Sauerland Rezension

Marcin Zaremba, Die große Angst. Polen 1944-1947. Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016, Schöningh-Verlag, 629 S., 49.90 €, ISBN 978-3-506-78093-5



Der deutsche Leser wird wahrscheinlich überrascht sein, die unmittelbare polnische Nachkriegsgeschichte als eine Geschichte von Angstzuständen und Angstperioden präsentiert zu bekommen. Er weiß, was Polen während des Zweiten Weltkriegs durchgemacht hat, wenngleich ihm die Tatsache, dass Polen vom 17. September 1939 bis zum 22. Juni 1941 infolge des Stalin-Hitler-Pakts zweigeteilt war, weniger bewusst sein wird. Im sowjetischen Besatzungsteil wurden Hunderttausende Bürger der Zweiten Polnischen Republik nach Kasachstan und Sibirien deportiert, so dass nicht wenige aus dem Ostteil, auch Juden, ins Generalgouvernement flohen, weil sie meinten, die Deutschen würden sich humaner als die Sowjets verhalten. Sie rechneten nicht mit Zwangsarbeit, Konzentrationslagern und Ausrottung, soweit sie Juden oder Sinti und Roma waren.


Als dann 1944 die sowjetischen Truppen auf ehemals polnisches Terrain vorrückten und die deutschen Besatzer zurückdrängten, herrschte keineswegs Freude, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern größte Furcht, die der Autor Marcin Zaremba in dem Kapitel "Ein Unglück kommt selten allein. Die Angst vor den Rotarmisten" ausführlich darstellt, indem er vor allem auf die Vergewaltigungen von Polinnen durch Sowjetsoldaten und deren stets zu befürchtende nächtliche Überfälle auf polnische Quartiere und Häuser eingeht. Das darauf folgende Kapitel ist den Männern gewidmet, die als ehemalige polnische Soldaten "überflüssig" wurden, wenn sie nicht in den Polnischen Streitkräften (WP - Wojsko Polskie), welche der Roten Armee zugewiesen waren, kämpfen wollten. Taten sie es (etwa 400 000 Personen), wurde ihnen versprochen, dass sie nach ihrer Demobilisierung bevorzugt Arbeitsplätze bekommen würden oder sich in den ehemaligen deutschen, den sog. wiedergewonnenen Gebieten (in der deutschen Übersetzung ist das Adjektiv „sogenannte“ eigenartigerweise weggelassen worden; S. 158) ansiedeln könnten. Zehn Hektar Land sollten ihnen zugewiesen werden.


Die Angehörigen der Landesarmee (AK - Armia Krajowa, welche unter dem Oberbefehl der polnischen Exilregierung mit Sitz in London stand), die die sowjetischen Streitkräfte bei der Eroberung von Wilna, Lemberg und anderen Orten unterstützten und die vor allem am Warschauer Aufstand teilgenommen hatten, galten dagegen als Feinde der neuen Ordnung. Es handelte sich um etwa 400 000 Personen (S. 157). Als Feinde galten auch die Bauernbataillone (Bataliony Ch?opskie) und "Nationalen Streitkräfte" (NSZ - Narodowe Si?y Zbrojne). Zaremba findet von seinem Gesichtspunkt der Angst aus diejenigen Personen am interessantesten, die weder von der Amnestie der neuen volkspolnischen Regierung Gebrauch machten, noch im militärischen Untergrund gegen die "Roten" verblieben, sondern sich zu räuberischen Banden zusammenschlossen. Sie verbreiteten seiner Meinung nach den größten Schrecken.


Insgesamt war die Zahl der "Überflüssigen", zu denen an erster Stelle die Invaliden (etwa 650 000 Personen) gehörten, groß. Es kam hinzu, dass die offiziell Demobilisierten, d.h. die Angehörigen der Polnischen Streitkräfte (WP), bei der Bevölkerung zumeist nicht besonders gut angesehen waren. Man warf ihnen vor, in der falschen, nämlich in der sowjethörigen Armee gekämpft zu haben. Großer Hochachtung erfreuten sich dagegen diejenigen, die im Zweiten Polnischen Korps, der sog. Anders-Armee, unter britischem Oberkommando im Westen gedient hatten, von denen allerdings relativ wenige nach Polen zurückkehrten - von über 200 000 ungefähr 12 000 Personen. Eine besondere Gruppe bildeten die Deserteure, d.h. jene, die vor allem aus ideologischen Motiven nicht bereit gewesen waren, den Mobilisierungsbefehlen der volkspolnischen Machthaber zwischen September 1944 und Ende 1945 Folge zu leisten. Es handelt sich um 30 000 Männer, denen hohe Strafen drohten. Sie mussten sich dauernd auf irgendeine Weise verbergen.


Nach Zaremba war das "Polen der Jahre 1944 bis 1947 [...] ein Land von Bettlern, Landstreichern und vielerlei 'freier Elektronen', die durch den Krieg aus ihren alten Konstellationen herausgeschlagen - durchs Land zogen, auf Bahnhöfen kampierten und in Garküchen und Fürsorgeeinrichtungen um Almosen baten" (S. 171). Viele von ihnen begaben sich in die ehemaligen deutschen Gebiete. Es herrschte fast überall größte Arbeitslosigkeit. Das Spekulantentum blühte. Die neu gegründete Polizei war schwach, unerfahren, zum Teil sogar korrupt. Sie befand sich in einer schwierigen Situation, wie der Autor erklärt: eingesetzt von den sowjethörigen Machthabern sollte sie deren Politik gegen eine Bevölkerung,  die das neue Regime in der Mehrzahl nicht unterstützte, tatkräftig durchsetzen, u.a. hatte sie gegenüber den "sowjetischen Marodeuren" ein Auge zuzudrücken. Von der Bevölkerung wurden diese Polizisten als die bösen Milizionäre bezeichnet.


In einem nächsten Kapitel behandelt Zaremba das "Plünderfieber", das bereits 1939 in den Kriegswirren einsetzte und in den Monaten der Gettoisierung und Ermordung der Juden eine Fortsetzung fand. Neue Möglichkeiten eröffneten sich schließlich beim Abzug der deutschen Besatzer, um einen Höhepunkt im Sommer und Herbst 1945 zu erreichen, als die östlich von Oder und Neiße gelegenen, ehemals deutsch besiedelten Gebiete der Volksrepublik Polen zuerkannt wurden. "Tausende Menschen machten sich nach Niederschlesien und an die Ostseeküste bei Danzig auf, um die Gelegenheit zu Plünderungen zu nutzen." (S. 229). Der Autor unterscheidet verschiedene Typen von Plünderungen. Darunter befanden sich auch solche, die gemeinnützigen Zwecken dienten, wie der Einrichtung von Büros oder der Schaffung von Bibliotheken. Und wie soll man die Übernahme des Mobiliars durch die neuen polnischen Bewohner in den verlassenen deutschen Häusern benennen, fragt sich Zaremba.


Insgesamt wurden Plünderungen "zu einem Bestandteil der Luft, ein Element des Lebensstils der Nachkriegszeit" (S. 238), konstatiert der Autor. Er versucht, das Riesenausmaß der Plünderungen u.a. mit der Armut der Bevölkerung und auch mit den Gerüchten zu erklären, dass in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten ein Eldorado herrsche. Vielleicht sei der "Plündertrieb" auch "in irgendeiner Weise dem Drang nach Leben" entsprungen, spekuliert er am Ende.


Den größten Schrecken verbreitete das "Banditentum". Damit sind die vielen bewaffneten Überfälle während des Krieges, beim Einmarsch der Sowjeteinheiten und in den ersten Nachkriegsjahren gemeint. Die Täter seien schwer unterscheidbar gewesen: einerseits waren es Partisanen, die sowohl die deutschen Besatzer wie auch die Sowjets und die neuen Machthaber Polens bekämpften, andererseits handelte es sich um einfache Räuberbanden. Vom Gesichtspunkt des gemeinen Mannes, der unbeteiligten Familien aus, musste es, wie der Verfasser zu meinen scheint, relativ egal gewesen sein, aus welchen Motiven Gewalt angewandt wurde. Man lebte einfach in der ständigen Furcht, nicht nur seinen Besitz, sondern auch sein Leben zu verlieren. Ein langes Unterkapitel widmet Zaremba den "verkommenen Soldaten"[1], womit die von den antikommunistischen Partisaneneinheiten abgefallenen Männer gemeint sind, die sich zu Banditeneinheiten zusammengetan hatten.


Der Ende 1944 einsetzende Terror des gerade errichteten Sicherheitsdienstes, der polnischen Stasi, in den von der deutschen Wehrmacht befreiten Gebieten sei auf Geheiß von Stalin äußerst schnell in Gang gesetzt worden, wobei auch der NKWD eingeschaltet wurde. Als Beispiel gibt der Verfasser u.a. an, daß in "nur fünf Tagen, vom 20. bis zum 25. Oktober [...] in den Gebieten Lublin und Bia?ystok aktive operative sowjetische Gruppen 1051 Personen" festnahmen. "Für die lawinenartig ansteigende Zahl von Verhafteten entstanden ad hoc Internierungslager" (S. 289). Unter den Verhafteten befanden sich Majore, Oberste und ein General, doch betrafen die Repressionen "die Gesellschaft insgesamt", sie beschränkten "sich nicht nur auf im Untergrund aktive Personen" (S. 290). Tatsächlich gelang es den neuen Machthabern mit Unterstützung der Sowjets, den Widerstand zu brechen und viele Menschen verzweifeln zu lassen. Nach Zaremba förderten solche Zustände den Glauben an Wunder, sie intensivierten auch den Hang zum Religiösen, obwohl die Kirche zunehmend verfolgt wurde, sowie das Aufkommen alter mythischer Vorstellungen, die Aggressionen gegen Juden, Ukrainer und Deutsche weckten. Bei dem Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946 spielte bekanntlich der Mythos vom Ritualmord eine wesentliche Rolle.[2] Die Folge dieses Pogroms war, dass etwa hunderttausend Juden Polen verließen.


Im letzten Absatz seines Schlussworts, das den Titel "Nach der Angst" trägt, schreibt Zaremba: "Praktisch bis zum Ende des Kommunismus hielt sich auch die Angst vor den Juden und den Deutschen, die den Polen das übernommene Hab und Gut wieder abnehmen würden. Die Furcht vor einer Veränderung der Grenzen und das damit einhergehende Gefühl der Vorläufigkeit ist einer der wichtigsten, die Nachkriegswirklichkeit bestimmenden Faktoren. In Niederschlesien ist mir eine Anekdote zu Ohren gekommen, wonach ein Einwohner erst 1991, nach Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrags, einen Pinsel zur Hand nahm und seinen Zaun gestrichen hat. Mit anderen Worten: Die Große Angst endete nicht 1947, sondern schrieb sich in das Gedächtnis des Volkes ein, stärkte die polnische Religiosität, schlug Wurzeln in Gewohnheiten und Bräuchen wie auch im Alltag der Polnischen Volksrepublik." (S. 501)


Der Autor geht, wie man dieser Schlussbemerkung entnehmen kann, von den tiefen Auswirkungen kollektiver Erlebnisse und Emotionen auf die späteren Generationen aus. Tatsächlich können in Polen ähnlich wie in anderen Ländern, Deutschland nicht ausgeschlossen, Traumata immer wieder aufkommen oder auch geweckt werden, aber gleichzeitig ist es im Falle von Polen ein Wunder, wie sich in der Solidarno??-Revolution 1980/81 gezeigt hat, dass es möglich ist, sogar in einem quasi totalitären System auf friedliche Weise eine allgegenwärtige Angst zu überwinden. In dieser sechzehn Monate währenden Protestzeit ist niemand körperlich zu Schaden gekommen, keine Fensterscheibe wurde eingeschlagen. Auch nach der Einführung des Kriegsrechts durch Jaruzelski blieb es beim friedlichen Protest. Ohne dieses von Polen statuierte Exempel hätte die Wende von 1989/91 im "Ostblock" anders ausgesehen.


Die Überwindung der "großen Angst" war den verschiedensten Kräften zu verdanken. Immerhin gelang es Stanis?aw Miko?ajczyk, dem ehemaligen Ministerpräsidenten der Londoner Exilregierung, die Polnische Bauernpartei nicht nur wiederzubeleben, sondern auch in die stärkste Partei zu verwandeln. Die Kommunisten konnten im Januar 1947 die Parlamentswahlen nur dank größter Fälschungen "gewinnen". Zaremba geht hierauf nur nebenbei ein. Der Terror gegen die Polnische Bauernpartei führte am Ende dazu, dass Miko?ajczyk das Land im April 1947 verließ und sich der Schrecken im Lande vergrößerte. Aber für wie lange?


Von besonderer Bedeutung für die polnische Nachkriegsgeschichte war schließlich die katholische Kirche. Ihre Existenz gab großen Teilen der Gläubigen die Möglichkeit, in deren Räumen zusammenzukommen, sich von Angesicht zu Angesicht zu sehen und das Gefühl zu entwickeln, eine nicht vom Staat gegängelte Gemeinschaft zu bilden. Es ging ihnen auch um den Erhalt eines Gemeindelebens, wie man es in der Vorkriegszeit gepflegt hatte.[3] Hinzu kommt, dass man durch den Glauben die alten Formen der Feier von Geburt, Erwachsenwerden, Heirat und Verabschiedung der Verstorbenen aufrechterhalten konnte. In der Volksrepublik Polen gab es keine Jugendweihe, wie sie in der DDR kultiviert wurde. Für den aufgeklärten Bürger mochte das Beharren auf Althergebrachtem als ein Horror erscheinen, aber wenn eine neue Ordnung mit Gewalt und Terror eingeführt werden soll, bleibt dies der einzige Ausweg, der durch das umsichtige Vorgehen von Kardinal Stefan Wyszy?ski gestärkt wurde. Er war am 25. September 1953 verhaftet worden, d.h. nach dem Tod Stalins am 8. März und dem Machtantritt Chruschtschows am 7. September 1953. Wyszy?ski wurde erst infolge der quasi revolutionären Ereignisse von 1956 am 25. Oktober freigelassen. Er wurde sofort äußerst aktiv, u.a. nahm er die Milleniumsfeiern zum Anlass, die Gläubigen zu mobilisieren. Er sah eine neunjährige Vorbereitungszeit (Die große Novene des Milleniums nannte er es) mit vielen Prozessionen in den einzelnen Diözesen vor, die mit einer Wallfahrt und einer großen Feier am 3. Mai 1966 in Gniezno (Gnesen), dem ersten polnischen Königssitz, abgeschlossen werden sollte. Doch dann fand der Höhepunkt der Feierlichkeiten in Cz?stochowa statt. Alljährlich versammelten sie sich zu Hunderttausenden in einer jeweils anderen Stadt. Am Ende konnte man von einer Rechristianisierung Polens sprechen. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete schließlich die Wahl von Karol Wojtyla zum polnischen Papst.


Es ist schade, dass Zaremba diese Seite der polnischen Geschichte so wenig berücksichtigt hat. So bleibt es den Lesern und Leserinnen unverständlich, dass ein solches Chaos, wie es uns in dem Buch auf über 600 Seiten vorgeführt wird, überwindbar war und nicht bedeutend tiefere Spuren hinterlassen hat.


Zum Rezensenten:

Prof. Dr. Karol Sauerland, geb. 1936, ist emeritierter Professor für Germanistik an der Universität Warschau und war Mitglied in der Solidarność.

[1] "Upadly" hat in diesem Falle eine doppelte Bedeutung, es kann verkommen heißen, aber auch abgefallen.

[2] Hierauf geht Zaremba in dem Kapitel "Insecuritas humana" ein.

[3] Gleich nach der Befreiung der polnischen Gebiete von den deutschen Besatzern wollten die Einwohner zu der alten Vorkriegsordnung zurückkehren, die ehemaligen Dorfschulzen, Beamten und Richter, soweit sie überlebt hatten, wieder einsetzen und die ehemalige Rechtsordnung in Kraft treten lassen, zumal die Deutschen die lokale Selbstverwaltung im Wesen so belassen hatten (mit Ausnahme der jüdischen), wie sie in der Zwischenkriegszeit arbeitete. Die neuen Machthaber bekämpften dagegen alles, was an die Vorkriegsordnung erinnerte.

Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz