Lydia Koelle
Offene Wunden - Muss es eine Vertriebenen-Seelsorge an den
Nachkommen geben?
Überlegungen im Anschluss an
die Veranstaltungsreihe „Der lange Schatten des Krieges.
Frauenerfahrungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ im
Frühjahr 2015
Auch noch 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs haben die Seelen der letzten Zeugengeneration, der Kriegskinder, keine Ruhe gefunden. Und nicht nur sie: Auch ihre Kinder sind seelisch verwundet und tragen an den Folgen des Krieges. Bis zu 14 Millionen Deutsche sind seit 1944 aus ihren Heimatgebieten in Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen und anderen Ostgebieten geflohen oder vertrieben worden – als Konsequenz der deutschen Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkriegs. Hat die Nachkriegspastoral sich ihrer Leiden angenommen? Und wie steht es aktuell um das kirchliche und soziale Engagement für die Flüchtlinge von heute?
1. Der lange Schatten des Krieges.
Flucht und Vertreibung als Frauenschicksal
Die Dokumentation der Veranstaltungsreihe „Der lange Schatten des Krieges. Frauenerfahrungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, die im Frühjahr 2015 in Bergisch-Gladbach, Köln und Bonn stattfand, bezeugt und würdigt die Leiden von Frauen während Flucht und Vertreibung und zeigt die Spätfolgen des Krieges in den Antworten und Reaktionen von Künstlern, Historikern, Therapeuten und Theologen, die oftmals selbst ein Vertreibungsschicksal in ihrer Familie zu bewältigen haben.[1]
In ihrer Einführung berichtet Eva-Maria Will, Referentin in der Abteilung Erwachsenenseelsorge im Erzbistum Köln, Initiatorin der Veranstaltungsreihe und als 1963 Geborene selbst Kind vertriebener Eltern, dass der Anstoß zum Projekt, siebzig Jahre nach Kriegsende das Schicksal der Frauen während Flucht und Vertreibung zu gedenken, ein persönlicher war. In der Begegnung mit Kriegskindern und deren Kindern (KriegsenkelInnen) wurde Will gewahr, wie mental unabgeschlossen die Zeiten von Krieg und Niederlage sind und dass selbst die Kriegsenkel posttraumatische Belastungsstörungen zeigen, als wären sie selbst und nicht ihre Eltern massiver Lebensverunsicherung und Todesangst ausgesetzt gewesen.[2]
Die entwurzelten Eltern hatten als Aufbaugeneration das wirtschaftliche Wachstum der neu erstarkenden Bundesrepublik mit geschaffen. Sie boten ihren Kindern zwar wirtschaftliche Sicherheit, vermochten es aber oft nicht, ihnen einen inneren Halt zu geben, so dass sie den intimem Raum der Familie als Vergangenheits-Ghetto und sich selbst darin als Fremde erlebten. Jetzt, im Alter, werden die Mauern, die die Kriegskinder um ihr Leid und ihr Ungetröstetsein gezogen haben, brüchig. Um die Jahrtausendwende kommt es in den Medien zu einer Erinnerungs-Schwemme, die die jüngste Vergangenheit gleich Treibholz in das Bewusstsein der Nation flutet: Bücher, Dokumentationen, Zeitzeugengespräche und Filme bringen die Vergangenheit in die Wohnzimmer zurück – Heilung oder gar Versöhnung und Erlösung sind damit jedoch nicht schon vorprogrammiert.[3] Die Journalistin Sabine Bode publiziert Berichte von Kriegskindern, Nachkriegskindern und KriegsenkelInnen.[4] Als Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten vermehrt öffentliches Interesse finden, sehen Kritiker darin die Tendenz, das „Tätervolk“ „veropfern“ zu wollen.[5] Im Jahr 2014 beschloss die Bundesregierung, dass fortan der 20. Juni der Gedenktag von Flucht und Vertreibung sei, anknüpfend an den schon bestehenden Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen.[6]
1.1 Physisches und seelisches Leiden
erinnern – der Toten gedenken
Eva-Maria Will macht in ihrer Einführung deutlich, dass das
Flucht- und Vertreibungsschicksal zunächst vor allem die Frauen
traf und mit ihnen Kinder und Alte, die sich auf den Weg ins Ungewisse
machen mussten. Der Historiker Andreas Kossert trug vor, dass die
gelungene wirtschaftliche Integration der Ostflüchtlinge und die
durch sie angestoßene Modernisierung nicht vergessen machen
sollten, dass die Heimatvertriebenen keineswegs von ihrer neuen
Umgebung mit offenen Armen aufgenommen wurden: „Es kamen Deutsche zu
Deutschen. Ihre kulturellen und mentalen Prägungen aber waren
gänzlich andere als die der Menschen hierzulande. [...] Dialekte,
Mentalitäten, Konfessionen und Sozialisationen – die Differenzen
konnten kaum größer sein.“[7]
Im EL-DE Haus, dem Kölner NS-Dokumentationszentrum, wurde aus dem Buch „Die Stunde der Frauen“ von Christian Graf von Krockow gelesen, der stellvertretend die Fluchtgeschichte seiner Schwester Libussa aufgeschrieben hatte.[8] Viele der anwesenden Zeitzeugen meldeten sich zu Wort, um von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten.
In der Kölner Minoritenkirche fand eine Ausstellung mit filmischen Interviews, der Installation „Leidens- und Heilsweg“ von Frauen der Aachener Künstlerin Monika Brenner und mit Exponaten aus dem „Haus der Geschichte“ statt wie einem Handwagen, einem Koffer und Flüchtlingsausweisen.[9] Die Kunsthistorikerin Britta Julia Dombrowe ermutigte dazu, dieser „Sprache der Dinge“ die eigene Stimme an die Seite zu stellen und das Familienschweigen zu beenden.[10] Es geht dabei auch um die emotionale Seite der Aneignung deutscher Vergangenheit als Familiengeschichte. Es geht um die Suche nach einer spirituell-christlichen Antwort auf Verzweiflung und Sterben der Heimatvertriebenen. Im fiktiven Gebet einer geflüchteten Frau von Aurica Nutt kommt dies zur Sprache: „Was haben meine Wunden mit Deinen zu tun, die Narben auf meiner Seele mit Dir? [...] Du bist der Zorn in mir über all das Unrecht. Du bist die Kraft, die mich weiterleben lässt. // Du bist meine allerletzte Hoffnung“.[11] In einem ökumenischen Gottesdienst wurde der bei Flucht und Vertreibung umgekommenen Kinder und Angehörigen gedacht, die ohne eigenes Grab blieben. Bei Gott, so Eva-Maria Will, werde keiner vergessen, auch die Unbestatteten und Verscharrten nicht.[12] Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln und Schirmherr der Ausstellung, schrieb eine Meditation zum „Gebet in der Fremde“ von 1946: „Schweigen, / Weinen. / Der Schmerz hat, Leid zu bringen, / nicht aufgehört“.[13]
1.2 Die heutigen Auswirkungen
wahrnehmen bei Kriegskindern und -enkel(Inne)n - Ist Heilung
möglich?
Der Band dokumentiert das Gespräch mit Zeitzeugen und Gästen
zum Film von Dorothe Dörholt „Wir Kriegskinder – wie die Angst in
uns weiterlebt“ im Domforum Köln. Die Psychologin und
Filmemacherin zeigt, wie Kriegskinder gerade im Alter, wenn die
Verdrängungsmechanismen schwächer werden, von ihren Leiden
aus der Vergangenheit heimgesucht werden. Ihre Angehörigen sind
ebenfalls davon belastet. Durch eine einfühlsame Psychotherapie
und das offene Familiengespräch kann, so zeigte der Film, wenn
nicht Heilung, so doch Entlastung erfahren werden.[14]
Ausführlich gibt die Dokumentation den Vortrag von Bettina Alberti wieder, der im Kölner Karmel stattfand: „Seelische Trümmer. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas“. Alberti, selbst Tochter von zwei traumatisierten Kriegskindern, begleitet als Psychotherapeutin oft Menschen, die transgenerationale Verwundungen in sich tragen, die es ihnen schwer machen, ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Weil die Eltern nicht ihre Verluste betrauern konnten, sind die „seelischen Trümmer“ liegen geblieben und beschweren nun die EnkelInnen des Krieges.
Ein Familienschicksal von Flucht und Vertreibung zu haben, schließt oft die Erfahrung mit ein, unerwünscht zu sein, und einen Erziehungsstil, der klein hält und funktionstüchtig machte für das „Glück“ / die Selbstberuhigung der Eltern. Einer von Albertis Klienten berichtet: „Oft fühlte ich einen Schmerz in mir, der meiner ist und doch nicht meiner, [...]. Wir hören nicht nur die Geschichten unserer Eltern, wir fühlen sie auch, und wir haben sie immer gefühlt.“[15]
Dass die Verdrängung so starker Gefühle der Verlorenheit gelang, ist auch die bittere Frucht nationalsozialistischer Erziehung, bei der jede Schwäche verpönt und die emotionale Welt unterdrückt wurde. „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (erstmals 1934; zahlreiche Auflagen bis 1987), der NS-Erziehungsratgeber von Johanna Haarer, forderte Härte statt Mitgefühl und liebevoller Zuwendung. Auf diese Art erzogene Menschen begleitet der „Schmerz der Unverbundenheit“ ein Leben lang und schürt eine „Verlorenheitsangst“[16].
Wie kann dieser Kreislauf von Schuld, Trauer und Schweigen ein Ende finden? Alberti sieht die Lösung allein darin, die Verdrängung rückgängig zu machen, das Schweigen zu hinterfragen, sich der eigenen Familiengeschichte zu stellen und in einen Dialog mit den noch lebenden Angehörigen einzutreten.
Ob Versöhnung allein aus der Erinnerung erwächst, wie Alberti es am Ende ihrer Ausführungen darstellt, bezweifle ich. Versöhnung und Heilung sind die Vollendung eines Prozesses, an deren Anfang „Erinnerung“ steht, die jedoch nicht zwangsläufig zum guten Ausgang des Prozesses führen muss.[17] Meiner Ansicht nach ist für die Kriegsenkel der Friedensschluss mit den (verstorbenen) Eltern der eigentliche Knackpunkt: zu wissen, was diese als Kriegskinder durchmachten, hilft zu verstehen, warum sie als Eltern so waren, wie sie waren, und macht ihnen zu vergeben, erst möglich.
Britta Julia Dombrowe (geb. 1971, Kunsthistorikerin und
Journalistin) berichtet von ihrer – für die dritte Generation nach
dem Holocaust schon typisch gewordenen - „Erinnerungsreise“, einer Art
detektivischen Pilgerschaft auf dem Fluchtweg der Eltern: Die Mutter
wurde auf der Flucht aus Breslau geboren, der Vater mit drei Jahren
aus Pommern von Gotenhafen ausgeschifft. Dombrowe positioniert
sich gleich am Beginn ihrer Ausführungen wie Bettina Alberti als
Kriegsenkelin; eine Zugehörigkeit, die ihr erst langsam bewusst
wurde. Gemeinsam mit ihrem Freund, einem Kameramann, beschließt
Dombrowe aus ihrem Wunsch nach Annäherung an die Flucht der Eltern
ein Filmprojekt zu machen. Bei eisiger Kälte laufen sie am
Frischen Haff, einer langgezogenen Ostseebucht, entlang von Kaliningrad
(Königsberg) bis Gdynia (Gotenhafen). Der Gewinn dieser sehr
beschwerlichen und abenteuerlichen Reise sind nun eigene Bilder, da, wo
vorher eine emotionale Leerstelle und Schweigen war. Und einen weiteren
Ertrag ihrer Erinnerungsreise hat Dombrowe bereits in der
Vorbereitung eingefahren, als sie ihre Großtante, bei der Flucht
fünfzehn Jahre alt, im Beisein vieler Mitglieder ihrer
Herkunftsfamilie befrage, dadurch das Familienschweigen brach, und sich
zugleich auf diese Weise ihrer familiären Wurzeln neu
vergewisserte.[18]
1.3 Die aktuelle
Flüchtlingsproblematik in den Blick nehmen
Beatrice Tomasetti stellt die heilende Arbeit der
„TouchLife“-Praktikerin Hanna Krstic mit kriegstraumatisierten Frauen
und Männern des Balkankrieges in den Jahren 2003 und 2006
vor.[19]
Außerdem berichtet sie in den letzten Artikeln der Dokumentation von drei Aktionen, die für die aktuelle Flüchtlingssituation sensibilisieren und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen wollen: der „missio-Flucht-Truck“, bei dem man sich in die Situation eines Flüchtlings hineinversetzen kann (ein Angebot von Missio, der Kath. Jugendagentur Köln und der Schulpastoral des Erzbistums Köln besonders für Schulklassen); ein Podiumsgespräch mit Marion Lammerig (Pfadfinder St. Georg), Henriette Reker (Stadt Köln), Lea Winterscheidt (BDKJ) und Rasam Shamasha (ehemaliger Flüchtling); dem „Talk am Dom“, bei dem über Herausforderungen für eine gelingende Flüchtlingshilfe diskutiert wurde. Teilnehmer auf dem Podium waren Kara Huber geb. Kaldrack (auf der Flucht aus Pommern geboren, Ehefrau des ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Wolfgang Huber), Sonya Winterberg (Autorin eines Buches über verlassene Kinder auf der Flucht[20]), Frank Johannes Hensel (Caritasdirektor im Erzbistum Köln und Projektleiter der von Erzbischof Woelki gegründeten Flüchtlingshilfe „Aktion Neue Nachbarn“), sowie P. Findo Pflüger (Leiter des deutschen Jesuiten-Flüchtlingsdienstes).[21]
2. Seelenlosigkeit der frühen
Vertriebenen-Pastoral – Hat die Kirche der Nachkriegszeit bei der
Betreuung kriegsversehrter Seelen versagt?
Wenn Millionen von Menschen und ihre Nachkommen auch noch siebzig Jahre
nach der Befreiung kriegsgeschädigt zurückbleiben, muss die
Frage gestellt werden, ob die kirchliche Betreuung der
Kriegstraumatisierten versagt hat, obwohl kurz nach Kriegsende
beispielsweise eine Vertriebenenseelsorge der katholischen Kirche
etabliert wurde. Schaut man auf die Quellen und jüngsten
(kirchen-)historischen Untersuchungen zur frühen Seelsorge an den
Ostflüchtlingen und Heimatvertriebenen, kommt man zu dem Ergebnis,
dass Seelsorge im Sinne von Trauerbegleitung und heilsamer Zuwendung
nicht stattgefunden hat, ja, die Vertriebenen-Seelsorge der ersten
Stunde sich durch „Seelenlosigkeit“ auszeichnet.
Die erste Sorge der Kirche, die sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches als „Siegerin in Trümmern“[22] fühlte, galt dem Klerus und der Wiederherstellung ihrer Strukturen: Maximilian Kaller, Bischof von Ermland, wurde 1946 von Papst Pius XII. mit der Vertriebenenseelsorge beauftragt, die vertriebenen Ost-Priester sollten gesammelt werden und erhielten eine Ausbildungsstätte in Königstein.[23] Die vertriebene Katholiken lebten in der Diaspora oder in Gemeinden, die sie nicht wollten, als religiös rückständig und als „Polacken“ abqualifizierten[24], und deren Seelsorger sich nicht in das Leid des Heimatverlustes einfühlen konnten und wollten. Zum alten Leid kam nun der Kummer der Ausgrenzung und des Unerwünschtseins hinzu.
Eindrucksvoll die Analyse und die deutlichen Worte des Pastoraltheologen Franz Xaver Arnold zur Seelenlage der Ostflüchtlinge und Heimatvertriebenen im Jahr 1947: „Das Flüchtlingsproblem hat noch eine tiefere Schicht: die seelische Schicht, und gerade hier wird wohl am meisten gefehlt. Es fehlt am menschlichen und seelsorgerischen Verstehen, an der menschlichen Wärme und Nähe; es fehlt zwischen den Heimatlosen und den Einheimischen das Wissen voneinander. [...] Daß wir doch etwas hätten von diesem göttlich großen und zugleich so ganz menschlichen Verstehen! Daß wir die Seele des Wortes 'Verstehen' wieder ahnten! Das wäre ein Sonnenaufgang des Glücks für Tausende einsam ringender, unverstandener Menschenseelen. Kann es etwas größeres geben als einen Menschen, als einen Seelsorger, der sich ganz in den andern hineinzuversetzen vermag, der sein Tun und Lassen aus der Geschichte seines Werdens und seiner Seele und aus seinen letzten Überzeugungen heraus zu verstehen sucht? Der seine verborgenen Schmerzen erleidet, um all seine Einsamkeiten weiß, sein persönlichstes Grauen vor dem Leben und Sterben miterlebt? Welch eine Nähe göttlichen Verstehens wäre das, welch ein Trost und welch ein Feiertag!“[25]
Doch die Kirche machte mit bei der Verdrängung der Trauer über Verluste und dem Gefühl von Zorn und Ohnmacht: Die Vertriebenen sollten funktionieren. Sie sollten sich anpassen an die neue Umgebung, nicht stören. Für ihren Heimatverlust wurde ihnen eine schnelle theologische Sinnstiftung angeboten, die in die Richtung geht des bekannten Kirchenliedes „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh durch mancherlei Beschwerden der ewgen Heimat zu“ oder gar als Sühneleistung für die deutsche Vertreibungspolitik und für die deutschen Verbrechen. Damit wurde der Heimatverlust zur Erlösungsleistung hochstilisiert und gleichzeitig negative Gefühle wie Rachegedanken und Gerechtigkeitsstreben im Keim erstickt. Auf den Heimatvertriebenen lastete der Druck, vergeben zu müssen, was sie noch nicht einmal hatten betrauern dürfen. Zur Seelen-Verlassenheit der Heimatvertriebenen kam auch noch die Seelen-Überforderung durch Erwartungen, die man an sie stellte: die Neu-Christianisierung voranzutreiben oder wenigstens die Säkularisierung aufzuhalten. Wirtschaftlich sollten die Entwurzelten die Modernisierung Deutschlands befördern. Dies geschah, aber der Preis des Wirtschaftswunders war unbewältige Trauer.
Die damalige Seelsorge zielte auf den funktionstüchtigen und nicht auf den heilen Menschen. Die Nachkriegskirche hat diese Praxis der Seelen-Losigkeit nicht nur mitgemacht und begleitet, sondern aufgrund pastoraler Überforderung und ihres Interesses an eigenem Besitzstand – nämlich in der Nachkriegsgesellschaft eine dominierende Rolle zu spielen -, mitinitiert.
Einen notdürftigen, rückwärtsgewandten Trost fanden die verschiedenen Vertriebenengruppen in der religiösen Folklore ihrer Heimatsitten. In dieser Gemeinschaft konnte geweint und geklagt werden. Sich öffentlich der Trauer zu stellen, hätte dagegen bedeutet, sich auch den Fragen nach Schuld und Verantwortung in der NS-Zeit zu stellen, mithin auch der Frage nach Schuld und Verantwortung der Kirche. Dazu war man überwiegend nicht bereit. Seelische Schmerzen, und nicht nur die der Heimatlosen, siedelten fortan ungetröstet in einem Niemandsland. Sie waren eingekapselt in Betriebsamkeit, aber nicht verschwunden. Als „Gefühlserbschaften“ gingen sie auf die Kinder über, die bei solcher Art Kriegsversehrten aufwuchsen und von ihnen erzogen wurden.
Ist dieses Versäumnis wieder gut zu machen? Müsste es nicht, mehr als siebzig Jahre nach Kriegsende, eine andere, einfühlsamere, wissendere Seelsorge an den nun betagten Kriegskindern und ihren Nachkommen geben? Oder will die Kirche diese ihre genuine Aufgabe heilvoller Fürsorge für Millionen von bedürftigen Seelen ganz den Therapeuten überlassen?[26] Müsste das Wissen um Kriegstraumata und die Weitergabe zwischen den Generationen nicht verbindlich zur Aus- und Weiterbildung von Pflegepersonal im Krankenhaus und Altenheim gehören und bei der Ausbildung von Trauerbegleitern vermittelt werden?[27]
Der Verdienst der Veranstaltungsreihe „Der lange Schatten des Krieges“ ist darin zu sehen, dass sie auf vielfältige Weise und mit den unterschiedlichsten Veranstaltungsformen für die seelischen Folgeschäden des Krieges sensibilisiert, und mit der Dokumentation „Impulse für eine Pastoral der heilenden Erinnerung und Versöhnung“ gibt. Mit Nachdruck, wenn auch indirekt, wurde der Finger auf offene Wunden gelegt – siebzig Jahre „danach“. Und von dieser Perspektive aus ist die Sorge um die Seele, und nicht allein die Sorge um wirtschaftliche und menschliche Integration der Flüchtlinge unserer Tage ein Muss.
Zur Autorin:
Dr. theol. Lydia Koelle, geb. 1962, Tochter einer aus Ober-Schlesien
geflüchteten Mutter; Theologin und Literaturwissenschaftlerin;
zuletzt:
Lydia Koelle, Schuld als Aufgabe. Deutsche Theologie der dritten
Nach-Shoah-Generation und ihre Vergebungsdiskurse, in: Julia Enxing
(Hg.), Schuld. Theologische Erkundungen eines unbequemen
Phänomens,
Ostfildern 2015, 262-275; Lydia Koelle, Kriegsversehrte. Die Dritte
Generation in der Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für
deutsche
Philologie 135 (2016) [im Erscheinen].
[2] Vgl. Eva-Maria Will, Einführung, in: Aus dem Schatten des Krieges, 6-7.
[3] Vgl. Lydia Koelle, Deutsches Schweigen. Der Vergangenheit Gegenwarten im Familiengedächtnis, in: Literatur, Religion und öffentlichem Raum, hg. v. der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin-Berlin 2014, 20ff.; online abrufbar unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_40005-544-1-30.pdf?141217163207.
[4] Vgl. Sabine Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2004; dies., Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart 2009; dies., Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter, Stuttgart 2011.
[5] Vgl. K. Erik Franzen, Subjekt, Objekt, Täter, Opfer: eine Skizze des Vertriebenendiskurses in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Rainer Bendel / Stephan M. Janker (Hg.), Vertriebene Katholiken – Impulse für Umbrüche in Kirche und Gesellschaft?, Münster 2005, 37-48.
[6] Vgl. Joachim Gauck, „Wer die Heimat zwangsläufig verlassen muss, spürt häufig eine lebenslange Wunde.“ Rede anlässlich des ersten Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung, 20. Juni 2015, Berlin, in: ders., „Wir vergessen nicht.“ Reden zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in Bergen-Belsen, Berlin, Dresden, Lebus, Schloß Holte-Stukenbrock 2015, hg. v. Bundespräsidialamt, Berlin 2015, 46-61; online abrufbar unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/151120-Broschuere-Gedenkreden-2015.pdf;jsessionid=518B86D80EFE294760FCE8E390BABAEC.2_cid388?__blob=publicationFile.
[7] Andreas Kossert, Was geht uns das an? - Flüchtlinge: Böhmen, Pommern, Syrien, in: Aus dem Schatten des Krieges, 8-11: 8.
[8] Vgl. den Beitrag von Mathias Beer, „Die Stunde der Frauen“. Graf von Krockow revisited, in: theologie.geschichte Beiheft 8/2013, 233-261; online abrufbar unter: /ojs2/index.php/tg_beihefte/article/viewFile/729/774.
[9] Vgl. Aus dem Schatten des Krieges, 35-40.
[10] Vgl. Britta Julia Dombrowe, Leidenswege von Frauen – im Krieg und 70 Jahre danach, in: Aus dem Schatten des Krieges, 30-34.
[11] Aurica Nutt, Du bist meine allerletzte Hoffnung. Spirituelle Impulse zur Ausstellung, in: Aus dem Schatten des Krieges, 42-43: 43.
[12] Vgl. Eva-Maria Will, Bei Gott geht niemand verloren – Zum Gedenken an die Lebenden und die Toten, in: Aus dem Schatten des Krieges, 44-46.
[13] In: Aus dem Schatten des Krieges, 28.
[14] Vgl. Bettina Goebel, „Wir Kriegskinder – wie die Angst in uns weiterlebt“, in: Aus dem Schatten des Krieges, 47-48.
[15] Bettina Alberti, Seelische Trümmer. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas, in: Aus dem Schatten des Krieges, 49-57: 52; vgl. auch: dies., Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas, München 2010; Astrid von Friesen, Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener, Gießen 2000.
[16] Alberti, Seelische Trümmer (2016), 54. Vgl. auch das Interview mit Miriam Gebhardt, „Erziehung vererbt sich“, in: Nido vom 9. Januar 2014; online abrufbar unter: http://www.nido.de/artikel/interview-miriam-gebhardt/.
[17] Vgl. Koelle, Deutsches Schweigen, 20ff.
[18] Vgl. Britta Julia Dombrowe, Am Kalten Haff. Zu Fuß von Königsberg nach Danzig, in: Aus dem Schatten des Krieges, 12-17.
[19] Vgl. Aus dem Schatten des Krieges, 23-27. „TouchLife“ ist eine achtsamkeitsbasierte Massage-Methode, die den Betroffenen hilft, wieder ein Gefühl von körperlicher Ganzheit und Vertrauen zu entwickeln. Denn als Schutz vor den eigenen unerträglichen Erlebnissen haben sie oft ihre Körperwahrnehmung regelrecht abgeschaltet. Das Netzwerk „healing hands“ unterstützt finanziell die ehrenamtliche Arbeit der TouchLife-Praktiker. [20] Vgl. Sonya Winterberg, Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen, München 2012.
[21] Vgl. Aus dem Schatten des Krieges, 58-67.
[22] Vgl. Joachim Köhler / Rainer Bendel, Bewährte Rezepte oder unkonventionelle Experimente? Zur Seelsorge an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, in: Joachim Köhler / Damian van Mehlis (Hg.), Siegerin in Trümmern. Die katholische Kirche in der deutschen Nachkriegszeit, Stuttgart u.a. 1998, 199-228; Rainer Bendel, Aufbruch aus dem Glauben? Katholische Heimatvertriebene in den gesellschaftlichen Transformationen der Nachkriegsjahre 1945-1965, Köln u.a. 2003; ders. (Hg.), Die Fremde wird zur Heimat. Integration der Vertriebenen in der Diözese Rottenburg, Berlin 2008.
[23] Vgl. Bischof Karl Lehmann, Die Kirche inmitten von Vertriebenenschicksal und Flüchtlingselend. Kleiner Versuch einer Würdigung der Heimatvertriebenenseelsorge, in: Kirche und Heimat. Die katholische Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge in Deutschland, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1999 (= Arbeitshilfen Nr. 146), 7-10; Weihbischof Gerhard Pieschl, Entwicklung der Vertriebenenseelsorge in der Katholischen Kirche der Bundesrepublik Deutschland, in: Kirche und Heimat, 11-26; Gerold Schneider, Seelsorge für Heimatvertriebene in der ehemaligen DDR, in: Kirche und Heimat, 26-33; online abrufbar unter: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/arbeitshilfen/AH_146.PDF.
[24] Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, 43.
[25] Franz Xaver Arnold, Das Schicksal der Heimatvertriebenen und seine Bedeutung für die katholische Seelsorge, Stuttgart 1949 (erweiterte Wiedergabe eines pastoraltheologischen Vortrags im November 1947 vor Theologen im Tübinger Wilhelmsstift), 16 [Hervorhebungen im Original]; 36.
[26] Vgl. Udo Baer / Gabriele Frick-Baer, Kriegserbe in der Seele. Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft, Weinheim 2015; Luise Reddemann, Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. Folgen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs erkennen und bearbeiten – Eine Annäherung, Stuttgart 2015.
[27] Vgl. den Artikel: Der Zweite Weltkrieg tobt in deutschen Altenheimen, in: Die Welt, 2. Okt. 2013; online abrufbar unter: http://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article120568707/Der-Zweite-Weltkrieg-tobt-in-deutschen-Altenheimen.html#disqus_thread.
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