen Handlungsmusters ad absurdum geführt wird.

Das bedeutet positiv formuliert, dass der Sündenbegriff nur dann als Bestimmung der Beziehung zwischen Gott und Mensch sinnvoll angewandt wird, wenn er zugleich die Unterschiedenheit zwischen Gott und Mensch als auch deren jeweilige Freiheit voneinander und füreinander zum Ausdruck bringen kann. Dies wiederum zeigt an, dass der Sündenbegriff seinerseits ein Deutungsbegriff ist, welcher das jeweilige Tun und Lassen über einen Deute-Umweg über Gott[13] in den Blick nimmt. Dass etwas Sünde oder dass jemand eine Sünder*in ist, kann von daher gar nicht selbstverständlich, d.h. aus der Wahrnehmung des Phänomens als sich evident erschließend gedacht werden, sondern ist Ausdruck einer bestimmten Perspektivität innerhalb des Glaubenskonstrukts, mit dem ein Mensch sich und die Umwelt deutend ordnet.[14]  

Sünde als Deutungsbegriff des glaubenden Selbstvollzugs

Wenn wir demzufolge Sünde also nicht als Bezeichnung für dieses oder jenes, sondern als Deutungsbegriff innerhalb eines orientierungsstiftenden Konstruktsystems[15] verstehen, dann wird deutlich, dass die Verwendung des Sündenbegriffs nicht alternativlos ist, sondern dass ihr eine menschenunmögliche Voraussetzung – nämlich zu glauben – vorausliegt. Menschenunmöglich ist der Glaube, insofern die Möglichkeit zu glauben nicht vom Menschen her kommt, sondern als Gnadengeschenk Gottes geglaubt wird.  Aus einer nicht vom Glauben bestimmten Perspektive  scheinen andere Deutungsangebote näherliegend: Jemand hat sich selbst verfehlt, indem sie ihr Potential nicht ausschöpft oder er hinter dem zurück geblieben ist, was er von sich erwartet. Man kann Schuld auf sich laden, so dass man in diesem Tatzusammenhang ganz aufzugehen scheint und nicht nur einen Mord begeht, sondern zum Mörder wird. Oder man kommt einer zu Recht bestehenden Verpflichtung nicht nach, wird also schuldig, indem man eine Schuld nicht tilgt und damit seinen Kredit verspielt. Mögen alle diese Beispiele noch bis in die Sprache hinein auf ihre sakralen Wurzeln durchsichtig sein, so funktionieren sie doch einwandfrei ohne Rekurs auf eine Gottesbeziehung oder einen Gott.

Fragwürdige Schuld

Es könnte nun vermutet werden, dass der Schuldbegriff sich gegenüber dem Sündenbegriff lebensweltlich durchgesetzt und ihn absorbiert habe. Allerdings übersieht eine solche Schlussfolgerung, dass der Schuldbegriff seinerseits selbst außerhalb der Finanzmärkte durchaus fragwürdig geworden ist und zwar an seiner juridisch relevantesten Stelle, nämlich der Voraussetzung von Freiheit und Handlungszurechenbarkeit. Was Kant noch unbeirrt als grundanthropologischen Hang zum Bösen der menschenmöglichen Autonomie entgegenstellen konnte, ist längst zu facheigenen Gegenständen der Pädagogik, Psychologie und Psychiatrie geworden und hat von da aus das lebensweltliche Hintergrundwissen formatiert. Schuld mag zwar juristisch noch eine feststellbare Tatsache sein, aber unter der Hand hat sich diese im Prozedere der Schuldbemessung längst zu einem Anamneseverfahren in heilender Absicht verwandelt.[16] Schuld wird im Strafrecht nicht vor allem deshalb festgestellt, weil eine gerechte Strafe zu dieser Schuld gesprochen werden muss, sondern damit die Täter*innen dem ihrer Pathologie korrespondierenden Therapiesetting zugeführt werden können.[17] Wenn das geltende Recht als demokratisch legitimiert gedacht wird, ist es Ausdruck davon, dass die Gesellschaft nicht die Rache will, sondern dass der Schuldige sich bessert und resozialisiert werden kann.[18] Man mag dies bestreiten, wie dies z.B. in verfassungsgefährdenden Volksinitiativen im direktdemokratischen Verfassungswesen der Schweiz geschieht. Aber gegenüber diesen Akten massendemokratischer Empörung gilt es festzuhalten, dass die Gesellschaft nicht mit diesen gleichzusetzen ist, sondern einen Hintergrundkonsens voraussetzt. Dieser zeigt sich in ihren gewährten Grundrechten und der Verfassung. Dass nämlich überhaupt in Abstimmungen diffuse Ängste und Ressentiments ausgedrückt werden können, setzt schon voraus, dass demokratische Rahmenbedingungen gewahrt werden.

Schuld oder Krankheit?

Diesem Siegeszug der Pathologisierung des Bösen (und der Bösen) liegt die Einsicht zu Grunde, dass Opfer und Täter nicht durch einen weiteren Gewaltakt zu Recht gebracht werden können. Daraus folgt die begrüßenswerte Konsequenz, den Rachegedanken strafrechtlich nicht zum Leitmotiv zu erheben. Andererseits ist gleichzeitig die Schuldfähigkeit zu einem Vermögen geworden, welches Täter*innen nicht automatisch beanspruchen dürfen. Die mediale Öffentlichkeit hat zum Beispiel sehr empfindlich darauf reagiert, als Anders Breivik darauf beharrte, schuldfähig zu sein. Sein diesbezügliches Interesse erklärt sich damit, dass er seine Tat nicht als die eines Wahnsinnigen – quasi als Unfall – abgetan sehen wollte. Vielmehr wünschte er sich die öffentliche Auseinandersetzung mit seiner Motivlage. Das öffentliche Entsetzen darüber, dass er das tatsächlich will, liegt daran, dass die Öffentlichkeit angesichts dieser Schreckenstat nicht bereit war, mögliche Gründe überhaupt zu thematisieren, sondern behauptete, dass es solche für den sprichwörtlich gesunden Menschenverstand gar nicht geben könne.

Wenn nun aber Schuld als Konzept an den Rändern  des rational Nachvollziehbaren (und über diese hinaus) problematisch wird, dann bezieht sie sich lediglich auf ein Kalkül: Die Opportunitätskosten der Übertretung (Verlust der Selbstachtung, gesellschaftliche Ächtung, Strafe) werden gegen den erwarteten Vorteil aus der Übertretung abgewogen. Wer diese Rechnung nicht plausibel vertreten kann, wird nicht bestraft, sondern therapiert – und zwar um den Preis der öffentlichen Anerkennung als autonomer Akteur*in – zumindest auf Zeit. Der German-Wings Pilot, der die Maschine mitsamt 149 Passagieren und Crewmitgliedern in den französischen Alpen zum Absturz brachte, hat zwar schrecklich Böses getan, aber nicht, weil er böse ist, sondern aufgrund seiner Krankheit. Dieser Gedanke kann so weit getrieben werden, dass die Krankheit zum alternativen Subjekt gegenüber dem Kranken wird: „Es war nicht Andreas Lubitz, der das getan hat, es war seine Krankheit.“[19] Und dass ein Kranker überhaupt in dieser verantwortungsvollen Position arbeiten kann, ist dann wiederum die Schuld anderer. Diese sind nicht böse und schon gar nicht krank, sondern wahlweise fahrlässig oder schlecht organisiert. Und deshalb liegt die Lösung des Problems in der pragmatischen Umsetzung von Verbesserungen, die eine solche Tragödie künftig verhindern sollen. Schuld wird in Bezug auf den Täter als Pathologie thematisch und diffundiert in den apersonalen Bereich von Struktur.

Nicht Sünde oder Schuld, sondern Sünde und Schuld unter dem Diktat der Pathologisierung

Wenn wir also nun nach der theologischen Relevanz des Deutungsbegriffs Sünde fragen, dann muss dieser nicht nur gegenüber dem konkurrierenden Schuldbegriff, sondern vor allem angesichts dessen, dass die pathologisierende Deutung gegenüber beiden eine theoriestarke Alternative anbietet, analysiert werden. Es muss also gefragt werden, wie ein echter Schuldbegriff gefasst werden kann und über welche (theologischen) Kriterien wir verfügen, die es ermöglichen, eine legitim-produktive Schuldrede von einer ent- oder überpersonalisierenden Pathologisierung des Schuldbegriffs zu differenzieren. Anschließend bleibt die Frage nach dem Verständnis von Sünde in der Trias Sünde – Schuld – Krankheit. Lassen sich auch angesichts des Sündenbegriffs Pathologisierungstendenzen ausmachen? Die Frage nach der Freiheit des Willens würde jedenfalls auch die Gott-Mensch-Beziehung und den in ihr geborenen Hoffnungshorizont sprengen und das sündige Individuum bestenfalls als praktisch willenlosen Akteur von Gottes pädagogischem Konzept begreifen. Hoffnung auf Erlösung und die Kraft zur Überwindung des sündigen In-der-Welt-Seins wäre dann eine Fiktion oder zumindest subjektunabhängig und allein vom „Good Will“ Gottes abhängig.

Schuldfähig oder krank?

Der Fall Breivik hat bereits die Ambivalenz von Schuldfähigkeit verdeutlicht. Betrachtet man das Phänomen der Schuld (zunächst) auf der Ebene des individuellen Akteurs, so ist die beobachtbare Tendenz einer „Pathologisierung des Schuldbegriffs“ bereits deshalb problematisch, da vermieden wird, Schuld als solche zu benennen und anzuerkennen. Dies kann zum Schutz des Schuldig-Gewordenen oder des Überlebenden geschehen oder auch nur dem Eigenanspruch einer Zivilgesellschaft entgegenkommen. Schuld besteht insofern nicht „an sich“, sondern als Konsequenz – im Plusquamperfekt. Sie ist dann weder die dispositive Schuld des Menschen als anthropologisch-ontologische Grundkonstante; sie liegt aber auch nicht in der Vergangenheit zu einer Tat oder Nicht-Tat vor,[20] sondern sie ist erst in dritter Reihe die Folge einer Krankheit, aus der eine schlechte Tat entsteht, die dann wiederum als Schuld qualifiziert wird. Durch die Aufhebung der Unmittelbarkeit von „schuldiger Tat“ über die Zwischenkategorie „Krankheit“, wird aber auch der Haftungszusammenhang empfindlich gestört. Die schuldhaft Handelnde – und an ihrer statt oft auch die Strafinstanz – übernimmt dann nämlich nicht Verantwortung für die Tat an sich und die Folgen der Tat, sondern für das vor der Tat bereits vorliegende psycho-sozial „Unnormale“. Letzteres wird nun, da sich seine Ausmaße in einer Straftat kondensiert haben, als dringend behandlungswürdig angesehen. Dabei geraten die Überlebenden  allerdings vollkommen aus dem Blick.

Die Therapierung des schuldhaft gewordenen Kranken berücksichtigt die Opfer nicht. Sie entbindet den Schuldigen von der Gebrochenheit der Welt des Überlebenden, und konfrontiert ihn stattdessen fortwährend mit den Abgründen des eigenen Lebens. Der Messdiener vergewaltigende Priester konnte dann nicht anders, da er selbst bereits Vergewaltigungsopfer war und bereits früh in seiner eigenen Biografie entgrenzte Gewalt erlebt hat, jedoch keine Unterstützung hatte, diese traumatischen Erlebnisse zu bearbeiten, geschweige denn, dass die an ihm schuldig Gewordenen zur Rechenschaft gezogen wurden. Solche Fälle transgenerativer Gewaltanwendung sind häufig, und vermutlich ist jede Gewalttat durch in der Kindheit liegende grenzüberschreitende Erfahrungen besser verstehbar. Und die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, die zur erneuten Eigen- und Fremdverletzung führen würden, sind unabdingbar und können nicht ersetzt werden. Und dennoch besteht die Gefahr, dass die gesellschaftlichen Therapieprogramme und unsere Sprach- und Reflexionsfähigkeit genau hier endet: Soll er eine Therapie machen. Er ist krank. Der kranke Priester ist dann nicht mehr Priester, Sohn, Liebhaber, Seelsorger, Fußballfan, sondern „krank“. Für diejenigen, die schuldhaft gehandelt haben, folgt daraus, dass ihre Straftat nicht nur von ihrer Person und Personenwürde getrennt wird, sondern auch, dass sie in ihrer Straftat nicht ernst genommen werden. Nicht selten geht eine Pathologisierung von Schuld mit einer Infantilisierung oder Invalidisierung des Schuldigen einher. Wo die Schuldigen sich dagegen wehren, lassen sie uns sprachlos zurück (Fall Breivik).

Für die Überlebenden der Gewalt hat die schleichende Ersetzung von „schuldhaft“ durch „krankhaft“ ebenfalls bedenkliche Konsequenzen: Mit den Kranken müssen wir Mitleid und Verständnis haben. Ihnen müssen wir verzeihen, denn sie konnten nicht anders. Sie, die Kranken, sind auch nichts anderes als „krank“. Man verzeiht dann das Kranksein und damit der Person, die die Schuld begangen hat. Das, was aus pathologischen Gründen an uns schuldhaft geworden ist, können wir nicht mehr moralisch qualifizieren, sondern lediglich als ‚Naturereignis’ hinnehmen und beklagen. Man kann dann die Opfer bemitleiden, sich mit ihnen solidarisch zeigen – aber man kann nicht Partei für die Opfer und gegen den Täter oder die Täterin ergreifen, weil sie ja selbst ‚in Wahrheit’ Opfer ihrer Krankheit sind.

Man muss gar nicht so weit gehen und von einer Stilisierung des Täters als Opfer (seines Umfelds, seiner selbst) sprechen. Es reicht bereits, dass der Überlebende durch die Pathologisierung der Schuld des schuldhaft-Tätigen primär zum Verständnis für die aufgrund der Krankheit aus Sicht des Kranken bestandene Notwendigkeit zur Tat gedrängt wird.

Aber, so könnte man fragen, schützt dies nicht auch das Opfer? Und eigentlich auch uns alle, denn in einer Gesellschaft von wirklich Bösen wollen wir nicht leben. In Gesellschaft derer, „die einfach nicht anders konnten“, lebt es sich besser. Und ist es nicht auch für den Verarbeitungsprozess des Opfers zielführender, wenn dieses versteht, dass es von einem Kranken angegriffen wurde und nicht von jemandem, der seinen schieren Hass und Vernichtungswillen auf das Opfer gelenkt hat, der das Opfer verletzten wollte? Und weiter gefragt, ist es aus christlicher Perspektive nicht zutiefst begrüßenswert, dass der Schuldiggewordene, im Kontext der ihn zu Schuld verleitenden Verhältnisse gesehen wird und wir ihm seine Tat leichter vergeben können? Denn dann müssten wir im Grunde gar nicht ihm vergeben, sondern den Strukturen, die ihn zu dem gemacht haben, der er ist und die uns umgekehrt vielleicht genauso zu einem Mörder hätten machen können. So dass wir dann sagen: „Das hätte uns doch genauso passieren können, wären wir in diesem Umfeld und unter diesen Bedingungen groß geworden.“

Diese rhapsodisch zusammengetragenen Einzelphänomene des pathologisierten Schuldbegriffs zeigen vor allem Eines: Mittels der Pathologisierung von Schuld und Täter*in sollen die Würde und der Wert des Menschen kontrafaktisch zu seiner schuldhaften Tat und Verstrickung postulierbar bleiben. Auch das korrumpierte, pervertierte und animalische Individuum enthält trotz „kranker Hülle“ einen nicht zu entwürdigenden Kern – den Kern „Mensch“. Doch hat ein derart pathologisierter Schuldbegriff tatsächlich das Potential, eben jene unzerstörbare Würde in den Mittelpunkt zu stellen, oder ist dies der entscheidende Punkt, an dem der Sündenbegriff ins Spiel kommt?


Leistung und Funktion des Sündenbegriffs: Der Mensch vor Gott

Der Sündenbegriff ist eine theologische Formulierung eben dieses Anliegens. Das biblische awon/hatta stellt jene Gebrochenheit des Menschen und die Zerbrochenheit seiner sozialen Beziehungen in den Zusammenhang des je größeren Angenommen-Seins durch Gott. Die Perspektive Gottes auf den Sündigen ist die kontrafaktische, bedingungslose Anerkennung der Würde der Person – inmitten des Unmenschlichen ihres Agierens, Denkens und Fühlens. Sünde ist die Schnittstelle der alles Menschliche transzendierenden Liebe Gottes (Gnade, Barmherzigkeit). Insofern ist Sünde nicht „etwas Menschliches“, das durch die ganzheitliche Liebe Gottes nivelliert würde. Es ist diejenige Beziehungsdimension, welche durch Gottes Göttlichkeit bedingt wird, jener Begriff, der wie kein anderer unser Verwiesen-Sein auf das Unsagbare zum Ausdruck zu bringen versucht. Sünder*in zu sein sagt dabei gerade nicht (in erster Linie) aus, etwas Falsches getan zu haben, anderen oder sich selbst geschadet zu haben. Sünder*in zu sein, meint vielmehr, dass es ein „Anderes“ gibt, vor dem etwas als falsch sichtbar wird. Dieses Andere wird so gedacht und geglaubt, dass es vor ihm nicht die Sünde ist, die uns ausmacht, sondern das von diesem Anderen herkommende „Dennoch“ zum Sünder und der Sünderin. Und dass dieses „Dennoch“ es ist, das den Menschen zum Partner des „Anderen“ macht und dereinst und schon jetzt mit Gott vereint, während der „Andere“ sich in dieser Partnerschaft als Gott zu erkennen gibt.

Indem Sünde als „trennend“ oder „verletzend“ bestimmt wird, wird im Grunde vielmehr über das ausgesagt, was getrennt und verletzt wird, was heil war und zusammengehört als über den Verletzenden. Insofern verweist der (ursprüngliche) Sündenbegriff weit über sich hinaus auf das Eigentliche des Menschen, das im Vergebungshandeln und der Überwindung der Sünde immer auch den Moment eines Neuanfangs umfasst. Ein Neuanfang, der die Möglichkeit der faktisch-empirischen Re-alisierung der im Menschen wirkenden Gnade Gottes neu initiieren kann.[21] Erst aufgrund der Zusage, dass selbst der/die größte Sünder*in von Gott nicht verwiesen wird und Gott die Sündigkeit des Menschen letztendlich (!) nicht dem Menschen anrechnet.[22]

Leistung des Sündenbegriffs: Der Gott für die Menschen

Des Weiteren versucht bereits die Vertreibung aus dem Paradies deutlich zu machen, dass Sünde vom Menschen ins Da-Sein gebracht oder zumindest ausagiert wurde. Damit hat sie die Funktion, Gott als das Sündengeschehen ertragende, duldende oder auch durch-leidende Wesen zu beschreiben, welches damit aber zugleich in Distanz zur Sünde steht. Sünde ist somit zweierlei: die „Entculpabilisierung“ Gottes und die „Entculpabilisierung“ der Menschen. Entculpabilisierung Gottes ist sie, insofern Gott das sündige Geschehen weder evoziert noch will und schon gar nicht bewirkt. Gott ist die kontrafaktische Natur zur Sünde und insofern als ihr Gegenüber zwar nicht machtlos, aber dennoch nicht verursachend und daher auch nicht verantwortend. So treten auch Jesus und Maria in einer ganz bestimmten Funktion ins Sündengeschehen hinein. Beide sind Vermittler*in der Vergebungsbereitschaft Gottes und Orte, von denen her die Sündhaftigkeit des Menschen in den Blick geraten kann. Christus ist darüber hinaus die Bedingungsmöglichkeit des menschlichen Lebens auch und gerade aus dieser Perspektive. Zur Funktion der Sünde als „Entculpablisierung Gottes“ kommt durch Jesus als Christus eine „Entculpabilisierung der Menschen“ hinzu. „Am Kreuz entschuldet Gott den Menschen“ (Röm 3, 24-26; 1 Joh 2,2; 4,10), indem die Menschheit in und mit diesem einen Erwählten, Jesus von Nazareth, gekreuzigt wird, stirbt und von Gott neu ins Leben gebracht wird.[23]

Sünde als Diagnose

Sünde strukturiert aber nicht nur das Gott-Mensch-Verhältnis, sondern hat darüber hinaus diagnostischen Wert, nämlich in der Rede von der Sünde als Zäsur ursprünglich heiler Beziehungen. Der Katholische Erwachsenenkatechismus versteht Sünde im bereits ausgeführten Sinn als „Nein zu Gott“[24], bleibt dabei aber nicht stehen, sondern verweist in diesem Zusammenhang auf die Wellen, die ein „Nein zu Gott“ schlägt: „Sittliches Handeln beruht auf der freien Zustimmung zum sittlichen Anspruch, in welchem letztendlich der Wille Gottes für den Menschen zum Ausdruck kommt. Deshalb umfasst das Wesen der Sittlichkeit zutiefst das Ja zum Willen Gottes. Wo dieses freie Ja verweigert wird, geschieht Sünde. Sünde ist somit nicht nur ein Verstoß gegen Gesetze, sondern eine Verweigerung des Anspruchs Gottes, ein Nein zu Gott. In ihr verfehlt der Mensch zugleich die Bestimmung der eigenen Person, die Liebe zu den Mitmenschen und die Verantwortung für die Schöpfung. Sünde spaltet den Menschen und die Menschheit und schafft eine zerrissene Welt, in der das Böse immer wieder neues Böses hervorbringt.“[25]

Auch an anderer Stelle wird betont, dass Sünde nie nur die Gott-Mensch-Beziehung verwundet, sondern immer auch Folgen für die Gemeinschaft der Menschen untereinander hat.[26] Man wird dem Sündenbegriff deshalb nicht gerecht, deklariert man ihn als „Privatsache“ oder verbannt man ihn in das kleiner werdende Kämmerlein der frommen Christ*innen. Eine Reduktion des Sündenbegriffs auf die Gott-Mensch-Relatio wird weder dem biblischen Zeugnis noch der anthropo-theologischen Wirklichkeit einer alle Beziehungen umspannenden Weggemeinschaft Gottes mit dem Menschen gerecht.

Sünde, so wurde argumentiert, benennt eine Realität, in der die zum Heil bestimmten Beziehungen beschädigt wurden bzw. werden. Sie zeigt damit zugleich den Kontrast zur von Gott gewollten Welt an. Damit ist sie nicht nur Symptombeschreibung und Diagnostik, sondern verweist auf einen Therapiebedarf, wobei sie an eine grundsätzliche Therapierbarkeit glaubt. So wie nur angesichts einer personalen Freiheit des autonomen Subjekts von Sünde gesprochen werden kann, so setzt die Überwindung derselben Autonomie und Freiheit voraus. Das Bewusstwerden über die Eigenverantwortlichkeit des sündigen Menschen, und die Ermöglichung der Emanzipation aus dem von der Sünde affizierten Netz des Sozialen, sind Voraussetzungen für den Umkehr- und Vergebungsprozess.

Strukturanalogie zwischen Sündigkeit und pathologisierter Schuld

Damit tritt der oben skizzierte pathologisierte Schuldbegriff nicht nur sprachlich in die Nähe des (theologischen) Sündenbegriffs. Innerhalb des pathologisierten Schuldbegriffs rückt die Krankheit, die zur schuldhaften Tat führt, als Erklärung der Tat – die damit zum Naturereignis wird – ins Zentrum. Somit kann sie den schuldigen Menschen aber auch von der Verantwortung für das schuldhafte Geschehen entbinden –, womit der pathologisierte Schuldbegriff dem nicht-pathologisierten Schuldbegriff, für den die Haftbarmachung und Zurechenbarkeit einer Tat als Handlung zentral ist, intentional entgegensteht. Darin zeigt sich eine vermeintliche Ähnlichkeit zwischen dem pathologisierten Schuldbegriff und bestimmten Interpretationen von Erbsünde, die nämlich das sündhafte Handeln der Menschen auf die Verdorbenheit seiner Natur (und nicht etwa auf den freien Willen des Menschen) zurückführen. Wobei die sündhafte Tat durch ihre Rückführung auf die Erbsünde nicht in gleichem Maße „entschuldigt“, wohl aber ebenso erklärt werden soll. Beide Erklärungsversuche haben reduktionistische Tendenzen und wollen vor allem eines: ausdrücken, dass der Mensch „eigentlich“ anderes möchte und zu anderem bestimmt ist, aber aufgrund der Krankheit oder Erbsünde nicht anders kann als so zu handeln. Der Mensch ist damit Opfer seiner eigenen Natur. Diese wiederum kann in ihrer Verdorbenheit gerade nicht auf Gott zurückgeführt werden, weshalb sowohl die Krankheit als auch die Erbsünde im Menschlichen selbst wurzeln. Bei der Krankheit ist es die krankmachende Konstellation, bei der Erbsünde der schwache Wille des Menschen,  nicht Gottes. Somit erreichen beide Konzepte eine Entschuldigung Gottes und nehmen Gott damit dezidiert aus der Verantwortung für die unheilvolle Realität heraus. Was der/die Sünder*in durch Reue und Bußakt zu überwinden sucht, suchen die (kranken) Schuldigen in der säkularen Welt. Den Sünder*innen verspricht Gott einen Neuanfang, den Schuldigen sichert unsere Gesellschaft ein pädagogisches Programm mit der Aussicht auf Wiedereingliederung zu: die Psychotherapie in der Besserungsanstalt, das Boot-Camp für die kriminellen Jugendlichen. Auch unser Rechtssystem legt den Schuldigen einen Bußkatalog auf. Anders als biblische Bußpraktiken für die Sünder*innen findet das staatliche Bußgeschehen jedoch meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt – hinter Mauern. Man braucht sich deshalb auch nicht weiter zu wundern, weshalb eine Re-Integration von Strafgefangenen in die Zivilgesellschaft oft misslingt, wenn diese von Anfang an vom Reue- und Bußgeschehen ausgeschlossen werden.[27] Und dennoch versuchen auch die Instanzen des Rechtstaates mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Täter*innen nicht auf ihre Tat zu reduzieren, sondern die Tat von dem/der Täter*in  zu differenzieren. Nur so ist es möglich, dass auch Anders Breivik ein Recht auf Besuch hat (wenn auch nur hinter einer Glasscheibe), Sport treiben darf, etc. Wäre Breivik nichts als ein Mörder, hätte er damit sein Recht auf Mensch-Sein verwirkt. Doch auch für Massenmörder gilt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Insofern versucht der pathologisierte Schuldbegriff etwas einzuholen, was bereits der Ausgangspunkt des Sündenverständnisses ist: Vor Gott ist die Sünder*innen zugleich Gerechtfertigte, in das Gnadengeschehen hineingenommene Geschöpfe Gottes.

Gerechtfertigte Freiheit als Ver-antwort-ung

Der pathologisierte Schuldbegriff und der nichtmoralische Sündenbegriff sind insofern funktional äquivalent, als dass unter der Verwendung beider Konzepte das Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung handlungseröffnend gedacht wird. Die Freiheit wird im Rahmen des pathologisierten Schuldbegriffs zu einem Zielpunkt, in dem die schuldhafte Tat – im pathologisch relevanten Sinn – als Unfreiheit gedeutet wird, der es durch therapeutisch zu erarbeitenden Autonomiegewinn entgegenzuwirken gilt. Dass der Mensch dieses emanzipatorische Potential zu verwirklichen hat – d.h. verantwortlich am Zuwachs seiner eigenen Freiheit mitwirken soll – wird damit begründet, dass diese Freiheit ein anthropologisches Datum darstelle.[28] Damit fällt die Begründung für die Unbedingtheit menschlicher Würde zusammen mit der Verpflichtung, diese in der Unbedingtheit gesetzten Freiheit zu realisieren.

Innerhalb der Sündenkonzeption ist die Freiheit die latent zu verfehlen bedrohte Bestimmung des Geschöpfs in dessen Verhältnis zum Schöpfer, insofern erst die Übereinstimmung des Willens mit Gott realisierte Freiheit darstellt. Zugleich ist sie die durch die Ursünde eröffnete Möglichkeit, jene innerhalb der Gottesbeziehung gebotene Freiheit zu verfehlen; nämlich insofern die Freiheit als nicht auf Gott hin ausgerichtete Potentialität (Sünde) verstanden wird. Das Besondere an dieser Konzeption besteht nun darin, dass die Erkenntnismöglichkeit des rechten Verhältnisses zu Gott – die demütige Unterordnung unter Gott – nicht von dessen Rechtsanspruch herrührt, sondern aus dessen erwählendem Rechtfertigungshandeln, welches den Menschen ungeachtet seines defekten Verhältnisses zu Gott annimmt. Erst von der durch den Menschen geglaubten Annahme durch Gott her wird für ihn erkennbar, dass er noch nicht ist, wer er sein kann, soll und dann auch will. Gottes Anrede als Evangelium, das heißt als in der Anrede sich vollziehende Rechtfertigung des Sünders und der Sünderin, begründet somit die menschliche Verantwortung als Antwortmöglichkeit. Somit fallen Realisierungsanspruch und -möglichkeit mit dem Zuspruch Gottes an den Menschen in Eins.

Und genau hier stößt die Strukturanalogie an ihre Grenze bzw. wird der fundamentale Unterschied der Konzeptionen von „Schuld“ oder „Sünde“ sichtbar. Während die Rede von der unbedingten Menschenwürde in der Schuldkonzeption diese Würde für den Menschen unter Absehung von seinen Taten quasi kontrafaktisch postuliert und an einer Potentialität orientiert, verdankt sich die unbedingte Menschenwürde im sündentheologischen Sprachspiel derjenigen Unbeobachtbarkeit von Faktizität– theologisch: der den Menschen in, mit und unter Christus betreffenden Erwählung, welche erst im Glauben oder, was dasselbe meint, im Zustand der Rechtfertigung verstanden werden kann – in welcher sich Gott am Ort der Sünde selbst festgelegt hat. Also ist der Mensch nicht würdig vor Gott (gerechtfertigt) obwohl er Sünder ist, sondern weil Gott in seiner freien Erwählung, welche als Selbstbestimmung seiner selbst wahrheitstheoretischen Sinn hat [29], in dem einen Menschen die sündige Menschheit mit erwählt hat. Wahrheitstheoretisch trägt dies aus, dass gerade die Sünderin und der Sünder Gott erkennen können, jedoch nicht durch sich selbst, sondern in der ihnen zuteilwerdenden Rechtfertigung.

Mehrwert des Sündenbegriffs (Surplus)

Dieser oben ausgeführte Unterschied zwischen Schuld- und Sünde-Konzeption ist keineswegs trivial, sondern verweist auf divergierende Theorieebenen. Der Unterschied lässt sich sowohl aus der Perspektive des Schuld- als auch des Sündenkonzepts beschreiben:

Aus der Perspektive des Sündenkonzepts erscheint das Schuldkonzept gewissermaßen defizitär, weil es nicht zeigen kann, sondern postulieren muss, dass die Freiheit des Menschen diesem substantiell zukommt, wobei es gleichzeitig die Realisierung dieser Freiheit als Ausdruck der je eigenen Würde beschreibt und fördert. Auf dem Boden des Schuldkonzepts hingegen erscheint das Sündenkonzept als metaphysisch-christlicher Letztbegründungszusammenhang menschlicher Freiheit, der nicht nur leicht unter Projektionsverdacht zu stellen ist, sondern darüber hinaus sich politisch immer da als schwierig erweist, wo mit ihm nicht nur die unbedingte Menschenwürde angezeigt, sondern – unter der Hand – dazu konkrete Entsprechungen in Recht und Moral eingespeist werden sollen. Aus dem Postulat unbedingter Menschenwürde erfolgt keine Betriebsanleitung für die Gesellschaftsorganisation oder konkrete Handlungsempfehlungen innerhalb bereichsethischer Fragestellungen: Es gibt keinen direkten Weg von der unbedingten Menschenwürde zum richtigen Umgang mit Embryonen, der Durchsetzung westlicher Demokratiestandards oder der Organisation von Bildung.

Während also aus der Perspektive des Evangeliums Schuld die Realisierung einer falschen Freiheit im Sinne einer Aktualisierung von Erbsünde bedeutet, ist diese im Sprachspiel von Schuld und Verantwortung lediglich ein spekulativer Abschlussbegriff, der ohnehin öffentlich keine Geltung beanspruchen und politisch damit nicht handlungsleitend werden kann. Er zeigt in religiöser Sprache einen Kerngedanken an, der die christlich-religiösen Diskurse um Freiheit und Verantwortung gegenüber Schöpfer und Geschöpf organisiert.

Würde man dies als Gegenüberstellung zweier Alternativen belassen, verfehlte man entscheidend den inneren Zusammenhang beider Konzeptionen, den es nur deswegen in einem nicht ausschließlichen Verhältnis geben kann, weil, wie wir gesehen haben, beide Konzepte auf einer unterschiedlichen Theorieebene operieren. Dabei zehrt das Schuldkonzept entscheidend vom kulturellen Lernprozess, in dem deutlich geworden ist, dass die Würde des Menschen als Wertzuschreibung und seine Autonomie als Bedingungsmöglichkeit der Zurechenbarkeit von Handlungen und damit als Fundament der Personenwürde nicht zu hintergehende Errungenschaften sein müssen. Wie aber diese Unbedingtheit der Würde begründet werden kann, ist nicht Gegenstand jenes pragmatischen, sich selbst performativ beglaubigenden Postulats, sondern gehört zu jenem politisch brisanten Hintergrundwissen, das sich nicht politisch erzeugen oder erzwingen lässt. Unter religions- und weltanschauungspluralen Voraussetzungen bedarf dieses polyphoner Begründungen, und zwar solcher, welche ihre eigene Partikularität gerade angesichts ihres holistischen Deutungsanspruches mit beobachten können.

Dass jede*r Sünder*in eine Zukunft hat und dass keine*r auf das Maß seiner/ihrer Schuld reduzierbar ist, gilt sowohl innerhalb der Rede von Schuld als auch von Sünde. Warum das aber so ist – nicht nur weshalb es so sein sollte – beantwortet nicht die Rede von der Schuld, sondern jene vom Menschen als Sünder*in. Sie tut dies absolut, indem sie den Menschen und die Welt ganz unter der Beziehung zu Gott deutet und vertritt dabei einen exklusiven Wahrheitsanspruch. Diesen aber kann sie – und das unterscheidet sie von gefährlichen Wahrheitsansprüchen – selbst als unter den Bedingungen der Welt intersubjektiv nicht geltungsfähigen Wahrheitsanspruch denken, indem sie den menschgewordenen Gott in seinem Rechtfertigungshandeln als fremde, vom Menschen her aus sich heraus weder erreichbare noch erkennbare Gerechtigkeit glaubt.


Zu den Autoren:
Dr. theol. Julia Enxing, geb. 1983, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Dr. Stephan Jütte, geb. 1983, ist Leiter des Hochschulforums in Zürich.

[1] Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen, Frankfurt 2001, 24.

[2] Vgl. hierzu auch Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Aufsätze, Frankfurt 1973, 73.

[3] Damasio, Antonio: Descartes' Error: Emotion, Reason, and the Human Brain, Berkeley 1994.

[4] Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a.M. 2003.

[5] Unter vielen siehe: Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen – Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M. 2001.

[6] Vgl. Lüke, Ulrich; Souvignier, Georg (Hgg.): Schuld – überholte Kategorie oder menschliches Existential? Interdisziplinäre Annäherungen. Questiones Disputatae 272, Freiburg 2015.

[7] Insgesamt fällt auf, „dass das NT keine feste Terminologie für ‚Schuld’ hat und die Wörter für ‚Schuldigkeit’ sparsam vorkommen. […] [E]s fehlt jeder Versuch, zwischen S. und Schuld zu unterscheiden, um über die Schuld an sich als theologisches oder gar psychologisches Problem zu spekulieren.“ Stendahl, Krister: Art. Schuld und Sünde (Art. IV. im NT), in: Galling, Kurt (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 31962, 484–489, hier 484.

[8] Vgl. Theobald, Michael: Schuld. Biblisch-theologisch, in: Kasper, Walter et al. (Hgg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg 32000, 279–280, hier 279. Überhaupt fehlt es an einem „allgemeinen Terminus, der als Äquivalent für das Wort S. in der christlichen Theologie gelten kann.“ Vriezen, Thomas C.: Art. Schuld und Sünde (Art. II. im AT), in: Galling, Kurt (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 31962, 478–482, hier 479. – Vgl. Knierim, Rolf: Zur Gestalt alttestamentlicher Hamartiologie, in: Brandt, Sigrid; Suchocki, Marjorie; Welker, Michael (Hgg.): Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 1997, 71–144, hier 79. – Vgl. Lam, Joseph: Patterns of Sin in the Hebrew Bible. Metaphor, Culture, and the Making of a Religious Concept, Oxford University Press 2016.

[9] Vgl. Vriezen, Thomas C.: Art. Schuld und Sünde (Art. II. im AT), in: Galling, Kurt (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 31962, 478–482, hier 479.

[10] Sievernich, Michael: Art. Sünde/Soziale Sünde, (A. Individualethik), in: Eicher, Peter (Hg.): Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 2005, 203–207, hier 203.

[11] „Dies [die empirische und nicht ontologische Aussage von Sünde; J. E.] gilt auch für den Zusammenhang von Tat und Folge, sei es als Schuld-, Tat- oder Psycho-Sphäre. In keiner Form ist sie mehr als dies: Folge der bis in ihre psychischen Wurzeln zu verantwortenden menschlichen Tat. Die Grade der Schwere von Sünde sind weder durch das Verhältnis von Ursache und Wirkung noch durch jenes von Geist und Akt bestimmt, sondern durch die Intensität und Ausweitung der Verheerung unter den Menschen und auf der Erde. Diesem Maßstab sind auch die Bedeutungen der Begriffe für Sünde zugeordnet.“ Knierim, Rolf: Art. Sünde (II. Altes Testament), in: Müller, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32,Berlin/New York 2001, 365–372, hier 369.

[12] Knierim, Rolf: Art. Sünde (II. Altes Testament), in: Müller, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32, Berlin/New York 2001, 365–372, hier 367. – Vgl. Ders.: Zur Gestalt alttestamentlicher Hamartiologie, in: Brandt, Sigrid; Suchocki, Marjorie; Welker, Michael (Hgg.): Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 1997, 71–144, hier 79.

[13] Diese Figur stammt von: Dalferth, Ingolf U.: Selbstlose Leidenschaften, Christlicher Glaube und menschliche Passionen, Tübingen 2013, 67.

[14] Vgl. dazu: Röm 7,7.

[15] Siehe allg. zu Konstruktsystemen: Huber, Stefan: Zentralität und Inhalt. Ein neues multidimensionales Messmodell der Religiosität, Opladen 2003.

[16] Diese Enhancement-Strategie ist keineswegs neu und steht auch nicht im Gegensatz zum Sündenbegriff (vgl. Hes 33,11). Die Sünde wird mit der todbringenden Macht in Verbindung gesetzt, die Umkehr mit der heilenden Gegenwart Gottes. Neu ist allerdings, dass die Gesellschaft sich in der Verantwortung der Besserung des Schuldigen sieht.

[17] Das deutsche Strafrecht stützt sich teleologisch zwar auf die Vereinigungstheorie (Mischung aus Resozialisierung, negativer und positiver Generalprävention und Sühne), wobei jedoch der Sühneaspekt nicht nur im Jugendstrafrecht zunehmend unter das Vollzugsparadigma der Resozialisierung geraten ist.

[18] Dass es dazu in der Schweiz seit der Annahme der Verwahrungsinitiative (Straftäter*innen können lebenslang ohne Recht auf Prüfung ihrer Gefährlichkeit verwahrt werden) eine verfassungsmäßige Ausnahme gibt, sagt nichts über den Trend in demokratisch-liberalen Gesellschaften aus, sondern über die Gefährdung eben jener Errungenschaften in direkten Massendemokratien. Vgl. Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991.

[19] So hat sich der US-Neurologe Robert M. Sapolsky geäussert. Siehe: „Lubitz war kein Täter, sondern ein Opfer“, online unter: http://www.20min.ch/ausland/news/story/-Lubitz-war-kein-Taeter--sondern-ein-Opfer--1360000570?redirect=mobile&nocache=0.8796791585627943 (abgerufen am: 18.05.2016, 16:38 Uhr).

[20] So etwa bei Beintker, der von „Schuld als Sünde im Präteritum“ spricht. Vgl. Beintker, Michael: Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt. Theologische Erkundungen, Tübingen 1998, 41. – Vgl. Beintker, Michael: Unter der Macht der Sünde. Scham, Schuld, Trauer und die christliche Hoffnung auf ihre Überwindung, in: Link-Wieczorek, Ulrike: Verstrickt in Schuld, Gefangen von Scham? Neue Perspektiven auf Sünde, Erlösung und Versöhnung, Neukirchen-Vluyn 2015, 93–110, hier 98.

[21] Vgl. Mt 9, 1–7; Lk 19, 1–10 u.ö.

[22] Vgl. Röm 1, 18–3,20; 2 Kor 5, 18–21; Röm 5, 10f. – Vgl. Papst Franziskus: Misericordiae vultus. Verkündigungsbulle des außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit (2015), Nr. 19. Online unter: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_letters/documents/papa-francesco_bolla_20150411_misericordiae-vultus.html (abgerufen am 27.05.2016, um 08:02 Uhr).

[23] Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Schuld – Vergebung – Versöhnung mit Gott und den Menschen. Eine Handreichung zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit. (E-Paper 2016, online unter: http://www.dbk.de/heiliges-jahr/dokumente-literatur-links/schuld-vergebung-versoehnung/ (abgerufen am: 06.06.2016, 10:01 Uhr), hier S. 10.

[24] Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Katholischer Erwachsenenkatechismus, Bd. 2, 1995, 75.

[25] Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Katholischer Erwachsenenkatechismus, Bd. 2, 1995, 75.

[26] Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Katholischer Erwachsenenkatechismus, Bd. 1, 1985, 373.

[27] Vgl. Grätzel, Stephan: Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive, Mainz 2004, bes. 17–71.

[28] Besonders deutlich wird das an der Erklärung der Menschenrechte (UNO-Resolution 217 A, III, vom 10. Dezember 1948), welche noch in der Präambel „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ als konstitutiv für „Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“ bezeichnet, dann jedoch im ersten Artikel der Menschenrechte den Menschen als „frei geboren“ einführt. Während „frei geboren“ die anthropologische Bestimmtheit des Menschen meint, bezeichnet die in der Präambel genannte Freiheit konkrete Realisierungsmöglichkeiten, welche gewährt werden sollen. Vgl. Art. 13.

[29] Korsch, Dietrich: Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 105.

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