Urkatastrophe

Joachim Negel/ Karl Pinggéra (Hg.): Urkatastrophe. Die Erfahrung des Krieges 1914-1918 im Spiegel zeitgenössischer Theologie. Herder Verlag: Freiburg i. Br. 2016. Geb., 540 S., 34,99 EUR, ISBN 978-3-45132-851-0


Die fundamentale Bedeutung des Ersten Weltkriegs hat die Geschichtswissenschaft jüngst so nachdrücklich wie überzeugend dargelegt. Von der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts (G. F. Kennan) ist die Rede, vom Öffnen der „Büchse der Pandora“ (J. Leonhard). Danach war nichts mehr wie vor dem Krieg, lautet die verbreitete Annahme. Stimmt sie im Blick auf das religiöse Leben, die kirchliche Verkündigung, die wissenschaftliche Theologie? Um die letztgenannte Frage geht es in diesem Band. Er erwuchs aus einer interkonfessionellen Marburger Ringvorlesung im Wintersemester 2014/15. Gegliedert ist das Buch in fünf Teile: Auf ein „Vorspiel“ (19-32) folgen „Perspektiven“ der Theologien (35-125) sowie die Behandlung von neun Theologen (129-413). Unter dem Gesichtspunkt „Peripherien“ (417-512) kommen dann die Auswirkungen des Weltkriegs auf so unterschiedliche Themen wie das orthodoxe Christentum (Karl Pinggéra, 417-448), den „Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen“ (Hannelore Müller, 449-483) sowie die Mission in Afrika und Asien in den Blick (Frieder Ludwig, 484-512). In gedrängter Form wird in diesen Beiträgen exemplarisch auf den globalen Charakter des Ersten Weltkriegs hingewiesen. Eine systematische Reflexion über Gewalt und Gewaltlosigkeit beschließt den Band (Roman A. Siebenrock, 515-538).

Zu Recht unterstreichen die Herausgeber: „Was in den vier Jahren des Ersten Weltkriegs geschah und zwischen 1939 und 1945 seine gesteigerte Fortsetzung und fürchterliche Zuspitzung fand, muss Gegenstand auch des theologischen Forschens sein.“(14) Hier geht es jetzt nicht um beide Weltkriege, sondern um den tiefen geistigen, kulturellen und politischen Einschnitt, den der Erste Weltkrieg bedeutete. Erfassen lässt sich dieser mitsamt dem „Geist der Avantgarde“ allerdings nur, wenn man nicht allein Deutschland, sondern zumindest noch Westeuropa mit in den Blick nimmt. Dass Elmar Salmann OSB in seinem „Bilderbogen“ (20) darauf verzichtet, ist mehr als nur ein Schönheitsfehler.

Wolf-Friedrich Schäufele fasst noch einmal Äußerungen protestantischer Kriegstheologien zusammen (35-76). Dasselbe leistet Thomas Ruster für den Katholizismus (77-109). Hier wie da wird eine, freilich unterschiedlich starke, Lernfähigkeit der Theologen erkennbar. Offen  bleibt allerdings, in welchem quantitativen Verhältnis solche Bereitschaft zum Beharren bei den traditionellen Antworten stand. Kennzeichnend erscheint die Erfahrung von Papst Benedikt XV. bei seinen Friedensbemühungen (Jörg Ernesti, 110-125): „Die Katholiken, die doch auf mich hören müssten, fühlen sich zuerst als Belgier, Deutsche, Österreicher etc., dann erst als Katholiken.“(113) Die Frage drängt sich auf, ob konkretes Eintreten für den Frieden „unparteiisch“ überhaupt möglich ist.

Jeweils vier protestantische und römisch-katholische Persönlichkeiten sowie eine jüdische werden anschließend vorgestellt. Kriterien für die Auswahl werden nicht thematisiert. Selbstverständlich lässt sich über jede solche Entscheidung streiten. Unscharf bleibt allerdings bei vielen der folgenden Darlegungen, ob der Krieg längst bezogene Positionen primär fortsetzte, stärker akzentuierte oder eben neu konzipierte. Hier kann es nicht darum gehen, die einzelnen Beiträge kritisch zu würdigen. Behandelt werden Karl Barth (Georg Pfleiderer, 129-175), Erich Przywara (Joachim Negel, 176-226), Paul Tillich (Alf Christophersen, 227-241), Reinhold Seeberg, Adolf Deismann und Adolf von Harnack (Christoph Markschies, 242-280), Ernst Troeltsch (Friedemann Voigt, 281-303) Hugo Ball und Carl Schmitt (Bernd Wacker, 304-344), Franz Rosenzweig (Hans Martin Dober, 345-374), Emanuel Hirsch (Justus Bernhard, 375-397) sowie Erik Peterson (Barbara Nichtweiß, 398-413).

Die Auswirkungen des Weltkriegs auf das Denken dieser Persönlichkeiten waren keineswegs alle gleich stark. Will man nicht die Abkehr vom Idealismus und Fortschrittsdenken betonen oder eine neue Sensibilität für die Gottesfrage hervorheben, sind theologische oder philosophische Gemeinsamkeiten nur schwer auszumachen. Keiner dieser Männer wurde zum Pazifisten. Offen bleibt auch, inwiefern es sich um dauerhafte Wirkungen des Weltkriegs handelte, bzw. welche Rolle die geistig-politischen Erfahrungen in der Zeit der Weimarer Republik spielten. Aufschlussreich ist schließlich, dass hier nahezu ausschließlich von der Bedeutung des Weltkriegs gesprochen wird und kaum konkret über die Realität des Krieges. Von daher stellte sich allerdings manches anders dar! In England gab es eine echte Kriegslyrik und vor allem eine breite, religiös gestützte, pazifistische Friedensbewegung. In Frankreich erzeugte der „Große Krieg“ unverkennbar ein schweres Trauma, das bis in die Jahre des Zweiten Weltkriegs wirkte. Existierte in Deutschland ein anderes geistig-religiöses Klima? Auch an diesem Punkt wird die eingangs geforderte historische und theologische Forschung weiter arbeiten müssen. Der vorliegende Band bietet dazu eine Vielzahl gewichtiger Anregungen.


Zum Rezensenten:
Prof. Dr. Martin Greschat, geb. 1934, ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität in Münster/Westf.

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