theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Daniel Bogner

Welche Autorität? Die Krise der Kirche als Chance der Institution

 
Dass sich die beiden großen Kirchen in Deutschland in Zeiten des Umbruchs befinden, gehört seit langem zum Standardrepertoire der Soziologen und Analytiker der Gegenwart. Längst ist auch vielen kirchlichen Verantwortungsträgern klar, dass der soziale Ort der Kirchen in der Gesellschaft einem fundamentalen Bedeutungswandel unterliegt. Diese Entwicklung ist zunächst einmal ein Faktum, noch bevor die Frage gestellt wird, wie man einem solchen Wandel am klügsten begegnet. Während einerseits in manchen Untergliederungen der Kirchen mit einer drastischen und schnell ins Horn gestoßenen Einsparpolitik auf die sinkenden Kirchensteuereinnahmen reagiert wird, verblüfft andererseits das Beharrungsvermögen der Institution, deren lange Geschichte unter den Bedingungen der finanziellen, aber auch inneren Krise zu einem Gewicht wird, das zügige thematische Schwerpunktverlagerungen zu verhindern scheint. Der christliche Glaube wird auf lange Zeit sicher nicht vollständig aus der deutschen Gesellschaft verschwinden – wohl aber steht um die aktuelle institutionelle Gestalt der Kirchen zu fürchten. Einiges bietet zu Zweifel Anlass, ob sie in der Lage sind, aus den ökonomisch erzwungenen Downsizing-Prozessen in zwar kleinerer, aber geläuterter Form und mit neuem Elan hervorzugehen [1].

Dass in jeder Krise eine Chance liegt, ist ebenfalls ein Allgemeinplatz. Schwieriger ist es, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen die Chance genutzt werden kann. Für die Großkirchen kann die gegenwärtige Krise der Anlass sein, ihren Begriff vom Institutionellen zu überdenken. Dafür bedarf es aber bestimmter Kriterien, die in den Neuordnungsprozessen als Kompass wirken und mit denen man sich davor schützt, Missverständnissen oder gar Illusionen über die eigene institutionelle Rolle aufzusitzen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Diskussion um recht verstandene kirchliche Institutionalität um einen Aspekt zu erweitern: Zentral sein soll der Begriff der Autorität in der Kirche. Die Erörterung bewegt sich zwangsläufig auf dem Grat zwischen theologischer und sozialwissenschaftlicher Argumentation – weil die Kirche einerseits ihr Selbstverständnis auch als Institution nicht anders denn theologisch begründen kann, und weil andererseits für Institutionen die soziale Wirklichkeit das Feld ist, auf dem sie ihre Wirksamkeit entfalten.


Strategien der Krisenreaktion

Bei einem vielschichtigen und intern so pluralen Organismus wie der katholischen Kirche ist es vielleicht vermessen, von „Strategien“ zu sprechen, mit denen auf die zunächst finanziell sich bemerkbar machende Krise reagiert wird. Zu sehr klingt darin die Illusion eines geordneten, steuerbaren und konzertierten Vorgehens an. Hilfreich ist es aber, in den zahlreichen Versuchen, sich innerkirchlich „neu aufzustellen“, nach wiederkehrenden Mustern zu suchen. Der Befund kann helfen zu erkennen, nach welcher theologischen Prämisse und mit welchen pastoralen Absichten die Reaktion – ob wissentlich oder nicht – verläuft. Gegenwärtig lassen sich offensichtlich drei verschiedene Typen des Umgangs mit der Krise feststellen, die alle ein bestimmtes Verständnis von der Institutionalität der Kirche zugrunde legen.

Das lokalkirchliche Selbstverständnis
Zunächst begegnet man vielerorts der Überzeugung, dass sich die Probleme der Kirche nicht auf den höheren Ebenen der Kirchenleitung oder der theoretischen Theologie lösen lassen, sondern im Kern an der Basis angegangen werden müssen. Die unterschiedlichen Facetten einer Krise werden dabei vermengt, wirtschaftlich-finanzielle Nöte letztlich als direkte Folge theologisch-pastoraler Fehler angesehen. Echte Veränderung komme dann „von unten“, dort sei der Ort, wo die Wirklichkeit auch am deutlichsten gesehen werde. Problemlösungen müssten deshalb vor allen Dingen pragmatisch sein und sich in der Alltagspraxis bewähren. So dürfe man nicht immer verlangen, dass die gefundenen Antworten auf die Herausforderungen an höherer Stelle auch direkt auf Akzeptanz oder gar Wohlwollen stoßen.
Eine solche Grundüberzeugung ist verbreiteter als mancher Ordinariatsverantwortliche wahrhaben mag: Impliziter Weise lassen sich wohl viele Gruppen auf Pfarreiebene von einer solchen Optik leiten, auch wenn daraus keine weiteren kirchenpolitischen Schlüsse gezogen oder die institutionell vorgegebenen Strukturen gar verlassen würden. Gleiches gilt nicht für viele der sich explizit so verstehenden „Basisgruppen“: Sie haben aus der Diagnose, dass die entscheidenden Veränderungen von unten kommen müssen und man eben nicht auf die Einsicht der Oberen warten kann, auch institutionelle Schlüsse gezogen – durch bewussten Auszug aus den kirchenamtlichen Strukturen, die Neugründung quasi-gemeindlicher Strukturen neben der verfassten Kirche oder die lediglich informelle Anlehnung an eine pfarreiliche Struktur, um deren Infrastruktur noch zu nutzen oder das eigene Restbedürfnis nach institutionellem Schutz zu befriedigen.
Gemeinsam teilen alle diese Initiativen und Gruppen einen deutlichen Affekt gegen das Institutionelle. Sie werfen der kirchlichen Institution mangelnde Flexibilität und zu starkes Beharrungsvermögen vor und bedauern deren notorisches Zu-Spät-Kommen im Aufgreifen aktueller Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft. Sich selbst begreifen manche solcher Gruppen, zumindest dort, wo sie sich explizit gegen die traditionellen Strukturen formiert haben, gerne als Bewegung („KirchenVolksBewegung“, „Initiative Kirche von unten“, „Christliche Friedensbewegung Pax Christi“, „Freckenhorster Kreis“ etc.), ungeachtet des zweifelhaften Beiklangs, der diesem Terminus gerade in Deutschland anhaftet. Von theologischer oder auch sozialer Relevanz ist die institutionelle und amtliche Gestalt der Kirche in den Augen dieser lokalkirchlich Engagierten nicht mehr, und wenn doch, dann allenfalls in der Rolle einer negativen Hypothek: als das, woran man sich abarbeiten muss, was einem immer wieder Hindernisse in den Weg legt.

Der Weg amtlicher Steuerung
Das Gegenstück zur basiskirchlichen Herangehensweise „von unten“ ist die amtskirchliche Perspektive „von oben“. Kriterium hierfür ist die Überzeugung, dass die Kirche ein auf direktem Wege steuerbarer Organismus sei. Entscheidend ist die Absicht der direkten Steuerung: Könnte man die Sozialgestalt der Kirche auch als ein multipolares, von vielfältigen Gegensätzen geprägtes und damit nur indirekt zu beeinflussendes Gebilde begreifen, geht der hier beschriebene Ansatz davon aus, dass die katholische Kirche mit ihrer vor allem im Kirchenrecht niedergelegten Organisationsstruktur einen übersichtlichen Sozialkörper darstellt. Die amtliche Struktur wirkt darin als das steuernde Zentrum – mit einer Spitze, verschiedenen regionalen und lokalen Substrukturen. Den Trägern dieser Strukturen kommt es zu, für den geregelten Ablauf der kirchlichen Hauptfunktionen zu sorgen, die Effizienz der Abläufe zu erhöhen und gegebenenfalls die Nichteinhaltung der aufgestellten Regeln zu sanktionieren.
Eine solcher Art beschriebene Herangehensweise lässt sich nicht zwangsläufig mit dem Klerus identifizieren. Sie findet sich gegenwärtig an vielen Stellen auf der Ebene der Kirchenleitung – in kirchlichen Einrichtungen auf Bundesebene, in den diözesanen Ordinariaten, aber auch in manchen Verbänden. Der Krise begegnet man mit den klassischen Instrumenten effizienter Unternehmenssteuerung. Dazu gehören Personalführung und –rekrutierung, Straffung der Strukturen, das Durchforsten von Haushalten und die Formulierung von Leitbildern, „Mission statements“ und Zielvorgaben. Die an vielen Orten zum Einsatz kommenden Unternehmensberatungen, aber auch die angesichts der sich verschlimmernden Zahlen je neu formulierten Pastoralpläne zeugen von der Absicht, die Kirche mittels organisationssoziologischer Methoden wieder auf einen Erfolgsweg zu führen.
Solche Versuche sind durch ein vehementes Festhalten am formellen Funktionieren der Institution geprägt. Krisen lassen sich meistern, so die Überzeugung, wenn sich nur die Institution reibungsfreier und effizienter gestalten ließe. Dies betrifft dann eigentümlicher Weise auch den traditionalen Habitus im kirchlich-organisatorischen Selbstverständnis, den man im Zuge des Lenkens und Leitens häufig mit zurückdrängt. Eine Spannung zwischen Theologie und Management wird sichtbar: Sich derart stark auf die amtlichen Strukturen der Steuerung zu stützen bedeutet eine ekklesiologische Option für ein eher konservativ geprägtes Kirchenbild. Die starke Anlehnung an die Instrumente der modernen Unternehmenskultur bewirkt allerdings manchmal ein leichtfertiges Hinweggehen über die unverbrüchlich geglaubten Grundfesten kirchlicher und theologischer Traditionen – wenn es denn der Effizienz dient [2]. Weil aber die Methoden des Managements nur selektiv und halbherzig angewendet werden, ist das Ergebnis eine seltsam anmutende Melange aus Partizipation und Instruktion, Duldsamkeit und Herrschaft, Hasenfüßigkeit und Leadership. Leidtragend unter solchen Vermengungen ist ein in der Breite für legitim erachtetes und organisch gelebtes Modell von Kirche, das von einer gelungenen Verbindung zwischen Geist und Struktur zeugen würde.

Die Forderung nach charismatischem Aufbruch
Eine dritte Richtung im Umgang mit den Krisenphänomenen zeigt sich in den vielfachen Versuchen, die für einen neuen Aufbruch notwendigen charismatischen Impulse zu fordern, diese aber „von oben“, das heißt kirchenamtlich setzen zu wollen. Leitend ist dabei die Einsicht von Verantwortungsträgern in den amtlichen Strukturen, dass allein über die strukturbestimmte und organisatorische Steuerung die Kirche nicht zum Leben erweckt werden kann. Vielfach kommen solche Rufe von den obersten Amtsträgern, den Bischöfen, welche in ihren eigenen Bistümern die großen Spannungen zwischen notwendiger Verwaltungsarbeit sowie gewünschtem, aber nicht planbarem geistlichem Leben wahrnehmen. Da das geistliche Amt in seiner aktuellen Ausprägung die Letztverantwortung sowohl im Verwaltungshandeln der Kirche als auch in ihrer Seelsorge innehat, entsteht ein Paradox: Die obersten Verwaltungsbeamten fordern eine Relativierung der Strukturen, beklagen die „Überorganisation“ der Kirche und mahnen zu geistlichen Aufbrüchen. Anstatt zu versuchen, eine fruchtbare Spannung zwischen Geist und Struktur zu halten, findet eine Auf- bzw. Abwertung der jeweiligen Pole statt. Es entsteht der Eindruck eines „verordneten Aufbruchs“.
In dieser Tendenz liegen die kirchlichen Großereignisse der vergangenen Jahre: Kirchentage finden weiterhin fast regelmäßig im Zweijahresrhythmus statt und unterliegen dabei einem fulminanten Bedeutungswandel. Da das kirchliche Milieu, auf das sie sich stützen, nicht mehr wie vor Jahrzehnten vorhanden ist, ziehen sie Besucher an, deren Kirchenzugehörigkeit sich wesentlich durch die Teilnahme an solchen Großereignissen ausdrückt. Nachhaltige Wirkung in der Fläche, also in Pfarreien und lokalen Gruppen, hat das Ereignis dann oftmals gar nicht mehr. Ähnliches gilt für ein Großereignis wie den Weltjugendtag, von dem sich viele Vertreter des kirchlichen Amtes neuen Wind, eine Belebung der Strukturen und neuen Zulauf zur Institution erwarten. Solche Wellen bleiben aber aus, weil die Rezeptionsschemata der Jugendtagsteilnehmer nach anderen Gesetzen funktionieren und sich deshalb nicht für die Lösung bestimmter Probleme funktionalisieren lassen, die sie selbst nicht verursacht haben.
Ein besonders deutliches Beispiel für die hier beschriebene Tendenz einer „Belebung von oben“ ist das Bemühen, den in den kirchlichen und kulturellen Kontexten Asiens und Afrikas beheimateten Ansatz der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ auch in Deutschland umzusetzen. Er stößt sich an den gegenüber seinen Entstehungskontexten anders gelagerten Sozialstrukturen in Deutschland, wo das Prinzip der Wohnnachbarschaften als Vergemeinschaftungsmodell nicht tragfähig ist, sowie an einem anderen Platz der Kirche innerhalb der Gesellschaft [3]. Dass Kirchenleitungen der Versuch, solche Ansätze zu implementieren, sympathisch erscheint, ist einleuchtend: Sie erhoffen sich davon eine Reanimierung der überkommenen Territorialgemeinde, die sich weitgehend selbst organisiert und sich bewusst in die vorhandenen Kirchenstrukturen einfügt. Eine wirkliche Anfrage an überkommene Modelle der Pastoral stellt der Ansatz der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ nicht dar [4].
Der Weg eines kirchenamtlich initiierten charismatischen Aufbruchs erscheint als eine Strategie mit zweifelhaften Erfolgsaussichten. Denn es ist ein Paradox, die beiden Pole des Organismus „Kirche“ auf die geschilderte Art und Weise miteinander kurz zu schließen. Organisation und Geist, prophetischer Impuls und priesterliche Linie machen nur in Doppelstruktur die Institution aus. Erst in ihrer Distanz zueinander bedingen und ergänzen sie sich. So wie die zahlreichen kirchlichen Bewegungen, auch wenn sie es manchmal nicht wahrhaben wollen, auf den Referenzrahmen der Institution verwiesen sind, um in ihrer Zeichenhaftigkeit verstanden zu werden, gilt auch umgekehrt: Amt und Institution bedürfen des Charismas, des lebendigen Geistes der Jugend, der ungefragten, lebendigen Stimmen „von unten“. Diese Stimmen im Ganzen sind es, welche die Vielfalt des Kirchenkörpers ausmachen, den die Institution in eine Form zu fassen versucht [5]. Jeder Versuch allerdings, solche Stimmen durch Akte des amtlichen Willens und im Stile des regulären institutionellen Selbstvollzuges zu erzeugen, muss als künstlich und gewollt erscheinen. Er verfehlt seine Wirkung. Der Geist ist wirksam gerade dadurch, dass ihn niemand gefragt hat, ob und wo er wirkt.


Wahre und falsche Autorität

Im Vordergrund soll nun nicht die Frage stehen, welche Erfolgsaussichten jeder einzelne der drei skizzierten Wege der Krisenreaktion beanspruchen kann. Ausgangspunkt war die Frage, welche Rolle der Institutionalität der Kirche zukommt. Die drei oben beschriebenen Profile offenbaren dabei ein jeweils unterschiedliches Verständnis. In herausgehobener Weise sichtbar wird dies am Begriff der Autorität in der Kirche.
Dieser ist deshalb so eng mit dem der Institution verbunden, weil sich darin die theologische und die soziologische Perspektive treffen: Zwar ist die Kirche ein Sozialkörper, der auch nach den Regeln des sozialen Funktionierens einer Institution beschrieben werden kann, aber sie ist mehr als das. Es zeichnet sie gegenüber herkömmlichen Institutionen wie Behörden oder Verbänden aus, dass sie ihre Wesens- und Zielbestimmung nicht aus sich selbst schöpft, sondern aus einer transzendenten Vorgabe heraus existiert. Nicht ein gemeinsames Interesse ihrer Mitglieder ergibt ihre Daseinsberechtigung, sondern umgekehrt: Ihre Mitglieder versammeln sich, weil es eine Vorgabe gibt, die zusammenruft. Man könnte sagen: Das „erste Wort“ eines göttlichen Sprechers ist die Autorität, die den Sozialkörper Kirche legitimiert. Deren Institutionalität hat im Kern keinen anderen Sinn als den, die Zusammenkunft der diesem „ersten Wort“ Zuhörenden und Folgenden immer wieder auf es hin auszurichten und auf diesen Kernvollzug und dessen Konsequenzen hin zu organisieren. Nur daraus kann die Kirche ihre Autorität beziehen und darauf hin ihrerseits Autorität ausüben. Wenn es also um die Zukunft der Institution Kirche geht, ist ein Bild von dem in ihr herrschenden Modell von Autorität hilfreich. Das kann Rückschlüsse darauf erlauben, wann ein der kirchlichen Institution adäquater Typus von „legitimer Herrschaft“ (Max Weber) vorliegt und somit die Voraussetzung gegeben ist, auch als Institution neue Akzeptanz gewinnen zu können.


Ignorierte, vermengte, verschleierte Autorität – eine Einordnung nach Max Weber
Betrachtet man nun die beschriebenen Wege der Krisenreaktion, treten sehr unterschiedliche Auffassungen von der Autorität zu Tage, die zum Teil in Konkurrenz zueinander stehen, zum Teil sich gegenseitig ausschließen. Hilfreich ist bei einer solchen Betrachtung eine methodische Anleihe bei M. Weber, der in seiner Theorie zur Beschreibung legitimer Herrschaft drei Typen von Autorität unterscheidet: Während rationale Autorität auf den Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen baut, traditionale Autorität ihre Kraft aus dem Alltagsglauben an die Gültigkeit („Heiligkeit“) von jeher geltender Traditionen bezieht, schöpft charismatische Autorität aus der außeralltäglichen Hingabe an die Wirkmächtigkeit einer Person oder der durch sie geschaffenen Ordnungen [6].
Auf der Folie dieser Unterscheidungen wird sichtbar, dass der lokalkirchliche Lösungsversuch insbesondere auf einer negativen Positionierung zur Autorität und insbesondere aus einer deutlichen Abgrenzung zur Dominanz der rationalen und traditionalen Autorität beruht. Bei vielen Gruppen mit lokalem Aktionsradius in der Kirche herrscht die Überzeugung, dass überkommene Traditionen dringend à jour gebracht werden müssten und dass in vielen pastoralen und auch dogmatischen Fragen allein mit den doktrinären und kirchenrechtlichen Satzungen kein Boden wieder gut zu machen ist. Dass es ein originäres und notwendiges Verständnis von Autorität in der Kirche gibt, wird auf praktischem Wege weitgehend geleugnet, allenfalls könnte man von einer Autorität der unmittelbaren Erfahrungen (z.B. das intensive Kleingruppenerlebnis) sprechen.
Die amtskirchliche und auf Steuerung bedachte Herangehensweise nimmt dagegen ganz bei dem von Weber als „rationale Autorität“ bezeichneten Modell Zuflucht. Dominante Komponente im Verständnis von kirchlicher Autoritätsausübung in diesem Paradigma ist es, die formalen Strukturen des kirchlichen Apparates ordnungsgemäß funktionieren zu lassen. Die Ausübung von Autorität findet wesentlich über das Steuern und Kontrollieren derjenigen Abläufe und Vollzüge statt, die im Kirchenrecht, in Beschlusstexten kirchlicher Gremien und in den Satzungen kirchlicher Organisationen und Behörden vorgegeben sind. Traditionale Autorität spielt zunächst eine Rolle, da die kirchlichen Strukturen landläufig eben sehr klerus-orientiert aufgebaut sind, wird aber auch wieder umgangen, wo modernes Management und Effizienzorientierung die Leitsterne des Handelns werden.
Alle Versuche, die auf das durch eine kirchliche Eventkultur u.a. geweckte Charisma im Volk der Gläubigen setzen, stehen vor der Hand zunächst im Gegensatz zur rationalen und traditionalen Autorität. Der ambivalente Charakter solcher Autorität wird aber schnell deutlich, wenn man die stimulierende Rolle des kirchlichen Amtes in den Blick nimmt: Die geistliche Belebung des Kirchenvolkes erhoffen sich die amtlichen Repräsentanten gerade von anderswo her, von etwas, für das sie selbst nur indirekt Sorge tragen können, dessen sie aber zur weiteren Legitimation der durch sie vertretenen Institution bedürfen. Unterm Strich kann man von einer geliehenen Autorität sprechen, die beansprucht wird. Paradox wird es, weil das Amt den neuen Aufbrüchen zwar großen Stellenwert einräumt und sich scheinbar in die Rolle des Lernenden und Hörenden begibt, aber letztlich doch am uneingeschränkten eigenen Macht- und Entscheidungsmonopol festhält. Die Autorität des Charismas wird damit untergraben, dessen Impulse oftmals allzu schnell auf die Mühlen der institutionellen Organisationsinteressen gelenkt.
Der Versuch, die unterschiedlichen Typen von Autorität in der Kirche mit Hilfe der von Weber skizzierten Formen legitimer Herrschaft zuzuordnen zeigt, dass die unterschiedlichen Tendenzen der Krisenreaktion sich jeweils verstärkt auf einen einzelnen Typus festlegen. Gleichwohl ergibt sich ein komplexes Bild: Die Autoritätsformen spielen ineinander und überlappen sich – jede einseitige Bevorzugung eines der Modelle scheint zu kurz zu greifen. Gerade die katholischen Traditionen haben diese Mischgestalt der Autorität auch immer wieder explizit zum Ausdruck gebracht: „Schrift und Tradition“, „Amt und Prophetie“, pastorale Sorge und initiativer Aufbruch bilden die Gegensatzpaare, aus denen das Selbstverständnis der Kirche sich speist. Sie lebt von der Notwendigkeit, sich aufgrund der Parusieverzögerung in der Zeit einzurichten, aber gleichwohl jederzeit das Außer-Alltägliche der Gottesverkündigung im Alltäglichen zu repräsentieren. Diese complexio oppositorum gibt ihr einen im Vergleich zu anderen Institutionen besonderen Charakter. Liegt es nicht nahe, dass dieser besondere Charakter auch eine eigene, heute wieder neu zu findende Form von Autorität erforderlich macht?

So tun als ob
Was bislang nur angedeutet wurde, bedarf nun weiterer Erläuterung – in Gestalt einer genuin theologischen Perspektive. Zugleich soll diese Perspektive nicht im Stile eines Überbaus neben der Bestandsaufnahme stehen, sondern muss bei den beschriebenen Modellen selbst ansetzen und ausgehend davon weiterfragen: Wie wären die jeweiligen Wege theologisch zu bewerten, welche theologische Orientierung kommt gegebenenfalls zu kurz und könnte wiederum einen Weg weisen im verzwickten Vielerlei der diversen Formen von Autorität in der Kirche? Bernd Jochen Hilberath fordert zu Recht eine Differenzierung und Anpassung des Weberschen Schemas an die Eigenart römisch-katholischer Institutionalität. Er schlägt vor, dabei vor allem die „Kollusion“ (das Zusammenspiel) zwischen Autoritätsinhabern und „Untergebenen“ zu beachten [7]. Dies soll der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen sein. Neben einem von Hilberath geltend gemachten theologisch-dogmatischen Apriori wird allerdings auch ein anderer Begründungsstrang entwickelt. Dieser nimmt seinen Beginn in einer geschichtshermeneutischen Prämisse, behauptet aber gerade deswegen auch eine theologische Relevanz, die bei der Klärung der Frage nach der angemessenen Autorität in der Kirche helfen soll.
Signatur eines theologisch angemessenen Begriffes von Autorität könnte ein Quid-pro-quo sein: Die Kirche steht – als soziologische Größe der Gegenwart – in jeder geschichtlichen Situation je neu vor der Aufgabe, sich als ein Ort zu erweisen, an dem die ursprüngliche Offenbarung fühlbar wird. Das verlangt nach einer zurückhaltenden Rolle – die Kirche darf nicht der Gefahr erliegen, „so zu tun als ob“ sie selbst in ihrer aktuellen Gestalt schon ganz und gar diese Offenbarung wäre. Deren letztgültige Form gibt es nicht, wohl aber die jeder Zeit und historischen Lage angemessenen Stationen einer Offenbarungskette. Man könnte von einer gebrochenen, notwendiger Weise partiellen Repräsentation des von ihr beanspruchten „ersten Wortes“, das Autorität verschafft, sprechen. Autorität und Institution stehen demnach in engem Zusammenhang und bedingen einander. Ohne institutionellen Körper könnte dieses erste Wort nicht dargestellt und vernehmbar gemacht werden, es bedarf gleichermaßen eines Verstärkers in Zeit und Wirklichkeit [8].
Die Autorität der Kirche ist aber gerade dadurch eine geborgte, vorläufige, in jedem Fall vorübergehende. Alle Versuche der kirchlichen Institution, auf andere als die hier skizzierte Weise so zu tun als ob – als ob sie selbst nämlich die letztgültige Gestalt des von ihr beanspruchten göttlichen Wortes wäre, sind nicht nur theologisch irrig, sondern führen auch zur Fehlinterpretation ihrer sozialen Rolle. Die Kirche steht dann in der Gefahr, zu tun als ob mit ihr noch Staat zu machen sei: Sie erliegt leicht dem Risiko, ihre soziale Rolle als Akteur in Staat und Gesellschaft zu überschätzen. Gerade das für die Kirchen so komfortable deutsche Staatskirchenrecht verlockt dazu, die soziale Rolle der Kirche von ihrer theologischen Gestalt zu entkoppeln. Politischer Einfluss, gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten und staatliches Gehör für den Großakteur Kirche sind zwar einerseits das Feld, auf dem sich erweist, wie ernst man es mit der Frohen Botschaft meint. Sie führen aber auch dazu zu vergessen, wie vorläufig, etappenhaft und immer nur pratikular jeder Anspruch ist, einen institutionellen Körper der Kirche zu bilden.

Autorität autorisiert
Um also nicht der Versuchung nachzugeben, sich auf einen der drei mit Max Weber skizzierten Begriffe von Autorität festzulegen und damit den spezifischen Charakter von Autorität in der Kirche zu verformen, bedarf es eines Neuansatzes. Michel de Certeau bezeichnet es als das Charakteristikum von Autorität im Feld des Glaubens, dass diese autorisiert:  Autorität kann beansprucht werden, wenn durch sie eine Äußerung ermöglicht wird, die es ohne sie nicht gegeben hätte, welche aber in direkter Weise auf den Grund der Autorität zurückverweist [9]. Wie ein Gedicht oder ein Film, der die Wahrnehmungsmuster verändert, erweist sich wahre Autorität nach Certeau in ihrer auslösenden Wirkung. Sie erlaubt anderes, als sie selbst darzustellen vermag, was aber ohne den Impuls, der von ihr ausgeht, nicht zustande gekommen wäre. Eine „Glaubensregel“ nennt Certeau es, dass jede Autorität im Bereich des Glaubens stets auf etwas anderes verwiesen ist. Davon zeugt sie, ist aber gleichwohl nicht auf ihren eigenen Ausdruck dieses anderen beschränkt, sondern ruft selbst wiederum neue, weitere Zeugnisgestalten hervor. Autorität lässt sich doppelt charakterisieren: Sie ist eine Bedingung für Wahrheit, weil durch sie ein Glaubensausdruck ermöglicht wird, der in seinem Rückverweis auf den Ursprung notwendig ist, um die Kette der Vergegenwärtigungen eines ersten Wortes fortdauern zu lassen. Darüber hinaus schafft solche Autorität Raum für anderes – für neue Ausdrucksformen jenseits ihrer selbst, für die Folgen und eine Wirkgeschichte der Autorität.
Unter Autorität kann man in diesem Sinne mehreres verstehen: das Verhalten von Personen, die Eindringlichkeit von Texten oder die prägende Kraft von Traditionen. Das skizzierte Verständnis von Autorität in der Kirche ist deshalb dreifach anwendbar: Es kann zum Signum einer bestimmten Amtspraxis werden, es kann die Schriftverkündigung bezeichnen, aber ebenso ist damit an die Aufgabe erinnert, die Traditionsgeschichte der Kirche nicht zu einem statischen Apparat verkommen zu lassen, sondern sie als lebendige Quelle je neu zu formulierender Antworten für die Gegenwart zu nutzen. Damit sind die drei klassischen Typen von Autorität in der Kirche aufgerufen: Schrift, Lehramt und Tradition. Sie bilden ein notwendiges Zusammenspiel und darin ein Profil von Autorität aus, welches charismatische, steuernd-leitende sowie gemeinschaftliche Elemente enthält. Wie die Untersuchung der unterschiedlichen Antworten auf die krisenhafte Lage der Kirche gezeigt hat, wäre gerade im Augenblick der Krise eine Fixierung auf einen dieser Aspekte verfehlt.
Das Profil der Autorität wäre in diesem Fall notwendiger Weise die Pluralität, die ihren Grund in einer Dialektik aus An- und Abwesenheit hat. Der begründende Ursprung ist der Kirche in bestimmter Hinsicht entzogen: Das biblische Geschehen, das eben nicht als mythisches, sondern als geschichtliches Offenbarungsgeschehen geglaubt wird, liegt in der Vergangenheit, ist bereits geschehen. Als Heutige sind wir von ihm getrennt – diese historische Realität kann keine Theologie und Verkündigung umgehen. Die Pflicht zur Vergegenwärtigung zwingt die Kirche zu einer Geste der Selbstbescheidung. Anzuerkennen, dass die Geschichtlichkeit der Offenbarung den Prozess der Offenbarung auf einen sicherlich nicht-linearen Zeitstrahl verweist, relativiert jedes gegenwärtige autorisierende Wort: vor, neben und nach ihm gab, gibt und wird es andere, ebenso der Aufgabe der Vergegenwärtigung verpflichtete Versuche autoritativer Rede geben, ja geben müssen. Eine geschichtliche Hermeneutik führt also dahin, Autorität zu relativieren und im Plural zu buchstabieren.
Ein nächster, nahe liegender Schritt ist es, als Charakteristikum der Autorität in Glaubensdingen die Praxis des Erlaubens, des Möglich-Machens, der Autorisierung zu beschreiben. Eines genügt nicht, deshalb tut der Verweis auf andere und anderes Not! Ließe sich nicht so am besten das Zusammenspiel von Autoritätsinhabern und „Untergebenen“ beschreiben? Jede Autorität ist Etappe, die auf anderes verweist, das – unter bestimmten Bedingungen selbstverständlich – ebenfalls Autorität beanspruchen kann. In Ergänzung und Weiterführung zu dieser hermeneutischen Überlegung scheinen hier nun die theologisch-dogmatischen Perspektiven, auf die B.J. Hilberath verweist, anzuschließen: Denn um zu bestimmen, welcher Glaubensausdruck und welches Momentum innerhalb des christlichen Glaubens zu einer Etappe der Autorität werden kann, bedarf es inhaltlicher Kriterien. Es ist, so Hilberath in Anlehnung an ein Diktum von Eberhard Jüngel, die „Autorität des bittenden Christus“, der als Maßgabe für Autoritätsausübung in Glaubensdingen gelten soll. Christus ist nicht gekommen, um zu herrschen, sondern um zu dienen (Mk 10,45), um eine Praxis zu ermöglichen, die nicht nach den gängigen Gesetzen dieser Welt abläuft, sondern in Kritik dazu.

„Damit wird auf spezifische theo-logische Weise sichtbar, was der Begriff der Autorität von seinem Ursprung her bedeutet: das Selbstsein dessen, demgegenüber ich Autorität ausübe, zu stärken, zu vermehren“ [10].

Wieder ist ein Prozess des „Erlaubens“ angesprochen, diesmal von christologischer Seite her. Ganz ähnlich wie zuvor macht es die Autorität im Glauben aus, auf das Vermehren, Fördern (augere) dessen und derer verpflichtet zu sein, auf die ich als einzelner immer verwiesen bin. Zwischen Autoritätsinstanz und Autoritätsadressat besteht deswegen ein fluides, nicht-statisches Verhältnis. So wie Jesus groß war, aber sich klein machte, die Kleinen groß sein und die Großen klein erscheinen ließ, ist Autorität in der Kirche immer auf eine Praxis der Interdependenz angewiesen, in welcher die theologische und geschichtliche Gemeinschaftlichkeit und wesenhafte Einheit des einen pilgernden Gottesvolkes zum Ausdruck kommt. Könnte das Wort „Katholizismus“ nicht auch dies bedeuten?
Was heute glauben macht, kann morgen hohle Rede sein, wer ein Amt innehat, kommt ohne die Zuhörbereitschaft und das Mitglauben derjenigen ohne Amt niemals aus. Amtlichkeit und Vollmacht, so sehr sie auch kirchenrechtlich in die Struktur der Kirche eingemeißelt sein mögen, bleiben stellvertretende Vollzüge, immer abhängig von der einen, ersten Autorität Christi, mit der sie nur ein dünner, stets vom Zerreißen bedrohter Faden verbindet.


Ausblick

Könnte das hier skizzierte Verständnis von der Autorität eine Alternative zu einer einseitigen Betonung von charismatischer, rationaler oder traditionaler Autorität allein sein? Zwei Fährten mögen genügen um zu zeigen, in welche Richtung eine Theologie führt, die dem Leitbild der autorisierenden Autorität folgt.
Zum einen bedeutet ein solcher Begriff von der Autorität eine Passage vom Singular in den Plural: Anstatt von der einen Autorität muss vielmehr von mehreren, unterschiedlichen Autoritäten in der Kirche gesprochen werden. Kennzeichen der Kirche ist es gerade, dass sie vielschichtiger und komplexer gestaffelt ist als eine Institution der säkularen Zivilgesellschaft. Während die staatliche Behörde oder die auf Kampagnen orientierte Nichtregierungsorganisation sich die straffe Gliederung, unkomplizierte Befehlsketten und Orientierung auf direkten Output leisten kann, ist dies der kirchlichen Institution versagt. Ihr Gründungsimpuls führt gerade zur Pluralität: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Der Ursprung, der sie begründet, ist der kirchlichen Gemeinschaft in dem Maße, in dem er wirksam ist, aber auch entzogen – das Offenbarungsgeschehen ist als geschichtliches bereits geschehen und muss jeweils neu für die Gegenwart erschlossen und vergegenwärtigt werden.
Die Anerkenntnis der uneingeschränkten Mächtigkeit und Wirkkraft dieses abwesenden Ursprungs verbietet allerdings einen Alleinvertretungsanspruch in der kirchlich-weltlichen Wirklichkeit. Man könnte sagen: Der Einzigartigkeit der Autorität, welche die Kirche begründet, ist nur ein plurales Zeichen angemessen – Autoritäten in der Kirche, die alle darum bemüht sind, beständig auf den Ursprung zu verweisen und ihn gegenwärtig zu halten. Die Kirche birgt ein – oftmals vielleicht nur implizites, doch aber vorhandenes – Wissen um diese notwendige Pluralität der Autoritäten, wenn sie die Dreigestalt von Lehramt, Schrift und Tradition betont.
Zum anderen steht sie in ihrer Praxis vor der immer neuen Aufgabe, diese Vielfalt der Autoritäten zur Geltung kommen zu lassen und nicht der Versuchung nachzugeben, sich doch auf eine zentralisierte Autoritätspraxis zu verlegen. Das kann starke Auswirkungen auf die Amtspraxis in der Kirche haben: Als Autorität, die ihre Bestimmung darin erkennt, neue Ausdrucksgestalten des Glaubens zu autorisieren und zu ermöglichen, sollte sie sich als subsidiär verstehen. Weniger Kontrolle und Eingrenzung als vielmehr Ermächtigung und Eröffnung sollten Leitlinien ihres Handelns sein. Für zahlreiche Amtsträger kann das bedeuten, nicht zuerst sich selbst als Träger der Glaubensüberlieferung zu sehen und sich dem Druck auszusetzen, diese Weitergabe allein leisten zu müssen, sondern ihre Aufgabe primär in der Suche und Initialisierung geeigneter Akteurinnen und Akteure zu erkennen. Angesprochen wären damit freilich nicht allein Vertreter des priesterlichen Amtes, sondern ebenso hauptamtliche Laien. Deren Ziel darf es nicht sein, ihr eigenes beauftragtes Handeln an Stelle der unvermuteten und zahlreichen Zeugnisformen anderer zu setzen, auch wenn davon im Regelalltag des Gemeindelebens manchmal wenig zu spüren ist. Aufgabe des Amtes und der hauptamtlich in der Kirche Tätigen wäre es, andere aufzuspüren und zu ermächtigen, zu Gliedern in der Kette der Glaubenszeugnisse zu werden [11].
Auch für den Schriftgebrauch in der Kirche gilt: Die Texte des Alten und Neuen Testaments können in herausgehobener Weise die Rolle eines Autorisierungs-Mediums spielen; zahlreich sind durch alle Zeiten der Kirchengeschichte hindurch die Zeugnisse von Menschen, die sich durch die Schriftlektüre angesprochen fühlten, ihrerseits Zeugnis für die von ihnen erfahrene Autorität der Schrift ablegten und dadurch für andere zu einer Autorität im Glauben wurden. Die Aufgabe heute scheint allerdings darin zu bestehen, der Schrift im Leben der Kirche überhaupt wieder den prominenten Platz zurückzugeben, der ihr zukommt. Sie kann legitime Quelle sein für solche Prozesse der Ermächtigung und der Autorisierung [12].
Hinsichtlich der Autorität von Traditionen lebt man als Katholik in unterschiedlichen Welten: Während es in der pluralen Gesellschaft der Postmoderne immer mehr darum geht, sich beständig neu zu erfinden,  signalisiert das kirchliche Leben manchmal das Gegenteil – als dominant wird dort oftmals das Beharrungsvermögen einer undiskutierten Tradition erlebt. Es käme aber darauf an, beide Extreme zu vermeiden, und gerade das Erbe einer reichen Tradition als ein Vokabular von Praktiken auch für die Gegenwart zu erschließen. Die Fixierung auf eine zu einem bestimmten historischen Moment definierte Ausdrucksform der Tradition muss vermieden werden. Wenn dies gelingt, kann aus einem solchen „praktischen kollektiven Gedächtnis“, wie es gerade dem Katholizismus eigen ist, eine wirksame Orientierungshilfe für die Gegenwart werden. Es wäre eine Hilfe, um die je eigenen Versuche der Gegenwart zur Vergegenwärtigung des lebendigen Ursprungs ins Werk zu setzen und eine situative Flatterhaftigkeit aus der tabula rasa eines gestorbenen oder verweigerten Gedächtnisses heraus zu vermeiden.

 

[1] Grundgedanken dieses Textes wurden veröffentlicht in D.Bogner, Vom Streit der Autoritäten. Welche Zukunft für die Institution Kirche?“, in: S. Kleymann, S. Orth, M. Rohner (Hg.), Streitfall Glauben. Theologische Impulse am Beginn des 21. Jahrhunderts, Herder: Freiburg, 2006, 239-253. Für die und dank der in theologie.geschichte geführten Diskussion wurde er aber an entscheidenden Stellen erweitert und überarbeitet.
[2] So z.B. die Besetzung von Leitungspositionen mit Laien, wo dies bislang in der Regel unmöglich erschien, die Zusammenlegung gewachsener räumlicher Strukturen, vor allem aber die Einführung eines Kosten-Nutzen-Kalküls im Bereich der Pastoral, wo zuvor eine durch den Stil priesterlicher Sorge getragene Praxis von Raum und Zeit stand.
[3] Dazu zählt vor allem, dass es in der deutschen Kirche anders als vielerorts eine traditionell stark organisierte Laien- und Verbandslandschaft gibt, die in weiten Zügen bereits seit langem die Vergemeinschaftungsaufgaben übernimmt, welche von den „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ erwartet werden. Außerdem gibt es gegenüber vielen Ländern des Südens, zumal solchen, in denen Christen in der Minderheit sind, eine veränderte staatskirchenpolitische Ausgangslage. Katholische Christen waren in der deutschen Gesellschaft seit 1848 immer mehr oder weniger gesellschaftsgestaltend aktiv und hatten dafür oftmals auch den Raum. Amt und Laien stehen daher in der Bundesrepublik nicht unter demselben Druck, den Schulterschluss zu üben, wie beispielsweise in Ländern Afrikas oder Asiens, wenn sie politisch aktiv werden wollen. Im Gegenteil: Viele kirchlich gebundene, aber politisch aktive Laien fühlen sich ja auch gehindert durch eine manchmal sehr staatstragend oder zumindest vorsichtig sich äußernde Haltung der Kirchenleitungen.
[4] Es drängt sich der Eindruck einer um die politische Spitze gekappten Befreiungstheologie auf – letzteres zu sein kann der Ansatz damit aber nicht mehr beanspruchen. Zum Ansatz der Kleinen Christlichen Gemeinschaften generell vgl. Lebendige Seelsorge, Nr. 4 (2005), Würzburg 2005, darin Praxisteil mit mehreren Beiträgen zum Thema.
[5] Vgl. hierzu treffend Gérard Rolland, „Der blinde Fleck, der mangelnde Leib“, in: Concilium 30 (1993), 362-369.
[6] Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980; darin Teil III „Die Typen der Herrschaft“ (§ 2: Drei reine Typen legitimer Herrschaft).
[7] Ich beziehe mich auf den Kommentar zu meinen als Diskussionspapier veröffentlichten Überlegungen, vgl. theologie.geschichte 2/2007 (http://aps.sulb.uni-saarland.de/theologie.geschichte/inhalt/2007/band_2.html), die den ersten Teil dieses Textes bilden. Beiden Kommentatoren, Bernd Jochen Hilberath (Tübingen) und Wolfgang W. Müller (Luzern) bin ich für ihre detailreichen und sorgsamen Ausführungen dankbar, die den Gedankengang aufnehmen und weiter gehende Perspektiven ansprechen. Diese versuche ich nun meinerseits aufzugreifen.
[8] Diese passagenhafte Gestalt der Kirche eindrücklich dargelegt und im Zusammenhang von Repräsentation und negativer Theologie erläutert hat J. Werbick in: „Repräsentation – eine theologische Schlüsselkategorie?“, in: Jahrbuch Politische Theologie 2 (1997), 295-302.
[9] Der Gedankengang findet sich ausführlich bei Michel de Certeau, La faiblesse de croire, Seuil: Paris 1987, 107-128. Das Werk liegt seit kurzem nun auch in deutscher Sprache vor: Ders., GlaubensSchwachheit, Kohlhammer: Stuttgart, 2008.
[10] Vgl. Hilberath (ebd.).
[11] Vgl. ebd.: „Autorität hat durchaus mit Macht zu tun. Macht zu verteufeln, ist nicht christlich. Amtsträger sollten nicht verleugnen, dass sie Macht ausüben. Entscheidend ist, wie sie es tun: als Beherrscher oder als Vermehrer, um zu entmächtigen oder um zu ermächtigen.“
[12] Viel Bewusstsein für das Ineinander von Ekklesiologie und Rezeptionsästhetik der Schrift zeigt der neuere Ansatz der „kanonisch-intertextuellen Exegese“, vgl. z.B. Egbert Ballhorn u. Georg Steins (Hrsg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, Kohlhammer: Stuttgart, 2007; oder auch: Bernd Janowski (Hg.), Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel, Neukirchner Verlag: Neukirchen-Vluyn, 2007.

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