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Julia Paulus/Marion Röwekamp (Hgg.), Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Familie (1941-1943), Paderborn 2015, Schöningh-Verlag, 653 S., 64,90 €, ISBN: 978-3-506-78151-2

Den Herausgeberinnen ist es geglückt, mit der vollständigen Edition der Briefe, Postkarten und Tagebucheinträge Annette Schückings aus der Zeit ihres Soldatenheim-Einsatzes einen bedeutsamen Grundstock für die weitere Erforschung des Zweiten Weltkriegs zu legen. Annette Schücking, die nach dem Krieg Mitbegründerin des Deutschen Juristinnenbundes und später Mitinitiatorin des ersten Frauenhauses in Deutschland wurde, hatte sich nach ihrem Jurastudium und dem ersten juristischen Staatsexamen einundzwanzigjährig zum Einsatz beim Deutschen Roten Kreuz gemeldet, zunächst um die Wartezeit auf einen Referendariatsplatz zu überbrücken, dann um einer eventuellen anderen Dienstverpflichtung zu entgehen. Statt als Lazarettpflegerin ließ sie sich letztlich als Soldatenheimschwester verpflichten und arbeitete von November 1941 bis August 1942 in der Ukraine, anschließend bis Januar 1943 im Kaukasus, bevor sie ins heimatliche Westfalen zurückkehrte. Während der gesamten Zeit ihrer Aufenthalte außerhalb Westfalens schrieb sie zahlreiche Briefe und Postkarten an ihre Familie, außerdem führte sie ein Tagebuch, häufig stichwortartig, als Erinnerungsstütze für später zu schreibende Briefe. In der Ukraine erfuhr sie schon bei ihrer Ankunft von Massakern der SS an der jüdischen Bevölkerung, auch von der nicht nur logistischen Unterstützung der Wehrmacht dazu. Sie bekam aus der Nähe mit, dass ein erheblicher Teil der russischen Kriegsgefangenen dem Hungertod überlassen wurde, und wurde Augenzeugin eines Massakers an jüdischen Frauen und Kindern. Selbst in einer nicht-NS-konformen Familie groß geworden – der Vater hatte nach 1933 seine Zulassung als Anwalt und später auch die Erlaubnis schriftstellerischer Veröffentlichungen verloren – , bewahrte sie sich einen klaren Blick auf die Geschehnisse. Zugleich bezeugt das vorliegende Quellenmaterial auch ihre Vorbehalte gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung und ihr Bemühen um Normalität im Krieg. Die umfangreichen Briefe und Postkarten vor allem an ihre Eltern, aber auch an Geschwister und weitere Verwandte, und die Tagebuchnotizen entstanden unter den Bedingungen der inneren und äußeren Zensur. Sie dokumentieren das gefährliche Wissen um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sind darüber hinaus geeignet, auch die Geschichte der Etappe, der Wirtschaft und Verwaltung der eroberten Gebiete sowie nicht zuletzt der Geschlechterverhältnisse im Zweiten Weltkrieg weiter und vertiefter zu erforschen. Sie transportieren nicht nur Schilderungen der täglichen Arbeit, der Landschaft und der Bevölkerung, der Begegnungen mit den Soldaten auf dem Weg zur Front und zurück, sondern darüber hinaus auch Einblicke in die Beschaffung von Gütern des täglichen Bedarfs, das Leseverhalten, die Anforderungen der Bürokratie und andere alltagsgeschichtliche Aspekte.

In einer präzisen Hinführung zum Quellenbestand wird der familiäre Hintergrund Annette Schückings beleuchtet, ohne den der Briefbestand in seiner Einzigartigkeit nicht angemessen zu verstehen ist, denn die Familie Schücking wies eine über 200jährige Geschichte der Briefkultur auf, in der Briefe zum wesentlichen Ausdruck nicht nur der eigenen und familiären Identität, sondern auch der Selbsthistorisierung geworden waren. Annette Schückings Briefe gehören in diesen familiären Kosmos, in dem Briefe nicht nur privat waren, sondern auch weitergegeben, kommentiert und damit Teil eines Beziehungsgeflechts zwischen an- und abwesenden Familienmitgliedern wurden. Dieser Einordnung folgt eine knappe, aber genaue Darstellung der Stationen Schückings während des Krieges und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ihrem Einsatzraum. Die Hinführung enthält zudem wichtige Hinweise zur persönlichen Motivation Schückings und zu ihrer Selbstpositionierung als Frau im Gefolge der Wehrmacht und weist damit Wege auf, den Quellenbestand für Forschungsdesiderate zu erschließen.

Die eigentliche Quellenedition umfasst zwei Teile: die Briefe Annette Schückings an Eltern, Geschwister und Verwandte sowie ihre Tagebucheinträge und im Anschluss die Briefe vor allem der Eltern, aber auch der Geschwister und anderer Verwandter an Annette Schücking. Die Teile sind wegen der teils langen Postwege und daher nicht notwendig unmittelbaren Bezugnahme aufeinander getrennt und jeweils in sich chronologisch geordnet. Bezugnahmen aufeinander werden aber ebenso wie andere Querverweise auf bereits Geschildertes im sorgfältig erarbeiteten Anmerkungsapparat kenntlich gemacht. Dieser umfangreiche Anmerkungsapparat klärt zudem kriegsgeschichtliche, verwaltungsrechtliche, personengeschichtliche und kulturelle Aspekte der Quellen und enthält auch erhellende Hinweise durch Annette Schücking selbst auf Zusammenhänge und Hintergründe. Da nicht nur die Briefe Annette Schückings, sondern auch die an sie gerichteten Briefe ediert wurden, lässt sich mit diesem Band nicht nur die Geschichte des Einsatzes in der Etappe nachvollziehen, sondern auch die Kriegserfahrungen der daheimgebliebenen Eltern Annette Schückings, die den landwirtschaftlichen Betrieb führten, Kontakt mit den Angehörigen – vor allem den Kindern – pflegten, durch Nachrichten von Ost- und Westfront einen anderen Blick auf den Kriegsverlauf und zudem Kontakt zu polnischen und französischen Kriegsgefangenen hatten.

Die transkribierten Quellen werden durch zahlreiche Fotografien, einige Abbildungen von Telegrammen und Postkarten sowie Skizzen des Soldatenheims im Zwiahel ergänzt.

Die Quellenedition wird vervollständigt durch einen Epilog Annette Schückings, die an der Erschließung der Quellen beteiligt war, in dem sie das Erlebte einordnet und sich auch zu Teilen der Briefe äußert, aus denen ihre damaligen Vorbehalte gegenüber der ukrainischen Bevölkerung hervorgehen. Ohne zu entschuldigen, stellt sie in diesem Epilog auch klar, was sie wann vom Völkermord in der Ukraine wusste und was davon sie in zurückhaltender Form brieflich geäußert hatte. Gerade mit dieser Einordnung bietet der Band die Chance, die Auswirkungen der inneren und der äußeren Zensur nachzuvollziehen. Den Abschluss bildet vor der tabellarischen Darstellung der Reiserouten sowie dem umfangreichen Orts- und Personenregister die schriftliche Aussage Annette Schückings von 1976 gegenüber der Kriminalpolizei Detmold bezüglich ihrer Zeuginnenschaft an den Massakern in der Ukraine 1941 und 1942.

Im Verhältnis zur sorgfältigen Erarbeitung des ausgesprochen umfangreichen Materials wenig ins Gewicht fallend, jedoch schade, ist der Umstand, dass verschiedentlich die Unterscheidung zwischen runden Klammern für eingeklammerten Originaltext und eckigen Klammern für editorische Ergänzungen und unleserliche Passage nicht durchgehalten wird. Abgesehen von dieser im Vergleich zur Gesamtleistung entschuldbaren Schwäche stellt der Band eine wertvolle und hochzuschätzende Herausgeberinnenleistung dar, anhand derer deutlich wird, wie viele Aspekte des Zweiten Weltkrieges noch weitgehend unerforscht sind.

Zur Rezensentin:
Dr. Annette Jantzen, geb. 1978, seit 2013 Referentin für Kirchenpolitik und Jugendpastoral an der BDKJ-Bundstelle in Düsseldorf.

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