Stefan Heid u. Michael Matheus (Hg.), Orte der Zuflucht und personeller Netzwerke. Der Campo Santo Teutonico und der Vatikan 1933-1955, Herder-Verlag: Freiburg i. Br. 2015, 592 S., 58,00 EUR. ISBN: 978-3-451-30930-4
Prominent zwischen Petersdom und 1971 fertiggestellter Audienzhalle gelegen, befindet sich, von einer Mauer umgeben, der Campo Santo Teutonico. Wer jemals den kleinen Friedhof besucht hat, könnte angesichts des vorliegenden fast 600seitigen Großoktav-Bandes leicht dem Missverständnis erliegen, hier sei allzu viel Text über ein allzu kleines Gebiet und Spezialthema produziert worden. Die gesamte Fläche des Campo Santo und der umliegenden Gebäude entspricht etwa zwei Handballfeldern. Doch der Eindruck aus dem Ruder gelaufener Proportionen täuscht. Erstens verdichten sich an diesem kleinen Ort tatsächlich wichtige Zusammenhänge für die Zeit ab 1933, und zweitens handelt der Band auch von personellen Netzwerken in Rom insgesamt. Die Beiträge demonstrieren das jeweils anhand einzelner wichtiger Persönlichkeiten, die überdies quasi als Nebendarsteller in jedem anderen Aufsatz erneut auftauchen und somit nochmals die Dichte des Beziehungsnetzwerkes belegen. Auf dem kleinen, seit den Lateranverträgen 1929 exterritorialen Flecken unter der Hoheit des vatikanischen Stadtstaates zwängt sich nicht nur der Friedhof für Deutschsprachige, sondern auch der Sitz der Erzbruderschaft zur schmerzhaften Muttergottes der Deutschen und Flamen, seit etwa 1450 Eigentümerin des Geländes, das 1876 eingerichtete Priesterkolleg Collegio Teutonico sowie das Römische Institut der Görres-Gesellschaft. Es wurde 1888 eingerichtet, womit sich im Jahre 2013 das 125jährige Gründungsjubiläum ergab und also eine Tagung, die vom Römischen Institut in Kooperation mit dem Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am Campo Santo veranstaltet wurde, deren manifestes Ergebnis vorliegender Sammelband ist.
Die Einführung von Michael Matheus macht deutlich, dass es dem
Projekt nicht nur um eine “überschaubare, aber
wissenschaftsgeschichtlich doch profilierte Gruppe” (11), mithin nicht
nur um Wissenschaftsgeschichte geht, sondern auch um die Themen
Ausgrenzung, Exil, katholische Hilfe für verfolgte Katholiken und
Juden. Denn auch wissenschaftsgeschichtlich unbedeutende
Persönlichkeiten, wie der italienische Politiker Alcide De Gasperi
und der irische Priester Hugh O’Flaherty, der einen wissenschaftlich
wohl kaum markanten Reiseführer durch Rom publiziert hat, werden
in dem Band wegen anderer Verdienste gewürdigt. “Geflüchtete
Kriegsgefangene verschiedener Nationalitäten fanden im Vatikan
Schutz, darunter auch deutsche Soldaten” (18), wird das Thema
Zufluchtsort aufgebaut, bevor sich herausstellt, dass es im gesamten
Vatikan um rund 100 Personen geht, während noch später
(253f.) von acht desertierten Wehrmachtsangehörigen die Rede ist,
die im Herbst 1944 bei der Schweizer Garde Zuflucht gesucht hätten.
Der erste von drei Teilen, nach denen die Aufsätze sortiert sind,
behandelt die Zuflucht in Italien und im Vatikan. Christoph Dipper gibt
einen instruktiven Überblick über die Rahmenbedingungen des
Exils. Erstaunlicherweise konnten Deutsche – 1936 etwa 11.500, davon
1500 Juden – im faschistischen Italien, wenn es für sie nicht
Transitland war, trotz der schlechten Lage in guter Stimmung bleiben
und sich relativ sicher fühlen. Für die Juden
verschärfte sich die Lage aber mit dem Ausweisungsdekret 1938 und
der Entrechtung der jüdischen Italiener im selben Jahr. Das
Ausweisungsdekret wurde aber bereits im März 1939
zurückgenommen. Wer Zuflucht im Vatikanstaat suchte, musste dort
eine Anstellung finden. Die Zahl dieser Fälle war derart gering,
“dass wir sie alle namentlich kennen” (40). Seit Deutschland Rom
kontrollierte, fanden stundenweise oder länger 4000 römische
Juden Unterschlupf in der Vatikanstadt und kirchlichen exterritorialen
Institutionen. Am 16. Oktober 1943 begann die Verhaftung von über
1000 Juden Roms “quasi unter den Augen des nicht protestierenden
Papstes” (46). Der Vatikan selber bot 40 Juden und katholischen
“Nichtariern” Schutz (47). Ohne die Hilfe von Klerikern und Teilen der
italienischen Bevölkerung wäre die Quote vernichteter Juden
sicher höher ausgefallen (47).
Mit dem Historiker Hubert Jedin eröffnet Günther Wassilowsky
die Reihe biographischer Studien. Jedin hatte eine jüdische
Mutter. Daher wurde ihm als “Halbjuden” im September 1933 in Breslau
die venia legendi entzogen. Der gelehrte Priester richtete sich fortan
(mit Unterbrechungen) in Rom ein, fühlte sich aber nicht als
Emigrant, sondern nutzte die Zeit als Forschender, um an seiner bis
heute maßgeblichen Geschichte des Konzils von Trient zu arbeiten.
Noch bekannter wurde Jedin später durch die Herausgabe des
Handbuchs der Kirchengeschichte bei Herder; weniger bekannt dagegen
ist, dass der Geistliche 1949 selber aus Rom flüchtete, denn er
hatte eine Liebesaffäre mit Hildegard von Braun, der Ehefrau des
darob höchst ergrimmten Legationsrats an der deutschen
Vatikanbotschaft. Wassilowsky geht auch die in der Einleitung
aufgeworfene Frage an, inwieweit das wissenschaftliche Werk “durch den
kosmopolitischen Charakter des Wissenschaftsstandortes Rom geprägt
wurde” (20), und kommt zu dem Ergebnis, dass sich bei Jedin eher im
Gegenteil eine papalistische, romzentrierte, auch antifranzösische
Schlagseite entwickelte, die sich in seinem Oeuvre wie in seiner
konservativen Beurteilung des II. Vatikanischen Konzils bemerkbar macht
(74).
Ludwig Schmugge behandelt den Kanonisten Stephan Kuttner, der ebenfalls
jüdische Wurzeln hatte und 1934 eine Anstellung in der
Vatikanbibliothek fand. An seinem Beispiel zeige sich “das energische
Engagement des Vatikans als Arche für rassisch verfolgte Gelehrte
in den Jahren 1933ff.”, lautet die arg verallgemeinernde
Schlussfolgerung aus diesem einen Fall. Auch zwei Frauen werden mit
eigenen Beiträgen bedacht. Annette Vogt schreibt über die
Philosophin Anneliese Maier, die als Stipendiatin in der Bibliotheca
Hertziana und auf dem Campo Santo vielfältige Netzwerke pflegte,
1956 der Erzbruderschaft beitrat und bis 1971 in Rom blieb. Paul Zanker
widmet sich der Archäologin Hermine Speier, die als Jüdin
1934 eine Beschäftigung in den Vatikanischen Museen bekam. Sie
trat 1943 der Erzbruderschaft bei.
Wie aber war die Situation der Erzbruderschaft, des Campo Santo
Teutonico und des deutschen Priesterkollegs während des Zweiten
Weltkriegs? Dieser Frage gehen Johan Ickx und Stefan Heid nach. 1931
wurde Prälat Hermann Maria Stoeckle Rektor der überschaubaren
Erzbruderschaft, an deren Aktivitäten 1942 noch rund 23
Männer und 29 Frauen teilnahmen. Mehreren Dutzend Personen konnte
Stoeckle zeitweilig Zuflucht auf dem Campo bieten. Eine herausragende
Rolle wird dem irischen Monsignore Hugh O’Flaherty eingeräumt, der
sich seit 1941 für Gefangene, Widerständler und Verfolgte
einsetzte und dafür im Priesterkolleg eine gut vernetzte
Hilfsorganisation aufbaute, teils auch, weil Stoeckle die Augen davor
verschloss.
Im zweiten Teil geht es um Diplomaten und Politiker im Vatikan, konkret
allein um drei deutsche Politiker. Dem deutsche Botschafter beim
Heiligen Stuhl, Diego von Bergen, der dieses Amt immerhin 23 Jahre lang
bekleidete, wird taktvolles Stillsitzen auf verlassenem Posten
unterstellt, eine These, die Gregor Wand höchstens für die
Zeit ab 1939 gelten lassen will. Noch umstrittener ist von Bergens
Nachfolger: 1943 “flüchtete” der gebildete, aber wenig mutige
Ernst von Weizsäcker, höchster Beamter des Auswärtigen
Amtes, aus dieser Verantwortung in den Vatikan, wie Anselm
Doering-Manteuffel zeigt. Auch Karl-Joseph Hummel liefert eine
schonungslose Abrechnung mit dem Vater des späteren
Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Der Direktor der
katholischen Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte,
Bonn, nimmt dem protestantischen Botschafter am Heiligen Stuhl sehr
übel, dass er in einem Telegramm am 17. Oktober 1943 über die
“Judenrazzia” formulierte, die Kurie sei besonders betroffen, “da sich
der Vorgang sozusagen unter den Fenstern des Papstes abgespielt hat”
(248f.), eine Sentenz, die 1963 von Rolf Hochhuth aufgegriffen worden
sei (und auf S. 46 von Dipper) , womit von Weizsäcker Pius XII.
“langfristig erheblich geschadet” habe (258). Ein Mittelsmann des
Papstes habe doch einen Protest wenigstens angekündigt,
außerdem sei es von Weizsäcker selber gewesen, der davon
abgeraten habe.
Als wenig rühmlich gilt auch die Karrierekurve von Ludwig Kaas.
Nachdem der Trierer Prälat die Zentrumspartei als deren
Vorsitzender im März 1933 dahin gebracht hatte, dem
Ermächtigungsgesetz zuzustimmen, setzte er sich sogleich nach Rom
ab. Über seine Exiljahre ist wenig bekannt. Er hat, wie Rudolf
Morsey beschreibt, Pacelli beraten und sogar 1937 an der Enzyklika “Mit
brennende[r] Sorge” (276) mitgewirkt. In Rom war er sicher, aber
auch recht isoliert, weil er von ehemaligen Fraktionskollegen gemieden
wurde. Seit 1936 für die Dombauhütte zuständig, wurde er
1950 mit verantwortlich für das Auffinden des Petrusgrabes.
Der abschließende dritte Teil widmet sich dem Komplex
“Wissenschaft zwischen Kontinuität und Neuanfang”, mithin auch der
Zeit ab 1945. Stefan Heid zeichnet die Geschichte des Römischen
Instituts der Görres-Gesellschaft nach, das am Campo Santo mit der
Archivarbeit von Johann Peter Kirsch 1888 begann und zunächst als
Historische Station firmierte. Kirsch leitete das Institut (mit
Unterbrechungen) bis immerhin 1938, dann entschlief die Arbeit
offiziell unter Rektor Stoeckle, wurde aber unter dem Jesuiten
Engelbert Kirschbaum 1949 erfolgreich wieder aufgenommen. Das
Auslandsinstitut ist eine wichtige Kontaktstelle deutschsprachiger
Kirchenhistoriker und Archäologen und konkurrierte bzw.
kooperierte mit dem ebenfalls 1888 gegründeten, aber besser
ausgestatteten Preußischen Historischen Institut in Rom.
Dem mühsamen Wiederaufbau der deutschen wissenschaftlichen
Institute spürt Michael Matheus nach. Auch Geistliche des Campo
Santo trugen zu den Verhandlungen bei. Paolo Vian geht wieder in die
erste Jahrhunderthälfte, in der die Brüder Giovanni Mercati,
Präfekt der Vatikanbibliothek, und Angelo Mercati, Präfekt
des Vatikanarchivs, nicht nur deutschsprachige Wissenschaftler, sondern
auch rassisch-politisch verfolgte Gelehrte unterstützten. Ein
kurzer Beitrag Sergio Paganos stellt Hermann Hoberg vor, seit 1950
Archivar des Vatikanischen Geheimarchivs. Arnold Nesselrath beleuchtet
die Restaurationsarbeiten des Generaldirektors der Vatikanischen
Museen, Deoclecio Redig De Campos. Klaus Schatz gibt “persönliche
Erinnerungen” an den Kirchenhistoriker Friedrich Kempf preis, der erste
Jesuit, den er als Student 1956 “leibhaftig erlebte”. Ein
umstrittenerer Kirchenhistoriker dagegen war Karl August Fink. Dominik
Burkard bezweifelt, dass Fink, der im NS-Regime zwischen seinem
Lehrstuhl in Braunsberg und dem Campo Santo unbehelligt hin und her
pendeln konnte, tatsächlich dem Nationalsozialismus nahe stand.
Außerdem habe er dem “Halbjuden” Jedin geholfen.
An keiner Stelle erschließt sich, warum ausgerechnet hinter
diesem Aufsatz ein sehr brauchbarer Anhang mit detaillierten
Biographien von 99 Personen folgt (527-559), darunter schon
ausführlich vorgestellte Protagonisten des Bandes wie Jedin, Kaas,
Kempf, Alois Hudal, Anneliese Maier und Ludwig von Pastor, aber auch
Akteure, die für den Kontext wichtig sind wie Kardinal Michael
Faulhaber, der NS-Historiker Walter Frank, der Kirchenhistoriker Erwin
Gatz, Pacelli und sein Mitarbeiter Robert Leiber. Um nicht
unterzugehen, hätte der Anhang, leicht ergänzt, besser hinter
den noch ausstehenden letzten Aufsatz platziert werden müssen. In
ihm würdigt Norbert M. Borengässer die Mitglieder des
Schülerkreises von Franz Joseph Dölger (1879–1940), die, wie
der Kirchenhistoriker und Archäologe selber, mehrfach in Rom
waren, darunter insbesondere Theodor Klauser und Johannes Quasten.
Der Band, der mit einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie
einem nützlichen Personenregister abschließt, kann seine
katholische Herkunft nicht verbergen. Der Wunsch, die vorgestellten
Personen zu “würdigen” und von Vorwürfen (Antisemitismus,
Nationalismus, Anpassung und Schweigen) zu verteidigen – ausgenommen
den Protestanten Ernst von Weizsäcker – ist zwischen den Zeilen
unüberlesbar. Einerseits wird notorisch betont, wie Pius XII.,
Geistliche, einzelne Personen, der Vatikan und seine Institutionen, der
Campo Santo Teutonico und das Collegio Teutonico di Santa Maria dell’
Anima die Rettung von Dissidenten und Juden vor dem Zugriff der
nationalsozialistischen Verfolger betrieben, welche Netzwerke Alois
Hudal, seit 1923 Rektor Anima, knüpfte, um Verfolgten zu helfen,
und dass der in dieser Hinsicht eher phlegmatische Stoeckle auf Bitten
Giovanni Battista Montinis “immer wieder Flüchtlinge in den Campo
Santo aufgenommen hatte” (186). Andererseits wird mit keinem Wort
erwähnt, daß derselbe Hudal und derselbe Montini auch
anderen zur Flucht verhalfen. 1944 installierte Pius XII. seine
Hilfskommission für Flüchtlinge, angeregt und letztlich
geleitet von Monsignore Montini (wird 1963: Paul VI). Die eigentliche
Arbeit dieser Pontificia Commissione Assistenza Profughi erledigten
nationale Unterkomitees in Rom, allen voran das österreichische
des mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Bischofs Hudal. Er
verhalf mit gefälschten Pässen mehreren hochrangigen und nun
“verfolgten” Nationalsozialisten bis 1952 zur Flucht über Genua
insbesondere nach Argentinien. Hudal und seine Anima kommen auf 24 bzw.
28 Seiten in dem Buch vor, aber immer nur im positiven Licht. Allein
sein “Machwerk” (283) von 1937 über die “Grundlagen des
Nationalsozialismus” konnte dann doch wohl nicht ganz unerwähnt
bleiben.
Gleichwohl: Insgesamt hat die vorwiegend katholische Herrenrunde aus 18
renommierten Experten mit einer einzigen renommierten Autorin, Annette
Vogt (die auf dem Foto S. 10 etwas verloren wirkt), mehr als ein
erbauliches Buch über den Campo Santo Teutonico und andere
römische Institutionen und Netzwerke vorgelegt. Es weist
produktive Verbindungen akribisch nach und hebt die Leistungen der
betroffenen Wissenschaftler in ihrem römischen Kontext hervor,
stets anhand archivalischer Quellen belegt. Beide Akzente –
Wissenschafts- und Zufluchtsgeschichte – bildeten für den Campo
Santo Teutonico und die mit ihm vernetzten Institutionen der “deutschen
Kolonie” bislang eine Forschungslücke, die nun zu einem
erheblichen Teil weiter geschlossen wurde. Wer fortan erneut an die
Texte von Hubert Jedin herangeht, wird sie unter einer anderen
Perspektive lesen. Und wer erneut den Campo Santo besucht, wird seine
Bedeutung für die Rettung von Leben und für die auch
über 1945 hinausreichenden Wissenschaftstraditionen nie mehr
unterschätzen.
Zum Rezensenten:
Prof. Dr. Olaf Blaschke, geb. 1963, ist Professor für Neuere und
Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität
Münster.
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